[...]
Hier, gerade in dieser einsamen Hütte, während dieser
einsamen Abende, stand der in Gott entschlafene Starez Isidor
so deutlich in meiner Erinnerung vor mir. Er, der Hochbegnadete
und durch Gnade Vornehm-Schöne wurde mir im Leben das stärkste,
wahrste und reinste Vorbild einer geistigen Persönlichkeit.
Alles, was mir vorher nur ab und zu in Träumereien vorgeleuchtet
hatte, stand jetzt sichtbar und fühlbar vor meiner Seele.
Die geistige Welt erschien mir wirklicher und realer als die
körperliche. Von nun an wurde jedes meiner Erlebnisse, jeder
neue Eindruck durch diese Wahrnehmung vervollständigt. Da
wollte ich alle meine Gedanken und Gefühle, welche die Gestalt
des Starez Isidor umschwebten, durchdenken, ich wollte mir der
Schönheit des geistigen Lebens bewußt werden!
Die geisterfüllte Persönlichkeit ist schön - und
zwar ist sie zwiefach schön. Sie ist objektiv
schön, als Gegenstand der Anschauung für die Umgebung;
sie ist auch subjektiv schön, als Mittelpunkt einer
neuen, geläuterten Anschauung der Umgebung. In dem Heiligen
ist uns für unsere Anschauung die schöne ersterschaffene
Kreatur offenbart; für die Anschauung des Heiligen entblößt
die ersterschaffene Kreatur sich ihrer Verweslichkeit: die Kirchlichkeit
ist die Schönheit des neuen Lebens in der Unbedingten Schönheit
- im Heiligen Geist. Das ist - eine Tatsache. Aber diese doppelte
Tatsache muß zum Nachdenken führen und die Frage aufdrängen:
Wie ist dieses heilige, dieses schöne Moment der Kreatur
zu verstehen? Was ist seine objektive Natur? Was ist es metaphysisch?
Bevor man aber an die Beantwortung der gestellten Frage geht,
ist es nützlich, einen Vorbehalt zu machen.
Das eine und ganze Objekt der religiösen Wahrnehmung zerfällt
in der Sphäre des Verstandes in eine Vielheit von Aspekten,
in einzelne Facetten, in Splitter des Heiligtums, und in diesen
ist keine Gnade: der kostbare Alabaster ist zerschlagen und das
heilige Salböl wird vom trockenen Sand der glühenden
Wüste gierig aufgesogen. Das wurde schon früher bei
den verstandesmäßigen Antinomien des Dogmas
gezeigt; jetzt wird die Rede sein von solchen Splittern, die
nicht in offenkundiger Antinomie zueinander stehen, weil
sie nicht einander Entgegengesetztes, sondern einfach
Verschiedenes darstellen. Jede von diesen logischen Facetten
des unmittelbaren Erlebens ist - verstandesmäßig -
von den übrigen sehr verschieden und mit ihnen - logisch
- gar nicht verbunden, weil nur die Totalität der Erfahrung
jeder Facette ihren Platz anweist: die Verbindung der einzelnen
Aspekte ist synthetisch, aber nicht analytisch, und sie wird
nur a posteriori, in Gestalt der Offenbarung gegeben, d.h. als
Tatsache der geistigen Erfahrung. Aber letztere erscheint im
Erleben nicht nur als Tatsache, nicht nur als Intuition,
sondern auch als Diskursion, weil ihr Sein als schöpferischer
Akt der Dreieinigen Wahrheit selbst wahrgenommen wird. Die faktisch
gegebene Synthese der einzelnen Seiten des Glaubensobjektes findet
ihre Rechtfertigung - die Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit
- in dem ewig seienden Lichte der Heiligen Dreifaltigkeit. Aber
nicht nur eine solche Rechtfertigung der Synthese, sondern
auch die Synthese selbst unterliegt keiner verstandesmäßigen
Ableitung. Man kann das an einem Beispiel erläutern. Kann
denn jemand, der die geometrischen Körper gar nicht kennt,
sich eine konkrete Vorstellung von einem Körper bilden,
wenn er sich nur an Flächen-Figuren hält - an Punkte,
Linien und Flächenteile, welche von diesen oder jenen Konturen
begrenzt sind ("flache Fetzen")? Können wir uns
denn das Gebilde des vierdimensionalen Raumes vorstellen nach
dessen drei Dimensionen im dreidimensionalen Raum? Können
wir uns denn vorstellen, wenn wir nur zwei Farben getrennt kennen,
was ihre Mischung ergeben wird? So ist es auch hier - in der
Sphäre des Glaubens. Das eben bringt mich in große
Verwirrung. In der Tat: wenn man kein vollständiges
System von Begriffen aufbaut, wenn man kein abgeschlossenes
Schema für die Erlebnisse entwickelt - und ich befinde mich
eben in dieser Lage -, so ist es fast unmöglich zu entscheiden,
was man sagen und was man weglassen soll - wovon man zuerst und
wovon man nachher sprechen soll. Diese oder jene Begriffsordnung
ist eben doch keine wahrhaft logische, sondern immer nur
eine bedingte, mehr oder weniger bequeme. Die einzelnen Begriffe
werden mechanisch aneinander gefügt: wenn das religiöse
Objekt in die Sphäre des Verstandes eintritt, so entspricht
der Sache am meisten das Bindewort "und". Denn man
kann nicht sagen, was in dem ewigen Sein des Erlebbaren zuerst
und was nachher gegeben wird: dort ist alles eins; psychologisch
aber tritt das eine früher, das andere später hervor
in Abhängigkeit von vielen persönlichen Bedingungen.
Es ist mir schwer, für einen anderen zu entscheiden, welche
Reihenfolge er leichter übersehen kann. Ich schreibe und
bin mir doch dessen bewußt, daß ich mich zersplittere,
weil ich nicht alles, was sich im Bewußtsein drängt,
auf einmal sagen kann.
Bisher habe ich versucht, an einigen konkreten Beispielen das
Hauptthema meines letzten Briefes festzustellen, daß nämlich
die ewigen Wurzeln der ganzen Kreatur, durch die sie in Gott
festgehalten wird, von den Heiligen wahrgenommen werden. Aber
die Wahrnehmung des Ewigen als solchen ist seitens der Erkenntnis
ein Sehen des Dinges in seiner inneren Notwendigkeit - ein Sehen
des Dinges in seinem Sinn, in der Vernunft seines Daseins. Indem
der heilige Asket den unbedingten Wert der Geschöpfe betrachtet,
sieht er die Vernunft ihres objektiven Seins, ihren Logos. Da
aber die sekundäre Vernunft nur insofern aktuell seiend
gedacht wird, als sie in der absoluten Vernunft wurzelt, sich
von dem Lichte der Wahrheit nährt, so ist die Vernunft des
Dinges vom Standpunkt der Kreatur jener Akt, durch welchen sich
die Kreatur von ihrer Selbstheit lostrennt, aus sich heraustritt,
und durch welchen sie als sich selbst erschöpfende in Gott
ihre Befestigung findet; anders gesagt, die Vernunft des Dinges
ist vom Standpunkt der Kreatur die Liebe zu Gott und das aus
ihr hervorgehende Schauen Gottes, eine besondere Idee von Ihm
- eine bedingte Vorstellung vom Unbedingten. Vom Standpunkt
des Göttlichen Seins ist die Vernunft der Kreatur eine unbedingte
Vorstellung vom Bedingten, die Idee Gottes von einem besonderen
Ding - jener Akt, durch welchen es Gott in der unaussprechlichen
Selbst-Erniedrigung seiner Unendlichkeit und Absolutheit wohlgefällt,
neben dem Göttlichen Inhalt seines Göttlichen Denkens
an das Endliche und Begrenzte zu denken, durch welchen Er in
die Fülle des innersten Seins der Dreifaltigkeit das magere
Halbsein der Kreatur einführt und ihr ein eigenes Sein und
die Selbst-Bestimmung schenkt, d.h. die Kreatur gleichsam auf
die gleiche Höhe mit sich Selbst stellt; vom Standpunkt
Gottes ist die Vernunft der Kreatur die sich selbst herabsetzende
Liebe Gottes zur Kreatur. Indem diese Liebe-Idee-Monade, dieses
vierte hypostatische Element durch einen unbeschreiblichen
Akt (- in dem die unaussprechliche Demut der Göttlichen
Liebe und die unbegreifliche Kühnheit der kreatürlichen
Liebe sich miteinander berühren und einander fördern
-) in das Leben der Göttlichen Trinität eintritt, welche
höher steht als die Ordnung (- denn die Zahl 3 hat keine
Ordnung -) ruft sie in bezug auf sich selbst einen Unterschied
nach der Ordnung - kata taxin - der Hypostasen der Heiligen Trinität
hervor, welcher diese Beziehung ihrer selbst zu ihrer eigenen
Kreatur und ihre daraus hervorgehende Bestimmung durch die Kreatur
wohlgefällt, und welche sich dadurch selbst der absoluten
Attribute "beraubt" oder ihrer "verlustig geht".
Obwohl Er allmächtig bleibt, verhält sich Gott zu Seiner
Schöpfung, als wäre Er nicht allmächtig: Er zwingt
die Kreatur nicht, sondern überzeugt; nötigt
sie nicht, sondern bittet. Während sie in sich "eins"
bleiben, machen sich die Hypostasen zum "anderen" in
bezug auf die Kreatur. Letzteres offenbart sich in dem Charakter
der providentiellen Tätigkeit, sowohl in jedem besonderen
Leben als auch - vor allem - in den drei aufeinander folgenden
Bünden mit der gesamten Welt. Anders gesagt: wenn sich diese
drei Bünde vorbildlich und vorläufig in dem persönlichen
Leben der Monade offenbaren - ontogenetisch -, so wiederholen
sie sich vollständig in der Geschichte der gesamten
Kreatur - phylogenetisch.
Doch verzeih mir, mein Freund, alle diese groben und verhaßten
Pinzetten und Skalpells, mit deren Hilfe man die feinsten Fasern
der Seele präparieren muß. Denke nur ja nicht, daß
meine kalten Worte - metaphysische Spekulation, "Gnostik"
sind. Sie sind nur dürftige Schemata für das, was in
der Seele erlebt wird. Jene Monade, von der ich rede, ist keine
metaphysische Wesenheit, welche in einer logischen Bestimmung
gegeben ist, sondern wird in der lebendigen Erfahrung erlebt;
sie ist - eine religiöse Gegebenheit, die nicht a priori,
sondern a posteriori bestimmt wird -, nicht durch den Hochmut
der Konstruktion, sondern durch die Demut des Empfangens. Wohl
bin ich gezwungen, mich der metaphysischen Terminologie zu bedienen,
aber diese Termini haben in meiner Rede keinen streng
technischen Sinn, sondern einen konventionellen oder vielmehr
einen symbolischen, etwa die Bedeutung von Farben, durch welche
das innerlich Erlebte dargestellt wird. Ich sagte also "Monade",
d.h. eine gewisse reale Einheit. Logisch und metaphysisch würde
sie als solche den übrigen Monaden entgegengesetzt werden,
schlösse sie aus der Sphäre ihres Ich aus, oder aber
sie würde, indem sie ihre Eigenheit verlöre, von den
übrigen Monaden erfaßt und flösse mit ihnen in
eine ununterscheidbare, elementare Einheit zusammen. Aber in
jenen geistigen Zuständen, von denen hier die Rede ist,
verliert nichts seine Individualität; alles wird als innerlich,
organisch miteinander verbunden, als durch die freie Tat der
Selbstverleugnung zusammengeschweißt, als innerlich einheitlich,
innerlich ganz wahrgenommen - kurz: als vieleiniges Wesen.
Alles ist wesenseins und alles hypostatisch verschieden. Nicht
eine einfach gegebene, elementare, faktische Einheit fügt
es zusammen, sondern eine durch einen ewigen Akt verwirklichte
Einheit, ein bewegliches Gleichgewicht der Hypostasen, gleichwie
bei dem fortwährenden Austausch der Energie durch die strahlenden
Körper sich zwischen ihnen ein bewegliches Gleichgewicht
der Energie einstellt - eine ruhende Bewegung und eine
bewegliche Ruhe. Die Liebe "erschöpft"
ewig jede Monade und "verherrlicht" sie ewig - führt
die Monade aus sich heraus und befestigt sie in sich und für
sich. Die Liebe nimmt ewig fort, um ewig zu geben; tötet
ewig, um ewig zu beleben. Die Einheit in der Liebe ist dasjenige,
was jede Monade aus dem Zustand der reinen Potentialität,
d.h. des geistigen Schlafes, der geistigen Leere und des gestaltlosen
Chaos herausführt, und was somit der Monade die Wirklichkeit,
die Aktualität, das Leben und das Wachen gibt. Das rein
subjektive, abgesonderte und blinde Ich der Monade erschöpft
sich für das Du der anderen Monade, und durch dieses Du
wird das Ich rein objektiv, d.h. bewiesen. Indem es, wie es sich
selbst durch die zweite beweist, von der dritten Monade wahrgenommen
wird, findet sich das Ich der ersten Monade im Er der dritten
als bewiesen, d.h. es vollendet den Prozeß des Sich-selbst-beweisens
und wird "für sich", wobei es zugleich sein "An-sich"
erhält; denn das also bewiesene Ich ist das vom "An-sich"
gegenständlich wahrgenommene "Für das andere".
Aus der nackten und leeren Selbst-Identität - "Ich!"
- wird die Monade zu einem inhaltserfüllten Akt, welcher
das Ich mit dem Ich synthetisch verbindet (Ich = Ich), d.h. zum
Organ des einen Wesens.
Die Liebe Gottes, die dieses Wesen durchströmt - das ist
der schöpferische Akt, durch den es erstens das Leben,
zweitens die Einheit und drittens das Sein erhält;
die Einheit - nicht als Faktum, sondern als Akt - ist ein mystisches
Produkt des Lebens, aber das Sein - ein Produkt der Einheit:
das wahre Sein ist die substantielle Beziehung zum anderen und
die Bewegung in sich - sowohl Einheit gebend als auch aus der
Einheit des Seins hervorgehend. Aber jede Monade existiert nur,
sofern sie die Göttliche Liebe zu sich heranläßt,
"denn durch Ihn (Gott) leben, weben und sind wir"
(Apg. 17, 28). Dieses "Große Wesen" ist nicht
jenes, zu dem A. Comte gebetet hat, sondern ein wahrhaft großes
- es ist die verwirklichte Göttliche Weisheit, Chochma (hebr.),
Sophia oder die Allweisheit.
Das Wort
Sojia bedeutet, obwohl es
als Weisheit oder Allweisheit übersetzt wird,
jedoch keineswegs eine bloße passive Wahrnehmung des Seienden
und auch nicht unsere Vernunft. unser Wissen oder
unsere Wissenschaft usw. In diesem Worte befindet sich ein ganz
bestimmter Hinweis auf das schöpferische, das künstlerische
Schaffen, auf die Baumeisterschaft (vgl. W. Prellwitz, Etymologisches
Wörterbuch der Griechischen Sprache, Göttingen 1892,
S. 294 f.). Bei der Übersetzung des Namens Sojia in die Sprache der Gegenwart, wäre
es deshalb notwendig zu sagen: die Baumeisterin, Meisterin,
Künstlerin usw. Das Ethimon der Wörter Sojia, SojoV wie auch des diesem Worte gleichkommenden sanskritischen
dhrobhas läßt sich erklären aus einer
alten Form, nämlich t¶ojoV welche von der Wurzel dhvobo stammt; dhoob
bedeutet "passend machen" ("anpassen")
und deshalb werden ursprünglich sojoV- t¶ojoV = faber, Meister
(Prellwitz, ebenda), Sojia bei Homer (vgl. Homer, Ilias, XV 410-413) und
Hesiod wie auch andere Wörter von derselben Wurzel werden
im Sinne eines technischen Wissens gebraucht, d.h. einer Fähigkeit,
eine gewisse Idee in die Wirklichkeit umzusetzen.
Das hebräische Kochma oder Kockma stammt von
einem Wurzelwort, das in allen semitischen Sprachen dieselbe
Bedeutung: "vernünftig", "weise sein",
ursprünglich "vernunftstark sein" hat; daher Chakam
der Weise.
Sophia ist die große Wurzel des ungeteilten Ganzen der
Kreatur - vgl. pasa
h ktisiV
(Röm. 8, 22), d.h. die ungeteilt ganze Kreatur, nicht
nur alle -, durch welche die Kreatur sich in das inner-dreifaltige
Leben versenkt, und durch welche sie das Ewige Leben von dem
Einen Urquell des Lebens für sich erhält; Sophia ist
das ersterschaffene Wesen der Kreatur, die schöpferische
Göttliche Liebe, welche "ist ausgegossen in unser Herz
durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm.
5, 5); daher erscheint als das wahre Ich des Vergotteten, als
sein "Herz" eben die Göttliche Liebe, so wie auch
das Wesen der Gottheit die inner-trinitarische Liebe ist. Denn
alles existiert in Wahrheit nur insofern, als es der Gottheit-Liebe,
des Urquells des Seins und der Wahrheit teilhaftig wird. Wenn
die Kreatur von ihrer Wurzel losgerissen wird, dann erwartet
sie der unvermeidliche Tod: "Wer mich findet" - so
spricht die Allweisheit selbst - "der findet das Leben
und wird Wohlgefallen von dem Herrn bekommen; wer aber an mir
sündiget, der verletzt seine Seele: alle, die mich hassen,
lieben den Tod" (Spr. Sal. 8, 35, 36).
Mit Rücksicht auf die Kreatur ist die Sophia der Schutzengel
der Kreatur, die ideale Persönlichkeit der Welt. Während
sie in bezug auf die Kreatur die gestaltende Vernunft ist, ist
sie der gestaltete Inhalt der Göttlichen Vernunft, ihr "psychischer
Inhalt", der vom Vater ewig durch den Sohn geschaffen und
im Heiligen Geiste vollendet wird: Gott denkt in Dingen.
Existieren bedeutet daher gedacht werden, im Gedächtnis
sein oder endlich von Gott erkannt werden. Wen Gott "kennt",
der besitzt Realität, wen Er aber nicht kennt, der existiert
nicht in der geistigen Welt, in der Welt der wahren Realität,
und dessen Existenz ist scheinbar. Solche Personen sind leer,
und in der Beleuchtung des Dreistrahlenden Lichtes wird offenbar,
daß sie überhaupt nicht dasind, und daß
sie nur existierend schienen: um zu sein - muß man
von Gott erkannt werden (vgl. Joh. 10, 14; Matth. 7, 23, 25,
31). Der in der Ewigkeit Seiende "erkennt" auch in
der Ewigkeit; aber das, was er in der Ewigkeit "erkennt",
erscheint in der Zeit in einem bestimmten Augenblick. Gott,
der über-zeitliche, für den die Zeit in allen
ihren Momenten als einiges "Jetzt" gegeben ist,
erschafft die Welt nicht in der Zeit; aber für die Welt,
für die Kreatur, welche in der Zeit lebt, wird die Weltschöpfung
notwendig auf bestimmte Zeiten und Fristen bezogen.
Es fragt sich: "Warum gerade auf diese Zeiten und
Fristen und nicht auf irgendwelche andere?" - Diese
Frage beruht, wie ich glaube, auf einem Mißverständnis,
nämlich auf einer Verwechslung der kosmischen Zeit mit der
Zeit in der Abstraktion. Die kosmische Zeit ist ein Folgen, und
als Folge verleiht sie allem demjenigen, was Folge besitzt,
die Aufeinanderfolge. Anders gesagt: sie ist eine innere Organisiertheit,
deren jedes Glied sich unverrückbar dort befindet, wo es
sich befindet. Die Folge alles anderen, welche sich - mathematisch
ausgedrückt - durch dessen "Übereinstimmung"
mit dieser fundamentalen, folgeartigen "taxogenen"
Reihe vollzieht, muß ebenfalls organisiert sein. Die Übereinstimmung
der Momente der Zeit und der Erscheinungen erfolgt kraft der
inneren Verwandtschaft jedes gegebenen Zeitmomentes und
jeder gegebenen Erscheinung; im Wesen des gegebenen Momentes
ist auch das beschlossen, daß er durch Übereinstimmung
mit bestimmten Erscheinungen verbunden wird. Wenn sich aber einmal
eine solche Übereinstimmung eingestellt hat, dann ist die
Frage: "Warum ist die Erscheinung dann entstanden
und nicht dann?" gerade so ungereimt wie die Frage:
"Warum folgt das Jahr 1912 dem Jahre 1911 und nicht dem
Jahre 1915?"
Aber ganz anders verhält es sich mit der Zeit in der Abstraktion
des Verstandes. Der Verstand trennt nämlich den äußeren
Aspekt der Zeit von ihrer anatomischen Zusammensetzung im Innern
ah; der Verstand nimmt die Form der Folge, aber entfernt daraus
den Inhalt der Folge; es ergibt sich ein leeres und indifferentes
Schema des Folgens; in welchem in der Tat jedes Paar von Momenten
umgestellt werden kann, und das Ergebnis kraft der Unpersönlichkeit
dieser Momente dennoch absolut in nichts von dem verschieden
ist, woraus es gewonnen wurde. Wenn man diesen seinem Wesen nach
sinnlosen Begriff für die Zeit ausgibt, dann muß natürlich
die ungereimte Frage entstehen: "Weshalb hat denn Gott die
Welt gerade vor so und so viel Jahrtausenden erschaffen
und nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt?" - ein Irrtum,
dem unter vielen anderen der berühmte Origenes verfiel.
Gott erschuf die Welt - für uns - dann, als es der Welt
ziemte, erschaffen zu werden - das ist die Antwort auf alle derartigen
Fragen.
[...]
Doch wir wollen zum Problem der Sophia zurückkehren.
Als ewige Braut des Göttlichen Wortes hat sie außerhalb
Seiner und unabhängig von Ihm kein Sein und zerfällt
in die Vielheit der Ideen von der Kreatur; in Ihm aber
erhält sie die schöpferische Kraft. In Gott alleinig,
ist sie vielfältig in der Kreatur und wird hier in ihren
konkreten Erscheinungen wahrgenommen als ideale Persönlichkeit
des Menschen, als sein Schutzengel, d.h. als Lichtstrahl
der ewigen Würde der Persönlichkeit und als Göttliches
Bild im Menschen. Es ist hier nicht möglich, von diesem
Göttlichen "Fünklein" zu sprechen, weil dazu
eine Übersicht fast aller mystischen Lehren erforderlich
wäre. Ich erwähne nur, wie dieser göttliche Abglanz
in den Sendschreiben der Apostel bisweilen bezeichnet wird. Es
ist dies für den einzelnen Menschen - seine "Behausung
im Himmel", "ein Haus, nicht mit Händen gemacht,
das ewig ist" (2. Kor. 5, 1), eine "Behausung, die
vom Himmel ist" (2. Kor. 5, 2), in die der Mensch einziehen
wird, wenn sein "irdisches Haus" zerstört wird.
Letzteres wird notwendig zerstört werden, nicht weil es
auf Erden ist, aber weil es irdisch, d.h. in seinem Wesen verweslich
ist. Und obwohl jenes Haus jetzt im Himmel ist (2. Kor. 5, 1),
so ist doch nicht dies für dasselbe wesentlich, sondern
wesentlich ist, daß es eine "Behausung vom Himmel"
ist, d.h. wichtig ist ihre Natur, nicht ihr gegebener Aufenthaltsort.
Das irdische Haus und das himmlische Haus sind ihrem Wesen, nicht
ihrer Lage nach entgegengesetzt. In der Hölle ist die reine
Fleischlichkeit, obwohl sie auch nicht auf Erden sein kann (-
die Erde des Herrn wird die Hölle auf sich nicht dulden
-); im Paradiese ist die reine Geistigkeit, obwohl der Heilige
auch im Lehen sich ihm annähern kann. Die ideale Gestalt
wird sich in der erleuchteten Kreatur, in dem verklärten
Menschen offenbaren. Die irdische "Hütte", d.h.
der vergängliche empirische Charakter, wird auch bei dem
Apostel Petrus erwähnt (1. Petr. 1, 13-14), während
der dieser Hütte entgegengesetzte ideale Charakter als "ein
unvergängliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbe,
das behalten wird im Himmel", bezeichnet wird (1.
Petr. 1, 4). Das sind die "ewigen Hütten"
(Luk. 16, 9) oder die Typen des geistigen Wachstums, von
denen der Herr Jesus in dem Gleichnis vom ungerechten Haushalter
spricht.
Die Gesamtheit dieser "vielen Hütten" - dieser
idealen Hütten des Seienden - setzt das wahre "Haus
Gottes" zusammen (Hebr. 3, 6), in welchem der Mensch als
"Haushalter" erscheint (1. Kor. 4, 1-2; Tit. 1, 7)
und dabei oft als ein unredlicher, der das Haus des Vaters in
ein "Kaufhaus" verwandelt (Job. 2, 15). "In meines
Vaters Hause sind viele Wohnungen" (Joh. 14, 2) -
sagt Jesus Christus; die einzelnen Wohnungen bilden gleich
den Waben das Haus Gottes, den Heiligen Tempel des Herrn oder,
in der erweiterten Darstellung desselben Bildes - die Große
Stadt, das Himmlische Jerusalem, das Neue und Heilige Jerusalem
(Offenb. 21, 2, 10; Hebr. 12, 22 u. a.). Der Heilige Geist lebt
in dieser Stadt, erleuchtet sie (Offenb. 22, 5), und daher
sind die Geistträger und die der Göttlichen Geheimnisse
Kundigen im Besitze der Schlüssel der Stadt (Matth. 16,
17-19; Offenb. 3, 7-9; Matth. 18, 18 u. a.). Der Fall der Kreatur
bestand - im ontologischen Plan - in dem Heraustreten aus der
Himmlischen Behausung, in der Nichtübereinstimmung der empirischen
Entfaltung des Ebenbildes Gottes mit dem himmlischen Bilde Gottes:
"das Gefallene verließ seine Behausung"
(Jud. 1, 6). Aber die verloren gegangene Übereinstimmung
wird nur im Heiligen Geiste wieder erreicht. Daher ist diese
Stadt Gottes oder dieses Reich Gottes nur in dem ursprünglichen
Reiche Gottes enthalten - in dem Heiligen Geiste, gleichwie diese
Allweisheit nur in der ursprünglichen Göttlichen Allweisheit,
und diese Mutterschaft nur in der ursprünglichen
Vaterschaft - im Vater enthalten ist. Die von der Dreifaltigen
Liebe dnrcbtränkte Sophia fließt religiös
- nicht verstandesmäßig - beinahe mit dem Wort und
dem Geist und dem Vater zusammen, sowie auch mit der Allweisheit
und dem Reiche und der Vaterschaft Gottes; aber verstandesmäßig
ist sie etwas ganz anderes als jede dieser Hypostasen.
Über
Sophia schrieben viele Mystiker. In bezug auf sie äußert
sich Wladimir Solowjew mit großem Selbstbewußtsein
und mit einer gewissen Strenge, doch nicht ohne Recht: "Bei
den Mystikern sind viele Bestätigungen meiner eigenen Ideen
zu finden, jedoch kein neues Licht, außerdem haben sie
fast alle einen außerordentlich subjektiven, man könnte
sagen, einen speichelhaften Charakter. Ich fand drei Spezialisten
in bezug auf Sophia: Georg Gichtel, Gottfried Arnold und John
Pordage. Alle drei hatten eine persönliche Erfahrung, fast
dieselbe wie ich, und das ist das Interessanteste; jedoch, sind
alle drei in der eigentlichen Theosophie ziemlich schwach; sie
folgen Jakob Böhme, sind jedoch nicht so hoch wie er. Ich
meine, daß Sophia sich viel mehr wegen der Unschuld derselben
wie wegen etwas anderem mit ihnen beschäftigt hat. In summa
zeigen sich nur Paracelsus, Böhme und Svedenborg als wahre
Männer, deshalb bleibt mir ein sehr breites Feld. Ich machte
eine leichte Bekanntschaft mit den polnischen Philosophen - ihr
Grundton und ihr Streben sind sehr sympatisch, jedoch haben sie
keinen positiven Inhalt - sie bilden ein Paar mit unseren Slawophilen."
(Wladimir Solowjew, Brief an Sofja Andrejewna Tolstaja, vom 27.
April 1877)
Deshalb erlaube ich mir (damit auch die Grenze der kirchlichen
Ideen bewahrt bleibe), mit einer Analyse jener mystischen Werke
zu warten, bis meine andere Arbeit von mehr speziellen Charakter
erschienen sein wird.
[...]
Die Idee der vor der Welt bestehenden Sophia-Allweisheit, des
Himmlischen Jerusalems, der Kirche in ihrem himmlischen Aspekt
oder des Reiches Gottes als der idealen Persönlichkeit der
Kreatur oder ihres Schutzengels - oder auch noch als des hypostatischen
Systems der weltschöpferischen Gedanken Gottes und des wahren
Poles und unvergänglichen Momentes des kreatürlichen
Seins - diese Idee ist im Überfluß über die ganze
Heilige Schrift und die Werke der Kirchenväter verstreut.
Ich werde alle diese Zeugnisse nicht anführen und zwar aus
zwei Gründen. Erstens wird ein Teil der selben in meiner
speziellen Arbeit über die Kirche behandelt; zweites bleibt
das übrige Material einer speziellen Forschung über
Sophia vorbehalten. Deshalb werde ich mich in diesem Werk von
mehr allgemeinem Charakter nur mit einigen Beispielen begnügen.
So sagt z.B. Jesus Christus in dem Gleichnis des Jüngsten
Gerichtes: "Dann wird der König zu denen auf seiner
Rechten sagen: ,Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmet
in Besitz das Reich, das euch bereitet ist seit Erschaffung
der Welt" (Matth. 25, 34). Das ist ein Beispiel, doch
es wäre möglich, auch andere Worte aus dem Evangelium
anzuführen, worin das Gottesreich offenkundig die Bedeutung
einer präexistierenden (vor dieser Welt bestehenden), jenseitigen
Realität hat. Ein klares Beispiel kann auch jene Offenbarung
des Johannes des Theologen geben, worin er "die heilige
Stadt Jerusalem herniedersteigend aus dem Himmel, von Gott,
vorbereitet wie die Braut, die geschmückt ist für
ihren Mann" (Offenb. 21, 2) sah und die folgende Beschreibung
"der Frau, der Braut des Lammes" - "der großen
Stadt, des heiligen Jerusalem, herniedersteigend aus dem Himmel
von Gott" (Offenb. 21, 3, 10) und weiter (21, 11) die Worte,
welche ähnlich, jedoch nicht identisch sind mit den Worten:
"dann (d.h. zur letzten Zeit) wird die Braut erscheinen
und in dieser Erscheinung wird sie, die durch die Erde verhüllt
war, offenbar" (3. Esdra 7, 26). Wir werden diese Beweise
hier nicht vermehren! Es ist schon genug, zu erwähnen, daß
eine besondere Richtung der biblischen Theologie besteht, nach
welcher das Gottesreich die ausschließliche Bedeutung eines
transzendenten, vorweltlichen Reiches hat, welches an
dem Jüngsten Tag katastrophal auf die Erde niedersteigen
wird. Es ist auch kaum nötig, zu sagen, daß in der
althebräischen Apokalyptik gerade solch eine Idee vorherrschte.
Als Nachklang desselben Gedankens klingen die folgenden Worte
in den eucharistischen Gebeten der "Lehre der zwölf
Apostel": "Gedenke, 0 Herr, deiner Kirche, befreie
sie von jedem Übel und vollende sie in deiner Liebe, und
sammle sie aus den vier Winden in dein Reich, welches Du ihr
vorbereitet hast, weil Dein ist die Macht und die Herrlichkeit
in Ewigkeiten! Es wird die Gnade kommen, und diese Welt wird
vergehen!"
In dem sog. "zweiten Sendbrief des hl. Klemens von Rom an
die Korinther", in Wirklichkeit die Belehrung eines unbekannten
Predigers (wahrscheinlich eines Charismatikers), nämlich
einer in Korinth vor der Mitte des II. Jahrhunderts geschriebenen
Predigt, klingt die Idee von der Präexistenz der Kirche
mächtig und vielseitig: "Also, o Brüder",
so belehrt der unbekannte Verfasser, "durch die Erfüllung
des Willens unsres Gottes werden wir zur ersten Kirche gehören,
zur geistigen Kirche, welche bestand, ehe die Sonne und der Mond
geschaffen wurden..."
[...]
Auch in dem schon erwähnten "Hirten" des Hermas
ist die Kirche in ihren zwei Aspekten dargestellt, nämlich
als ein vorweltliches Wesen und als eine Gesamtheit, die man
innerhalb der Welt aufbaut.
In ihrem ersten, vorweltlichen Aspekt sah Hermas sie in der Gestalt
einer Frau, in ein glänzendes Gewand gekleidet; zuerst erschien
diese Frau alt, später jünger und schließlich
- ganz jung: "Sie erschien mir, Brüder", berichtet
Hermas, "in der ersten Vision uralt und auf dem Throne sitzend.
In der zweiten Vision hatte sie ein junges Angesicht, der Leib
aber und die Haare waren greisenhaft alt, und sie redete stehend
mit mir sie war jedoch heiterer wie vorher. In der dritten Vision
war sie viel jünger und hatte ein schönes Angesicht,
nur die Haare waren bei ihr greisenhaft, sie war vollkommen heiter
und saß auf einer kleinen Bank."
Hier aber ist ein hochinteressanter Satz, worin wörtlich
und buchstäblich alles bestätigt wird, was sich durch
die ganze Schrift (von Hermas) fühlen läßt, nämlich
die Idee der Präexistenz der Kirche: "Während
meines Schlafes", berichtet Hermas, "erschien mir ein
schöner Jüngling, der sagte: ,Wer, meinst du, daß
jene Greisin sei, von welcher du das Buch erhieltest (in der
zweiten Vision)?' Ich antwortete: ,Sybilla.' - ,Du irrst dich',
sagte er, ,sie ist nicht Sybilla!' - ,Wer ist sie dann, Herr?'
Und er sagte: ,Sie ist die Kirche Gottes.' Ich fragte: ,Weshalb
ist sie so alt?' - ,Weil', antwortete er, ,sie vor Allem geschaffen
war, deswegen ist sie so alt; und die Welt ist für sie erschaffen.'"
In der ersten Vision wird von Gott gesagt wie folgt: "Derjenige,
der im Himmel wohnt, der Allesseiende, schuf und rief hervor
aus dem Nichtseienden wegen seiner heiligen Kirche."
Das ist der erste, himmlisch-äonologische Aspekt der Kirche.
In dem zweiten, historischen Aspekte sah Hermas die Kirche in
der Gestalt des Turmes, welcher von den Jünglingen (eine
Darstellung der urgeschaffenen Engel) auf die Gewässer der
Taufe gebaut und von den Frauen umgeben und gestützt wurde;
letztere stellten (in der symbolischen Vision) die Kardinaltugenden
des Christentums dar. Die Steine für den Bau der Kirche
stellten die Christen dar. Diese Steine, die die Bestandteile
des Gebäudes bildeten, waren so fest miteinander verschmolzen,
daß der ganze Turm wie aus einem einzigen, ungeteilten
Stein gehauen schien. [...] Dies ist aber die Zeugschaft der
Schrift (von Hermas) selbst: "Höre jetzt die Erklärung
des Turmes: ich will alles dir offenbaren", sagt die Kirche
in Gestalt der Greisin dem Hermas. "Also der Turm, welchen
du siehst, wie er gebaut wird, bin ich, die Kirche, welche sich
dir jetzt zeigt und schon vorher gezeigt hat."
In Werken, welche unstreitig orthodox sind und seinerzeit einen
Bestandteil des neutestamentlichen Kanons ausmachten, wird von
der Kirche in der hestimmtesten Weise als von dem der Welt im
Dasein vorausgehenden Aeon gesprochen. Gleichfalls ersehen wir
aus den Werken des hl. Athanasius des Großen, daß
man in Übereinstimmung mit der Orthodoxie von einer "Ur-Darstellung"
unser in Gott reden muß, d.h. wiederum von einer gewissen
Präexistenz. Das ist unzweifelhaft. Aber anderseits ist
ebenso unstreitig, daß die gnostische Aeonologie gleichwie
auch die von den Origenisten entwickelte Idee der Präexistenz
von der Orthodoxie verdammt wurde. Von hier aus ist begreiflich,
daß auch der Begriff selbst der "Präexistenz"'
welcher historisch in Begleitung Ärgernis erregender Vernünfteleien
erschien, anstößig wurde. Aber für uns bleibt
jener Gedanke in voller Kraft, daß, wenn er von Anfang
an orthodox war, er dem Wesen der Sache nach nicht aufhören
konnte, es zu bleiben, obwohl mit Rücksicht auf die
kirchliche Organisation es zur Vermeidung von Ärgernissen
klüger war, ihn in der Hitze des Kampfes zu vermeiden.
Aber auch jetzt erinnert uns die Kirche während des Gottesdienstes
an diese Idee. In der Tat, enthält denn nicht das rührende
Gebet: "Christe, Du wahres Licht, erleuchtend und heiligend
jeden Menschen, der in die Welt eintreten wird..."
(vgl. Joh. 19) - einen Hinweis auf jene, denen es bevorsteht,
in dieser Welt geboren zu werden, die in diese Welt "gehen",
aber, bevor sie noch hier angelangt sind, schon von dem gnadenreichen
Licht erleuchtet und geheiligt sind? Also ist die Idee der Präexistenz
auch gegenwärtig der Kirche nicht fremd.
Wodurch denn - so wollen wir uns fragen - unterscheidet sich
die orthodoxe Idee der Präexistenz von der gnostischen?
- Für die philosophischen Anschauungen des gesamten Altertums
sind "Vergangenheit" und "Vollkommenheit"
ebenso eng miteinander verbunden wie für die Anschauungen
der neuen Zeit - Vollkommenheit und "Zukunft".
Wenn gegenwärtig das Wort "Vorwärts!" bei
den meisten eine angenehme Erregung hervorruft, so war damals
das Wort "Zurück!" ein ebenso bedeutungsvolles
Wort. Daher hatte das Wort "Altertum" in der Sprache
des Zeitalters, in dem die Theorie des Regresses herrschte, eine
doppelte Bedeutung: erstens die des chronologischen Alters
und zweitens die der qualitativen Vortrefflichkeit, gleichwie
in der Sprache unsrer Zeit das "Zukünftige" (vgl.
die Ausdrücke: "die gesellschaftliche Ordnung der Zukunft",
"die Wissenschaft der Zukunft", "die Technik der
Zukunft" usw.) erstens die Bewegung des Lebens in
der Zeit, das Eintreten neuer Ereignisse und zweitens die Vervollkommnung
bedeutet. Wenn folglich im Altertum von der "Präexistenz"
der Kirche, der Seele usw. die Rede war, so konnte die logische
Betonung entweder auf der chronologischen Priorität
der Kirche vor der Welt bzw. der Seele vor dem wirklichen menschlichen
Leben stehen, oder - auf ihrem höheren Wert im Vergleich
zur Welt, zu diesem vergänglichen Lehen. Anders gesagt,
war die "Präexistenz" entweder das Zeichen
einer gewissen verstandesmäßigen Theorie, für
welche die Kirche, die Seele usw. nichts anderes als der Welt
vorhergehende, ebenfalls sinnliche Gegebenheiten waren,
oder das Symbol eines geistigen Erlebens, welches in der Kirche,
in der Persönlichkeit eine im Vergleich zu der vergänglichen
Gestalt dieser Welt höhere Realität offenbart. In der
Tat, was bedeutet "der Welt chronologisch vorhergehen"?
Das bedeutet: zu ihr in einer bestimmten zeitlichen Beziehung
stehen, d.h. der Welt gleichartig sein. Diejenigen, welche von
der chronologischen "Präexistenz" der Kirche,
der Persönlichkeit usw. sprachen - nahmen ihnen unvermeidlich
ihre Geistigkeit, ihre Überweltlichkeit, ihre besondere
höhere Natur, setzten sie aus der Ewigkeit in eine wenn
auch längst vergangene, unendlich weit zurückliegende
Zeit herab, unterwarfen sie den Gesetzen des vergänglichen
Seins und entwerteten das, "weswegen die Welt erschaffen
ist". Unter viele, zeitlich verschiedene Erscheinungen der
Welt setzten sie noch einige, ältere: aber sind es denn
die Jahre, welche das Heilige heilig machen? Gerade so war die
von der Kirche verdammte Vernünftelei der sogenannten Vernunft
der Gnostiker, Origenisten und aller jener, welche in sinnlicher
Weise über das Geistige denken wollten.
Im Gegenteil hatten die Orthodoxen, wenn sie von der "Präexistenz"
der Kirche, der Persönlichkeit usw. sprachen, stets die
Fülle der in ihnen enthaltenen Realität im Auge. Die
Kirche, die Persönlichkeit usw. waren für sie res realiores,
und das war der Kern der Sache. Wenn gemäß den damaligen
philosophischen Anschauungen unwiderruflich behauptet wurde,
daß das Ältere auch das Wertvollere sei, so schienen
die Orthodoxen, indem sie bedingt zustimmten, zu sagen: "Wenn
in der Philosophie anerkannt wird, daß die res realior
eben damit auch die res anterior sei, so streiten wir nicht dagegen
und sind damit einverstanden, in eurer Sprache von der
chronologischen Priorität zu sprechen; aber seid dessen
eingedenk: wenn die Philosophie der Zukunft anerkennen wird,
daß die res realior notwendig eine res posterior ist, so
werden wir dann - und ihr dürft uns nicht der Inkonsequenz
beschuldigen - sagen, daß die Kirche, die Persönlichkeit
usw. ,postexistieren'. Im Grunde aber wollen wir nur das aussagen,
was in unserem Erlebnis vorhanden und für uns einzig wichtig
ist, nämlich: die Kirche, das Bildnis Gottes usw. sind seinserfüllter
als die Welt, der empirische Charakter usw. Aber wie die Persönlichkeit
in der Welt in einem bestimmten chronologischen Moment beginnt,
so erschien auch die Kirche in der Welt empirisch in einem bestimmten
Moment - wurde inkarniert, vom Herrn Jesus Christus geboren.
Bis zu diesem Moment waren sowohl die Persönlichkeit als
auch die Kirche nur in der Ewigkeit, in der Zeit aber waren sie
nicht, und es ist daher einfach ungereimt zu fragen, ob - im
chronologischen Sinne - die Kirche vor der Geburt Christi, ob
sie z.B. 10000 Jahre vor der Geburt Christi ,bestanden habe';
das ist gerade so ungereimt, als wenn man fragte, ob Iwan oder
Peter 100 Jahre vor seiner Geburt gewesen sei. ,Sein' in dem
Sinne, in welchem sich die Häretiker für dieses Zeitwort
interessierten, bedeutet in der Zeit sein, d.h. inmitten der
Welt; in der Welt aber gab es bis zu einem bestimmten Zeitmoment
keine Kirche, so wie es auch keine ausgesprochene Persönlichkeit
und keinen Mensch gewordenen Gott gab. Das sind Tatsachen. Wenn
aber die Philosophie gleichwohl anerkennt, daß jeder Wert,
als ens realius, unvermeidlich auch ein ens anterius sein muß
- dann werden wir wieder übereinstimmend mit der
Philosophie von der Präexistenz der Kirche, der Persönlichkeit
usw. sprechen."
Das ist der Gedanke, welcher in der Verurteilung des sinnlichen,
verstandesmäßigen Begriffs der Häretiker von
der "Präexistenz" durch die Kirche enthalten ist.
Hieraus ist begreiflich, daß, wenn für den Orthodoxen
ein gewisses Maß von Freiheit im Anschluß an philosophische
Strömungen zugelassen wird, aus dein orthodoxen Gedanken
über die Präexistenz für den zeitgenössischen
Leser die philosophische Terminologie auszusondern ist und vermöge
einer Umgestaltung dieser Terminologie in ein zeitgemäßes
philosophisches Äquivalent dem in diesen Gedanken enthaltenen
geistigen Erlebnis der Fülle ein neues Gewand gegeben werden
muß. Wo nun aber eine solche Freiheit nicht anerkannt wird,
so muß man diese Lehren mit Vorbehalten und ungefähr
solchen Erläuterungen, wie die obigen von uns gemachten,
an nehmen.
[Florenskij
analysiert im folgenden die Schrift des Hermas "Der Hirte",
welche nach Zahn im Jahre 100, nach Funk im Jahre 140 n. Chr.
entstanden ist, und verteidigt ihren orthodoxen Charakter im
Unterschied von den gnostischen Schriften. In dieser Schrift
wird die Kirche in ihren beiden Aspekten dargestellt:
als vor-weltliches Wesen und als eine Größe,
welche in der Welt zusammengefügt wird. Diese beiden
Aspekte entsprechen aber nicht der Unterscheidung der "mystischen"
und der "historischen" Kirche; vielmehr beziehen sie
sich auf ein und dasselbe Wesen, welches nur unter verschiedenen
Gesichtswinkeln betrachtet wird: seitens der himmlischen und
präexistierenden, vereinigen den, mystischen Form und seitens
des zu vereinigenden, empirischen, irdischen und zeitlichen Inhalts,
welchem in jener die Vergöttlichung und Ewigkeit zuteil
wird.]
Worin besteht die Rettung? - Darin, daß man in den entstehenden
Turm [gemeint ist die Kirche in ihrem historischen Aspekt] als
Stein eingefügt werde - in die reale Einheit mit der Kirche;
darauf wird nicht nur an vielen einzelnen Stellen dieser Schrift
hingewiesen, sondern das ist auch das Hauptthema ihres ganzen
Inhalts. Die Rettung liegt in der Wesenseinheit mit der
Kirche. Aber die höchste, überweltliche Einheit der
Kreatur, welche durch die gnadenreiche Kraft des Geistes vereinigt
ist, ist nur dem durch das Werk Geläuterten und Demütigen
zugänglich. In dieser Weise werden die ontologische Wesentlichkeit
und die objektive Geltung der Demut, der Keuschheit
und der Einfachheit als über-physischer und über-sittlicher
Kräfte festgestellt, welche die gesamte Kreatur im Heiligen
Geist mit der Kirche wesenseinig machen. Diese Kräfte
sind Offenbarungen einer anderen Welt in dieser
Welt, des Geistigen in dem Zeitlich-Räumlichen, des Himmlischen
im Irdischen. Sie sind Schutzengel der Kreatur, welche
vom Himmel herabsteigen und von der Kreatur zum Himmel hinaufsteigen,
wie es dem Urvater Jakob offenbart wurde.
Die Lehre von der Sophia finden wir auch bei jenem Asketen des
4. Jahrhunderts, welcher die Idee der Geist-Trägerschaft
am wuchtigsten verteidigt und asketisch begründet hat; es
genügt wohl zu sagen, daß er durch sein "Leben
des Antonius" einen Aufschwung des mönchischen Geistes
bewirkt hat und vielleicht dadurch den ganzens Strom der Kirchengeschichte
entschieden in die asketische Bahn geleitet hat - und Du wirst
erraten, wen ich meine: Athanasius, den Heiligen und Großen.
Indem er häufig zur Interpretation der in der Geschichte
der arianischen Kontroversen berühmten Worte aus den Sprüchen
zurückkehrt, wo die Allweisheit von sich sagt: "Der
Herr erschuf mich - ektise me - zum Anfang Seiner Wege in Seine
Werke" (Spr. 8, 22) und sich auf mancherlei Weise
bemüht, dieses bei den Arianisierenden Ärgernis erregende
"erschuf, ektise", zu erklären,
versteht Athanasius an verschiedenen Stellen seiner Werke unter
Allweisheit sehr Verschiedenes; nämlich - bald das
menschliche Wesen Christi, bald Seinen Leib, bald
die Kirche, bald diejenige Seite der kreatürlichen
Welt, welche der Ewigkeit zugewandt ist. Aber dieser Unterschied
ist nur scheinbar, denn alle aufgezählten Auffassungsarten
des Wortes "Allweisheit" meinen in Wahrheit stets ein
und dieselbe Sophia als die von Gott erschaffene Einheit der
idealen Bestimmungen der Kreatur - ein und dieselbe nur unter
verschiedenen Aspekten wahrgenommene Sophia - das volle und ganze
Wesen der Kreatur.
Ich möchte Dir ausführlicher entwickeln, wie Athanasius
dieses ideale Moment des kreatürlichen Seins begreift. Der
hl. Vater sagt: "Die eingeborene und selbsteigene Weisheit
Gottes ist also Schöpferin und Bildnerin von allem; denn
,alles', heißt es, ,hast Du in Weisheit gemacht' und ,es
wurde die Erde erfüllt von Deiner Schöpfung' (Ps. 103,
24). Damit aber das Entstehende nicht nur schlechthin existiere,
sondern auch guten Bestand habe, gefiel es Gott, daß seine
Weisheit zu den Geschöpfen herabsteige, so daß sie
einen Abdruck und ein Gleichnis ihres Bildes - tupon tina kai jantasian eikonoV authV - allen insgemein und jedem einzelnen
einpräge, damit die entstandenen Dinge als weise und Gottes
würdige Werke sich erweisen... Da nun ein solcher geschaffener
Abdruck der Weisheit in uns und in allen Werken ist", auch
im Diabolus - sagt der hl. Athanasius an anderer Stelle, "so
eignet sich die wahre und schöpferische Weisheit das, was
zu ihrem (tupoV
thV SojiaV ktisJentoV en hmin te kai en pasi toiV eogoiV ontoV) Abdruck gehört,
mit Recht an und sagt: ,Der Herr schuf mich für seine Werke.'
Was also die Weisheit in uns (h en hmin SojiaV) sagte, das sagt der Herr von sich gleichsam
als ihm eigen aus. Und er ist als Schöpfer selbst keine
Kreatur; aber wegen seines in den Werken geschaffenen Bildes
- sagt er dies wie von sich selbst. Und wie der Herr selbst
gesagt hat: ,Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf' (Matth. 10, 40),
weil sein Abdruck in uns ist, so sagt er, wenn schon nicht zu
den geschaffenen Dingen gehörig, gleichwohl, weil sein Bild
und Abdruck in den Werken geschaffen wird, wie wenn er es selbst
wäre: ,Der Herr schuf mich als Anfang seiner Wege für
seine Werke.' Und so ist der Abdruck der Weisheit in den Werken
entstanden, damit die Welt, wie gesagt; in sich ihr Schöpferwort
erkenne und durch dasselbe den Vater. Und gerade davon sprach
Paulus: ,Denn was von Gott erkennbar ist, das ist unter ihnen
offenbar; denn Gott hat es ihnen geoffenbart. Denn das Unsichtbare
an ihm wird seit der Erschaffung der Welt in den erschaffenen
Dingen erkannt und geschaut.' (Röm. 1, 19 f.) Deshalb ist
das Wort nicht der Substanz nach ein Geschöpf, vielmehr
ist die Stelle in den Sprichwörtern von der Weisheit zu
verstehen, die in uns ist und uns zugesprochen wird. Wenn die
Arianer aber auch dem keinen Glauben schenken wollen, so sollen
sie uns selbst fragen, ob wirklich eine Weisheit in den Geschöpfen
ist oder nicht. Wenn nun eine solche fehlt, warum erhebt dann
der Apostel Beschwerde mit den Worten: ,Denn weil in der Weisheit
Gottes die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte.' (1.
Kor. 1, 21). Oder, wenn es keine Weisheit gibt, warum findet
man dann in der Schrift eine Menge von Weisen? Denn ,der Weise
wendet sich in Furcht vom Bösen ab' (Prov. 14, 16) und:
,Mit Weisheit wird dein Haus gebaut' (Prov. 24, 3). Der
Prediger aber sagt: ,Die Weisheit des Menschen wird sein Antlitz
erleuchten', und er weist die Vorlauten zurecht mit
den Worten: ,Sag nicht: Wie kam es doch, daß die früheren
Tage besser waren als die gegenwärtigen? Denn nicht in Weisheit
hast du darum gefragt.' (Pred. 7, 11) Wenn es aber eine solche
gibt, wie auch der Sohn des Sirach bezeugt: ,Er goß sie
aus über alle seine Werke und alles Fleisch gemäß
seiner Ausbreitung und gab sie denen, die ihn lieben.' (Sir.
1, 10) Und wenn eine solche Ausgießung nicht ein Kennzeichen
der Substanz der selbsteigenen und eingeborenen, sondern der
in der Welt nachgebildeten Weisheit ist, klingt es dann so
unglaublich, wenn die schöpferische und wahre Weisheit selbst,
deren Abdruck die in der Welt ausgegossene Weisheit und
Erkenntnis ist, wie ich schon vorhin bemerkt habe, gleichsam
von sich selbst spricht: ,Der Herr schuf mich für seine
Werke.' Denn die Weisheit in der Welt ist nicht schöpferisch,
sie wird vielmehr in den Werken geschaffen in der ,die
Himmel Gottes Herrlichkeit erzählen und das Firmament das
Werk seiner Hände verkündet.' (Ps. 18, 2). Wenn aber
die Menschen diese in sich tragen, so werden sie zur Erkenntnis
der wahren Weisheit gelangen und erkennen, daß sie in Wahrheit
nach dem Bilde Gottes geschaffen sind." (Athanasius, Gegen
die Arianer. Zweite Rede, Köselsche Ausgabe, Bd. 1, S. 229-231)
Es kann kein Zweifel sein, daß die kreatürliche Allweisheit,
über welche dieses Zitat spricht, nach der Auffassung des
Athanasius sich keineswegs nur auf den psychologischen und gnoseologischen
Prozeß des inneren Lebens der Kreatur beschränkt,
sondern vor allem die metaphysische Natur des kreatürlichen
Wesens ausmacht: die Allweisheit in der Kreatur ist nicht nur
Tätigkeit, sondern auch Substanz; sie hat einen wesentlichen,
massiven, dinghaften Charakter. Das wird noch klarer in dem von
dem hl. Vater gegebenen ausdrucksvollen Vergleich. Er stellt
die Kreatur in dem Bilde einer Stadt dar, deren Erbauung ein
König seinem Sohne auftrug. Um die Gebäude mittels
der Autorität seines Vaters vor Anschlägen zu schützen
und zugleich an sich und an seinen Vater ein Andenken zu hinterlassen,
zeichnet der Königssohn jeden Bau mit seinem Namen.
Wenn man jetzt, nach Fertigstellung der Gebäude, den Königssohn
fragt, wie die Stadt erbaut sei, und er zur Antwort gibt: "Zuverlässig,
weil ich nach dem Willen des Vaters auf jedem Gebäude dargestellt
bin, mein Name in diesen Gebäuden erschaffen wurde",
so erklärt er (indem er also spricht) nicht sein Wesen für
erschaffen, sondern sein Bild - ton eautou tupon - wegen seines Namens. Gerade so antwortet
auch die Wahre Allweisheit - d.h. der Logos - denen, welche über
die kreatürliche Allweisheit - d.h. über die Sophia
- staunen: "Der Herr hat mich für seine Werke erschaffen,
weil mein Bild in ihnen ist; und bis zu diesem Grade bin ich
in die Schöpfung herabgestiegen." - Der von Athanasius
dargebotene Vergleich ist keine reine Erfindung. Ich erinnere
an den in der Weltgeschichte oft vorkommenden Brauch, den Namen
des Erbauers auf das Gebäude zu schreiben, oder an die noch
erstaunlichere Sitte der babylonischen Könige, jeden Stein
der von ihnen errichteten Gebäude mit einem Siegel, welches
den Namen des bauenden Königs trug, zu versehen. Um aber
den wahren Sinn dieser Sitte gleichwie auch den Sinn des sich
auf diesen Brauch stützenden Vergleiches des Athanasius
zu begreifen, muß man sich die altertümlichen Vorstellung
vom Namen vergegenwärtigen, als von einer realen Kraft-Idee,
welche die Dinge formt und geheimnisvoll das Innere ihres tiefsten
Wesens beherrscht.
Indem also der Königssohn des Athanasius'schen Gleichnisses
seinen Namen auf die Gebäude setzt, trägt er eben dadurch
- der Auffassung der Alten gemäß - in das Sein dieser
Gebäude ein neues geheimnisvolles Wesen hinein, schenkt
den Gebäuden eine mystische Kraft.
Athanasius bedient sich seines Vergleiches auch später,
wenn er unmittelbar die Kirche erwähnt: "Es darf wieder
nicht befremden, wenn der Sohn von seinem in uns befindlichen
Abdruck wie von sich selbst redet... und damals, als Saulus die
Kirche verfolgte, in der seine Gestalt und sein Bild war, so
redete er, als wäre er selbst der Verfolgte: ,Saulus, warum
verfolgst du mich?' (Acta ap. 8, 4) Wie es also, wie gesagt,
niemand auffallend gefunden hätte, wenn die Gestalt der
Weisheit selbst, die in den Werken ist, gesagt hätte: ,Der
Herr schuf mich für seine Werke', so soll, wenn auch
die wahre und schöpferische Weisheit, das eingeborene Wort
Gottes, das, was seinem Bilde zukommt, wie von sich selbst aussagt
in den Worten: ,Der Herr schuf mich für seine Werke',
niemand die der Welt und den Werken anerschaffene Weisheit
außer acht lassen und glauben, das Wort ektise beziehe
sich auf die Substanz der selbsteigenen Weisheit... Denn sie
ist Schöpferin und Bildnerin, der Abdruck von ihr aber wird
den Werken anerschaffen, wie vom Bild das Ebenbild. [...]"
Die kreatürliche Sophia, der Göttliche Abdruck der
Kreatur, ist "das Bild und der Schatten der Allweisheit".
Aber indem sie verwirklicht, in der Erfahrungswelt, in der
Zeit abgebildet wird, geht sie, obwohl kreatürlich, der
Welt voraus, erscheint als vor-weltlicher hypostatischer
Komplex der Göttlichen Urbilder des Seienden. Der hl. Athanasins
bezieht sich bei dieser Behauptung auf Worte des Apostels Paulus:
"Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesu Christi,
der uns gesegnet hat mit allem geistigen Segen im Himmel in Christus,
weil er uns in Ihm erwählte vor der Weltschöpfung,
daß wir heilig und tadellos vor Ihm seien in der Liebe;
und Er hat uns vorbestimmt zur Kindschaft in dem Verhältnis
zu Ihm selbst, durch Jesus Christus, nach Wohlgefallen seines
Willens" (Eph. 1, 3-5). "Was bedeutet", sagt der
hl. Athanasius, "er erwählte uns, bevor wir unser Dasein
erhielten, wenn wir nicht schon (wie er sagt) in ihm vorgebildet
wären?"
Der hl. Vater erklärt ferner, daß eben auf dieser
Vor-Darstellung unser im Herrn, auf dieser unsrer ewigen
Wurzel die Möglichkeit des "ewigen Lebens" für
uns beruht. Das ist die Auffassung von der Göttlichen Seite
der Kreatur bei Athanasius, welcher von einer pantheistischen
Vermischung der Kreatur mit dem Schöpfer weiter entfernt
war als irgend jemand. Sein ganzes Leben hat er einer endgültigen
Überführung der Häretiker geweiht, welche die
Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf zu verwischen
trachteten. Darum hat das Zeugnis des Athanasius für uns
eine unvergleichliche Bedeutung.
Das Dogma der Wesenseinheit der Trinität, die Idee der Vergottung
des Fleisches, die Forderungen des Asketentums, die Erwartung
des Trösters und die Anerkennung der vorweltlichen, unvergänglichen
Bedeutung der Kreatur - das sind die Leitmotive des dogmatischen
Systems des Athanasius, welche so eng miteinander verwachsen
sind, daß man keines vernehmen kann, ohne darin alle übrigen
zu entdecken. Auf diesen Grundmotiven ist auch das vorliegende
Buch aufgebaut, so daß man in Wahrheit sagen kann, daß
es von den ldeen des hl. Athanasius des Großen ausgeht.
Die Sophia nimmt teil an dem Leben der Drei-Persönlichen
Gottheit, tritt ein in die Trinitarischen Tiefen und wird der
Göttlichen Liebe teilhaftig. Aber als vierte, kreatürliche
und folglich nicht wesenseine Person "bildet"
sie nicht die Göttliche Einheit, "ist" sie nicht
die Liebe, sondern tritt nur in die Gemeinschaft der Liebe
ein, wird zu dieser Gemeinschaft nach der unaussprechlichen,
unbegreiflichen, unausdenkbaren Göttlichen Demut zugelassen.
Als vierte Person trägt sie auf Grund der Göttlichen
Nachsicht (keineswegs auf Grund ihrer Natur) einen Unterschied
in das Verhältnis der providentiellen Tätigkeit der
Trinitarischen Hypostasen zu sich hinein, und, indem sie für
die Dreieinige Gottheit eine und dieselbe bleibt, erscheint sie
in sich in ihrer Beziehung zu den Hypostasen verschieden; die
sich auf sie beziehende Idee erhält diese oder jene Färbung,
je nachdem, welcher Hypostase wir unsere Anschauung hauptsächlich
zuwenden.
Unter dem Gesichtspunkt der Hypostase des Vaters ist die
Sophia eine ideale Substanz, die Grundlage der Kreatur,
die Macht oder Kraft ihres Seins; wenn wir uns der Hypostase
des Wortes zuwenden, so ist die Sophia die Vernunft
der Kreatur, ihr Sinn und ihre Wahrheit; endlich vom Standpunkt
der Hypostase des Geistes erfassen wir in der Sophia die Geistigkeit
der Kreatur, ihre Heiligkeit, Lauterkeit und Sündlosigkeit,
d.h. ihre Schönheit. Diese dreieinige Idee des Grundes,
der Vernunft und der Heiligkeit stellt sich dem sündhaften
Verstande, indem sie in ihm zerspalten wird, in drei sich gegenseitig
ausschließenden Aspekten dar: als Grund, als Vernunft
und als Heiligkeit. In der Tat: was ist dem Grunde der
Kreatur mit ihrer Vernunft oder mit ihrer Heiligkeit gemeinsam?
Für den vergänglichen Intellekt, d.h. für den
Verstand, sind diese Ideen in einem vollständigen Bilde
in keiner Weise vereinbar: nach dem Gesetze der Identität
sind sie füreinander undurchdringlich.
Aber mehr als das. In Beziehung zu der Weltordnung hat die Sophia
noch eine ganze Reihe neuer Aspekte, welche die eine sich auf
sie beziehende Idee in eine Vielheit dogmatischer Begriffe zersplittern.
Vor allein ist die Sophia der Anfang und der Mittelpunkt der
erlösten Kreatur - der Leib des Herrn Jesus Christus,
d.h. das kreatürliche Wesen, welches von dem Göttlichen
Wort wahrgenommen ist. Nur durch Teilnehmen an Ihm, d.h. wenn
unser Wesen in den Leib des Herrn eingeschlossen - gleichsam
in denselben eingeimpft ist -, erhalten wir von dem Heiligen
Geist die Freiheit und die geheimnisvolle Reinigung. In diesem
Sinne ist die Sophia das präexistierende, in Christo gereinigte
Wesen der Kreatur oder die Kirche in ihrem himmlischen Aspekt.
Aber soweit die Heiligung auch der irdischen Seite der Kreatur,
ihres empirischen Inhalts - ihres "Gewandes"
- von dem Heiligen Geiste ausgeht, insofern ist die Sophia die
Kirche in ihrem irdischen Aspekt, d.h. die Totalität
aller Persönlichkeiten, welche das Werk der Wiederherstellung
schon begonnen haben, mit ihrem empirischen Sein in den Leib
Christi schon eingetreten sind. Weil aber die Reinigung durch
den Heiligen Geist erfolgt, der sich der Kreatur offenbart, so
ist die Sophia der Geist, insofern er die Kreatur vergottet
hat. Aber der Heilige Geist offenbart sich in der Kreatur als
Jungfernschaft als innere Keuschheit und demütige
Sündlosigkeit - in diesen hauptsächlichen Gaben, welche
der Christ von Ihm erhält. In diesem Sinne ist die Sophia
die Jungfernschaft - eine himmlische Kraft, welche die
Jungfräulichkeit verleiht. Die Trägerin der Jungfernschaft
- die Jungfrau im eigentlichen und ausschließlichen
Sinne des Wortes - ist Maria, die gnadenreiche, vom Heiligen
Geiste begnadete (kecaoitwmenh, Luk. 1, 28) - von
Seinen Gaben erfüllte Jungfrau; als solche ist sie die wahre
Kirche Gottes, der wahre Leib Christi: denn aus ihr ist der Leib
Christi entsprungen.
Wenn die Sophia alle Kreatur ist, so sind Seele und Gewissen
der Kreatur - die Menschheit - die Sophia par excellence. Wenn
die Sophia die ganze Menschheit ist, so sind Seele und Gewissen
der Menschheit - die Kirche - die Sophia par excellence. Wenn
die Sophia die Kirche ist, so sind Seele und Gewissen der Kirche
- die Kirche der Heiligen - die Sophia par excellence. Wenn die
Sophia die Kirche der Heiligen ist, so sind Seele und Gewissen
der Kirche der Heiligen - die Beschützerin der Kreatur und
ihre Fürsprecherin vor dem Göttlichen Wort, welches
die Kreatur richtet und sie in zwei Teile spaltet, die Mutter
Gottes - "das Fegefeuer der Welt" - wiederum die Sophia
par excellence. Aber das wahre Zeichen der gnadenreichen Maria
ist ihre Jungfernschaft, die Schönheit ihrer Seele. Das
eben ist die Sophia. Die Sophia ist "der verborgene Mensch
des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geiste"
(1. Petr. 3, 4) - die wahre Zierde des menschlichen Wesens, welche
alle seine Poren durchdringt, in seinem Blicke leuchtet, in sein
Lächeln sich ergießt, in seinem Herzen mit unaussprechlicher
Freude jubelt, sich in jeder seiner Gesten widerspiegelt, den
Menschen im Moment der geistigen Erhebung mit einer wohlriechenden
Wolke und einem hell leuchtenden Nimbus umgibt, ihn "über
das weltliche Gefüge" erhebt, so daß er in der
Welt bleibend "nicht von dieser Welt", überweltlich
wird. "Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis
hat's nicht begriffen" (Joh. 1, 5) - solcher Art ist das
Nicht-von-dieser-Welt-sein der geisttragenden schönen Persönlichkeit.
Die Sophia ist die Schönheit. "Euer Schmuck
(kosmoV) soll" - so wendet
sich der Apostel Petrus an die Frauen - "nicht auswendig
sein mit Haarflechten und Goldumhängen oder Kleideranlegen,
sondern der verborgene Mensch des Herzens in der unvergänglichen
Schönheit des sanften und stillen Geistes; das ist
köstlich vor Gott" (1. Petr. 3, 3-4). Nur die Sophia,
die Sophia allein ist die wesentliche Schönheit der gesamten
Kreatur; alles andere ist nur Flitter und Prunk der Kleidung,
und dieser scheinbare Glanz wird von der Persönlichkeit
bei der Feuerprobe abgestreift werden.
Das sind einige von den Aspekten der Sophia in ihren gegenseitigen
Beziehungen. Versuchen wir jetzt dieselben etwas ausführlicher
zu betrachten.
Die Reinheit des Herzens, die Jungfräulichkeit und keusche
Integrität bilden die conditio sine quo non, um Allweisheit-Sophia
zu schauen und um angenommen zu werden im himmlischen Jerusalem,
"unserer Mutter" (Gal. 4, 26). Es ist sehr begreiflich.
Das Herz ist das Organ für die Wahrnehmung der himmlischen
Welt. Durch das Herz wird die urkreatürliche Wurzel der
Persönlichkeit, sein Engel, geschaut, und dadurch
wird ein lebendiges Band mit der Mutter der geistigen Persönlichkeit
- mit Sophia - geknüpft, mit Sophia, die gedacht werden
muß als der Schutzengel der gesamten Schöpfung,
der gesamten Kreatur, welche durch die (vermittelst Sophia) vom
Geist erhaltene Liebe eine wesentliche Einheit bildet. In Sophia
erhält die Persönlichkeit die seligmachende Anschauung
von Gott als Liebe (Matth. 18, 10). "Selig, die
reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Matth.
5, 8) - Gott schauen durch ihr gereinigtes Herz und in ihrem
Herzen. Die Reinheit, welche der Heilige Geist verleiht; entfernt
alle Krusten um das Herz, enthüllt die ewige Wurzel und
durchläutert alle Wege, auf welchen das unaussprechliche
Licht des dreihypestatischen Leuchters in das menschliche Bewußtsein
hineinleuchtet. Dann aber erfüllt sich das gereinigte innere
Wesen (des Menschen) mit dem Lichte des absoluten Wissens und
der Seligkeit der wirklich erlebten Wahrheit.
"Der Herzensreine wird", nach den Worten des hl. Gregor
von Nissa, "in sich nichts anderes schauen als Gott."
Die Gnade ergießt sich in breiten Strömen in alle
Fasern des Herzens. "In dem aber, was von der Gnade stammt,
wohnt Freude, wohnt Friede, wohnt Liebe und Wahrheit", sagt
der hl. Makarius der Große. Mit anderen Worten,
von der subjektiven Seite aus läßt sich Sophia wahrnehmen
als die Vermittlerin der Freude und eo ipso läßt
sie sich identifizieren mit der Freude.
"Die Keuschheit des Herzens ist Glückseligkeit;
die Jungfräulichkeit der Seele ist Freude und sogar eine
gewisse Heiterkeit (Estin saojrosunhV kai ti galhnon ecein)", bemerkt der
hl. Gregor der Theologe in seinen "Gnomischen Dystichen".
Aber, wenn die Jungfräulichkeit der Seele - eine unbedingte
Voraussetzung für das Schauen des himmlischen Jerusalem
ist, so sind es auch umgekehrt "die Berührung der anderen
Welten", das Dringen bis zu den geistigen Wurzeln des Seienden
und das gnadenreiche Erblicken seines eigenen Selbst im Gott
- die allein die Kraft der Jungfräulichkeit verleihen können.
Um jungfräulich zu sein, ist es notwendig, "seine
eigene Natur im himmlischen Jerusalem zu schauen", notwendig,
sich selbst als den Sohn der gemeinsamen Mutter zu sehen, welche
nichts anderes ist als die Jungfräulichkeit selbst in ihrer
Präexistenz.
"Willst
du, o Bruder, jungfräulich sein?", fragt der Verfasser
des ersten Briefes über die Jungfräulichkeit, welcher
früher dem hl. Clemens Romanus zugeschrieben wurde
und welcher dem 3. Jahrhundert angehört. "Weißt
du aber", fährt er fort, "wie viel Arbeit und
Mühe die wahre Jungfräulichkeit kostet?... Kämpfst
du als regelrechter, erfahrener Kämpfer, bewaffnet mit der
Kraft des Heiligen Geistes, nachdem du diese Heldentat um des
Lichtkranzes willen erwählt hast? Siehst du (discernis)
deine Natur im himmlischen Jerusalem? (Gal. 4, 26)"
Man muß sich nicht wundern über diesen Widerspruch
zwischen der These und Antithese d.h. zwischen den Behauptungen:
"Die Jungfräulichkeit - Urquelle der Sophia-Anschauung"
und "Die Sophia-Anschauung - Urquelle der Jungfräulichkeit".
Jene These ist nur ein individuelles Beispiel für die große
Antinomie zwischen der Gnade Gottes und der menschlichen Heldentat;
diese Antinomie zeigt sich aber entschieden bei jeder Frage der
göttlichen Ökonomie, von den Schicksalen ganzer Völker
an bis auf die gewöhnlichsten Ereignisse (abgesehen von
den Sakramenten). Jedoch ist es für mich Hauptsache: die
Unteilbarkeit und Unzerbrechlichkeit der Idee der "Jungfräulichkeit-Anschauung"
festzustellen. Durch diese Unteilbarkeit wird erklärt,
weshalb in den Urkunden der kirchlichen Literatur um so dringender
über die Reinheit gesprochen wird, je größer
jener Raum ist, welcher der Idee des Charismatismus, der
Geistträgerschaft, der Vergöttlichung (unter allen
denkbaren Namen in den verschiedenen Zeitepochen) eingeräumt
wird, und je deutlicher die Vorstellung des unbedingten Wertes
der Kreatur auftritt.
Noch einmal wiederhole ich (und werde nie müde es zu wiederholen),
daß die christliche Askese und die unbedingte Wertschätzung
der Kreatur, die Jungfräulichkeit und die Geistträgerschaft,
das Wissen der Allweisheit Gottes und die Liebe zur Leiblichkeit,
die Heldentat und die Erkenntnis der absoluten Wahrheit, die
Vermeidung des Verweslichen und die Liebe - die antinomischen
Seiten eines und desselben geistigen Lebens sind; sie sind
ebenso miteinander verbunden wie die paarweise entgegengesetzten
Seiten eines gleichseitigen Zehnecks.
[...]
Ein vollkommener Typus der wirklichen Reinheit ist die allerreinste
und hochgebenedeite Mutter Gottes, die Demutsvolle in Ihrer ewigen
Reinheit, die Reine in Ihrer unwandelbaren Demut. In Ihr, der
Braut des Heiligen Geistes, welcher sie von Urbeginn an rein
macht, sprießt die lebendige Quelle der universellen Reinheit,
die ewig-fließende Quelle der Vernunft (der Weisheit) hervor.
In Ihr quillt der Bach des Lebenswassers, der jeden Durst stillt
und das höllische Feuer in der Seele löscht. Deshalb
ruft die Kirche sie flehentlich an: "Weltläuterung,
Gottesmutter!" und "Reinigung des Wetalls". Sie
ist es, die die finstere Heerschar unserer Leidenschaften und
Begierden verjagt; sie ist die Feuersäule, die uns bedeckt
und beschirmt vor den "Verführungen dieser Welt",
"die Feuersäule, die uns allen in der Nacht der Sünde
den Weg zur Erlösung zeigt"; sie ist es, die uns rettet
von den "Gluten der Leidenschaften durch den Flammentau
ihrer Gebete". Wenn der Herr das Haupt der Kirche ist, so
ist die sanfte Maria "die Geberin der göttlichen Gnade"
in Wahrheit das Herz der Kirche, vermittelst dessen die Kirche
das ewige Leben und die Gaben des Geistes unter ihre Glieder
verteilt. Sie ist die wahre "Lebensspenderin", die
wahre "lebensbringende Quelle". Maria ist eben "die
Herrin ohne jeden Makel", "die einzig-reine hochbegnadete",
"gnadenreiche", "die einzige unverwesliche und
gütige Taube". Sie ist das lebendige Symbol und der
Uranfang der sich reinigenden Welt, "die Allreinigende";
sie ist der von der Flamme des Heiligen Geistes umgebene, "unverbrennbare
Dornbusch", die lebendige, vorbildliche Erscheinung
des Geistes auf Erden, der Typus der Pneumatophanie. Gleichwie
der Geist die Schönheit des Absoluten ist, so ist die Gottesmutter
die Schönheit des Kreatürlichen, "die Glorie
der Welt", und durch sie ist die gesamte Kreatur geschmückt:
"Es freuen sich die Erdgeborenen über die Schönheit
deiner Herrlichkeit", d.h. "die Erdgeborenen freuen
sich, geschmückt durch deine göttliche Herrlichkeit",
weil die Schönheit, die durch das Herz wahrgenommen wird,
Freude ist. Und die Schönheit der Welt, welche mit einem
Beben aus Ehrfurcht beschaut wird, ist Weltfreude, "Unerwartete
Freude" der Welt, ihre "Verzückung",
ihr "Wohl und Trost", "der süße
Kuß, mit welchem die irdische Welt die obere Welt küßt".
Sie ist die "Freude aller Freuden", wie der hl. Seraphim
uns gebot, die Ikona der "Verzückung" zu nennen
- jene Ikona, welche er allein in seiner Zelle besaß und
vor deren Anschauung er sich heiligte. Die Gottesmutter ist die
Freude und "Fürsprecherin der Weltfreude". In
der Anschauung der himmlischen Schönheit ist sie "die
Milderung der Trauer", "die Freude aller Freuden",
"der Trost in Leiden und Schmerzen", die Gottesmutter
ist "die unermüdliche Beschützerin", sie
ist "die Suchende nach den Untergegangenen", "die
Pfandgeberin für die Sünder", "die Besänftigung
der bösen Herzen"; sie ist "die sich zu
den Schmerzen Hinneigende", sie ist "die Schnell
erhörende" und "die Immererhörende",
"die Befreiung der Leidenden von den Schmerzen", "die
barmherzige Heilbringerin"; sie ist der Schutzengel
der ganzen Welt, "die Schutzdecke der Welt, breiter wie
die Wolke", "die Wegweisende" ("Odigistria")
der Welt, sie führt die Welt bald als feurige, bald als
wolkenhafte Säule in das Gelobte Land, zum "himmlischen
Leben"; sie ist "die unerschütterliche Mauer",
welche die Welt beschirmt, "die Erretterin"
der Welt; sie ist "die starke Beschützerin des
Universums". In und durch sie freut sich die gesamte Kreatür
und das menschliche Geschlecht. Nicht umsonst singen wir doch:
"Über dich, o Begnadete, freut sich jede Kreatur, der
Engelchor und der Menschenstamm, der geweihte Tempel und das
Paradies der Lobgesänge... Sei Du verherrlicht!" Gottesmutter
ist die schönste Blume der Erde und die "unverwesliche,
wohlriechende" Blume. Sie ist die Trägerin der Sophia,
sie ist "der beseelte Himmel" und "der weise Himmel",
"der gnadenreiche Himmel", d.h. die obere (allerhöchste)
Welt, das himmlische Jerusalem, welches sich in der allerreinsten
Seele der Jungfrau abgebildet hat. Die Kirche sagt doch: "In
Wahrheit bist Du erschienen, du Himmel auf Erden, Du höher
als der höchste Himmel, o unbräutliche Braut: aus Dir
erstrahlte die Sonne in der Welt, als Herr der Wahrheit."
Dieser engste Zusammenhang zwischen der Idee der Gottesmutter
und der des himmlischen Jerusalem leuchtet auch durch die Gleichnisse
des Oster-Irmos:
"Leuchte, Du, leuchte,
Neues Jerusalem,
Dich überstrahlet
Die Herrlichkeit des Herrn.
Juble und freue Dich,
Heute, o Sion!
Du aber leuchte,
0 reine Gottesmutter,
In der Schönheit
Deiner auferstandenen Geburt!"
Die allerheiligste Jungfrau war einigen heldenmütigen Asketen
erschienen und sagte zu ihnen: "Dieser ist von unserem Stamm!"
"Dieser ist von unserem Stamm!" - welche vielbedeutenden
Worte! Sie bedeuten, daß es einen bestimmten "Stamm"
gibt, der Stamm der Gottesmutter, und daß zu diesem
Stamm, zu dieser Natur sui generis einige heilige Asketen gehören.
Was für ein Stamm? Es ist der Stamm, der eine eingeborene
Hinneigung zur seelischen Jungfräulichkeit besitzt. Die
Menschen, oder, deutlicher gesagt, die Erdenengel - als Glieder
dieses mysteriösen Stammes - leuchten schon von ihrer ersten
Jugend an, mit dem sanften Lichte der Integrität und der
über dieser Welt erhabenen Natur. Sie sind schon im Mutterschoß
bezeichnet und zu einer besonderen Harmonie der Seele
erwählt. Sie sind wie ausgeschlossen von dem Gesetze
der Sündhaftigkeit, sie kommen wie direkt aus dem
Eden, als die Söhne des erstgeschaffenen und noch sündelosen
Elternpaares. Sie verrichten mühelos das, was die anderen
nur im Schweiße ihres Angesichtes erreichen können;
sie vervollkommnen sich ohne innere Zerrissenheit und steigen
sicher von der einen Kraft zur andren empor gleichwie eine sich
entfaltende wohlriechende Blume. Sie schreiten mit sicherem Fuß,
ohne Irrungen und von ihrer Empfängnis an, zur "Herrlichkeit
der höchsten Weisheit". Sie sind die evangelischen
"Jungfrauen vom Mutterschoß an". Solch einer
war z.B. Johannes der Theologe; solche waren die Heiligen vom
Berge Athos: Johannes Kukusel und Athanasius, auch der heilige
Sergij Radoneschski und Seraphim Sarovski. Als wunderbarstes
Muster einer solchen Reinheit (Integrität) wies die Gottesmutter
die Person des Starez der Kiewer-netscherska-Lavra, des Hieroschimonachs
Parfeni aus, welcher von seiner Kindheit an gar nichts von den
unkeuschen Begierden und fleischlichen Anfechtungen und sogar
von keinen Versuchungen wußte. Solches Muster stellte auch
der Starez aus dem Gethsemanischen Skit, Isidor, dar. Es gibt
also einen besonderen Stamm der Gottesmutter - nicht jeder
Gerechte gehört zu diesem Stamm; es gibt einen höheren
Typus von geistiger Organisation, eine heilige Persönlichkeit
(was aber nicht schlechthin eine sündenlose Persönlichkeit
bedeutet). Mit einem Worte, das ist der Sophiismus der Seele,
der aus der Urquelle der Reinheit fließt. Wer ist aber
die Urquelle der Reinheit? Wer ist "die Säule der
Jungfräulichkeit"? - Es ist die Gottesmutter!
Deshalb fühlen sich diese eingefleischten Engel, diese
Mönche von Natur, diese Blumen dieser Welt, als besondere
Auserwählten der allerheiligsten Jungfrau. Sie verehren
Diese vorzugsweise und erhalten von Ihr Gnadenhilfe und manche
Zeichen. Wenn wir uns in das Verhältnis jener Mönche
zur Allerreinsten vertiefen, so wird es klar, daß für
sie, für ihr Bewußtsein und ihre Liebe nicht die
Gottmutterschaft (der hl. Jungfrau) d.h. nicht Christus,
Hauptsache ist, sondern Ihre Ur-jungfräulichkeit, Sie
selbst. Deshalb eben besaß ein solcher Auserwählter
der Gottesmutter wie der hl. Seraphim in seiner Zelle nur eine
einzige Ikona. Welche? Es wäre natürlich zu glauben,
daß diese einzige Ikona - die des Heilands war. Doch nein!
Es war nicht die Ikona des Heilands, sondern die der Gottesmutter,
und noch dazu ohne Heilandskind, nämlich die Ikona
der sog. "Verzückung". Dasselbe kann man
auch über die anderen Asketen sagen. Sie verehren in der
Gottesmutter die Trägerin der Sophia, die Erscheinung
der Sophia, und sie fühlen, daß ihre eigene, innere
geistig-harmonische Natur von Sophia herrührt. Der hl. Seraphim
forderte sogar neben dem Bekenntnis der Gottmenschheit Christi
auch ein spezielles Bekenntnis der Urjungfräulichkeit der
Gottesmutter. So wie es verdorbene Stämme und sogar ganze
Völker gibt, so bestehen auch die reinen Stämme. In
den ersten sind die Züge der paradiesischen Integrität
vernichtet, in den letzten bleibt etwas von der urgeschaffenen
Schönheit bestehen. Die gesamte Kreatur ist verdorben, jedoch
ist diese Verderbnis in einigen tiefer, in anderen weniger tief.
Außerdem bestehen noch die wesenhaft-reinen, sozusagen
die Splitter der zerbrochenen, urgeschaffenen Welt, welche ihr
Urbild am wenigsten entstellten. Es sind die Verehrer der Urjungfräulichkeit,
und die erste unter ihnen ist die Trägerin und der Mittelpunkt
der paradiesischen Reinheit - die Urjungfrau selbst - die Gottesmutter.
In der Gottesmutter vereinigt sich die sophiistische, d.h.
die evangelische Kraft mit der menschlichen Demut, die "göttliche
Wohlwollendheit zu den Menschen" und "der Wagemut der
sterblichen zu Gott".
Die Gottesmutter steht an der Grenze, welche die Schöpfung
von dem Schöpfer trennt und weil "dieses Dazwischenstehen"
unbegreiflich ist, so ist auch die Gottesmutter selbst unbegreiflich.
Sie ist "die für die menschlichen Gedanken nicht erreichbare
Erhabenheit". Sie ist "die auch für Engelsaugen
unerforschliche Tiefe". Sie ist "höher als der
Himmel" und zugleich "breiter als der Himmel".
Sie ist "lobwürdiger wie die Cherubim und unvergleichlich
herrlicher wie alle Seraphim". Sie ist "Königin
der Engel". Von Ihr wird gesagt: "Sie ist erschienen,
die Reine, die Allerherrlichste, stehend über allen flammenaugigen
Seraphim." Die Trägerin der Reinheit, die Erscheinung
des Heiligen Geistes, der Urstand der geistigen Schöpfung,
die Urquelle der Kirche, die über-englische "gottmenschliche
Jungfrau". - Sie ist nicht Eine unter vielen (innerhalb
der Kirche); und sogar in der Kirche der Heiligen ist Sie nicht
prima inter pares, sondern eine Ausnahme, ein außerordentlicher
Mittelpunkt im Kirchenleben. Sie ist das Herz Jesu. Sie ist die
Kirche selbst. Der hl. Nikolaus Kavasila, der Archiepiskop zu
Thessalonik - einer der verehrtesten Interpreten der göttlichen
Liturgie (er lebte im XIV. Jahrhundert) - besaß eine erfahrungsmäßige
Erkenntnis der geheimnisvollen Tiefe der Liturgie; er sagt: "Wenn
jemand die Kirche Christi gesehen hätte in jener Gestalt,
in welcher sie mit Christus Eins ist und an seinem Leib teilnimmt,
so hätte er sie nur als den Leib Christi (nicht als etwas
anderes) gesehen." Wenn er aber dazu die allerheiligste
und hochgebenedeite Jungfrau Maria geschaut hätte, so hätte
er sie nicht anders erblickt alswie als das Herz Christi. Sie
ist das Zentrum des geschöpflichen Lebens, jener Punkt,
wo die Erde den Himmel berührt. Sie ist die Auserwählte,
die Himmelskönigin und um so mehr die Königin der Erde:
"Ihr, der von dem urewigen König über jede Kreatur
auserwählten Königin des Himmels und der Erde - bringen
wir die Ihr gebührende Verehrung und Danksagung und flehen
wir Sie an im Glauben und voller Entzückung!"
Sie besitzt die kosmische Gewalt. Sie ist "die Heiligung
aller irdischen und himmlischen Elemente", "die Segnung
aller Jahreszeiten". Sie ist "die Herrin über
alles". Sie ist die Beherrecherin des Weltalls; deshalb
ruft jeder Gläubige: "Ich habe keinen Trost außer
Dir, 0 Herrin der Welt; Du - meine Hoffnung und Fürsprecherin
für deine Getreuen!"
Hier gebe ich nur die zufällig in mein Gedächtnis kommenden
Ausdrücke aus der kirchlichen Literatur wieder. Eine systematische
Übersicht des unermeßlich reichen Inhaltes der liturgischen
Literatur zu geben, muß die Aufgabe einer speziellen wissenschaftlichen
Disziplin werden, welche bei uns leider gar nicht besteht. Ich
versuchte anzudeuten, wie Ich selbst diese Schriftliteratur verstehe;
es ist möglich, daß ich mich irre. Es wäre gut,
wenn du mir zeigen könntest, wo. Jedenfalls wird an der
Entwicklung der Gedanken dadurch nichts geändert, weil alles,
was hier über die Gottesmutter gesagt ist, mehr aus einem
persönlichen Grunde, als aus einer strengen Notwendigkeit,
im Sinne des Aufbaues meines Gedankens, gesagt wurde.
[Weiter
geht Florenskij über zu einer ausführlichen Beschreibung
und einer im Sinne der Sophiologie tiefsinnigen Interpretation
auch einiger bedeutenden Urkunden des Altchristentums, nämlich
des Privatbriefes von Johannes dem Evangelisten an den heiligen
Starez Ignatius Theophorus (von Antiochia) über die Jungfrau,
des Briefes vom heiligen Ignatius Theophorus an den Apostel Johannes,
des Briefes vom heiligen Ignatius Theophorus an die heilige Jungfrau
Maria und des Antwortbriefes von der heiligen Jungfrau Maria,
wie auch des Briefes vom heiligen Dionysius Areopagita an den
Apostel Paulus und endlich der Beschreibung des äußeren
Aussehens der heiligen Jungfrau durch den Kirchenhistoriker Nikephoros
Kallistos und den heiligen Ambrosius von Mailand. Nach seiner
Interpretation dieser Urkunden, deren historische Gültigkeit
er annimmt, kommt Florenskij zum folgenden Schluß:]
Obwohl die Werke des hl. Ambrosius ein moralisch-didaktisches
Ziel verfolgen, ist bei ihm überall hinter den moralischen
Begriffen eine gewisse Ontologie fühlbar. Die Kirche, der
Himmel, die Jungfrau Maria sind, obwohl nicht Synonima, so doch
(ontologisch betrachtet) Namen, weiche einander fast ersetzen.
Jedoch, erwähnen wir einige Stellen aus den Schriften des
Heiligen: ,,Herrlich ist Maria", ruft er aus, "welche
das Zeichen der heiligen Jungfräulichkeit versinnbildet
und die Fahne der unbefleckten Reinheit zu Christus erhebt. Die
Jungfrau Maria ist unbegreiflich in Ihrer Erhabenheit über
die gesamte Natur. Sie steht über der Natur. Ich frage:
Wer kann durch bloß menschliche Vernunft Sie erfassen,
welche sogar die Natur selbst nicht ihren Grenzen unterwerfen
konnte? Wer kann mit natürlichen Worten das ausdrücken,
was die Ordnung der Natur übersteigt? Sie rief vom Himmel
das, was Sie selbst auf Erden nachbildete. Nicht unverdient erhielt
Sie das Bild des Himmelslebens, Sie, die Ihren Bräutigam
nur im Himmelreiche fand. Sie durchschritt Wolken, Himmel, Engel
und Gestirne, Sie fand das Wort Gottes im Schoße des ewigen
Vaters selbst und vereinigte sich durch die Kraft ihrer ganzen
Seele mit demselben... Sie besaß so viel Gnade, daß
Sie nicht nur in Sich selbst die Gabe der Jungfräulichkeit
bewahren konnte, sondern auch die Macht besaß, die Offenbarungen
der Reinheit in denen hervorzurufen, auf welche Sie blickte."
Weiter erwähnt der hl. Ambrosius als ein Muster der jungfräulichen
Keuschheit den hl. Johannes den Täufer - "welcher,
als er nur drei Monate alt war, durch die Gottesmutter (zur Askese)
vorbereitet wurde, mit dem Öl Ihrer heiligen Anwesenheit
und dem Wohlgeruch Ihrer Keuschheit" - und den hl. Johannes
den Theologen - "deshalb wundere ich mich nicht", sagt
der Heilige weiter, "daß letzterer, vor dessen Angesicht
der Palast der himmlischen Mysterien offen stand, mehr über
die göttlichen Geheimnisse aussagte, als die anderen Evangelisten."
- "0 Reichtümer der marianischen Jungfräulichkeit!
Sie erglühte als ein schlichtes, irdenes Gefäß
und ergoß die Gnade Christi auf die Erde gleich wie eine
Wolke!" ruft Ambrosius. "Diese Gnade ist ein geistiger
Regen, der alle fleischliche Gluten löscht und die innersten
Gedanken betauet, sie ist eine Gabe des jungfräulichen Lebens.
Aus dem Leben Mariae, wie aus einem Spiegel, leuchtet das Bild
der Keuschheit und die Schönheit der Tugend hervor. Das
könnet Ihr (d.h. Jungfrauen) als Vorbild für Euer Leben
nehmen. Hier sind gleichwie auf einer Zeichnung die Gebote der
Reinheit dargestellt. Sie ist das Bild der Jungfräulichkeit
und Ihr einziges Leben ist eine Belehrung für alle."
Die Keuschheit aber ist alles, das ganze Wesen der Kirchlichkeit.
"Die Reinheit erschuf sogar die Engel. In der Tat, wer
die Keuschheit bewahrt, ist ein Engel; wer sie verletzt, ist
ein Teufel. Von Ihr erhielt sogar die Religion ihren Namen. Die
Jungfrau ist jene, die sich mit Gott vereinigt; die Sünderin
aber jene, die die Götter erzeugte." - Das also, was
den Menschen zum Glied der Kirche macht, erhält er von der
Gottesmutter. Jedoch diese Gnade (sagt man gewöhnlich) wird
uns durch die Kirche gegeben. Welches Verhältnis besteht
denn zwischen der Jungfrau Maria und der Kirche? Maria ist eben
die Trägerin der Kirche. Alles, was der Prophet über
die Kirche vorausgesagt hat, "ist auch vollständig
auf die hl. Jungfrau Maria anwendbar", und nicht nur ,anwendbar',
sondern direkt (unter dem Bilde der Kirche) über Maria vorausgesagt".
Das ganze "Hohelied" erklärt der hl. Ambrosius
bald in bezug auf die Kirche, bald in bezug auf die Gottesmutter,
bald in bezug auf die beiden zugleich, und er stellt sogar nach
der Erklärung von einigen Stellen ohne Weiteres das Wort
"Also" und schließt von der Kirche auf die Jungfrau.
Die Kirche ist eben die Jungfrau, gleichwie die Jungfrau - die
Kirche ist. "Herrlich ist die Kirche unter den Jungfrauen,
weil Sie selbst eine fleckenlose Jungfrau ist." Die Jungfräulichkeit
ist eben die Kirchlichkeit. Der hl. Ambrosius sagt, mit dem Namen
"Maria" offen spielend, daß schon im Alten
Bunde Maria (Exod. 15, 20) "Ecclesiae specimen" war.
Christus - der Bräutigam und der Gatte der Kirche - ist
auch "der Bräutigam der jungfräulichen Keuschheit".
Die Heimat der Keuschheit ist im Himmel. "Die Kirche ist
eben die Jungfrau in Kraft ihrer Keuschheit und die Mutter wegen
ihrer (geistigen) Nachkommenschaft."
Solches ist die Gottesmutter in "Ihrer unfaßbaren
Erhabenheit über jede Kreatur Gottes".
Jedoch ist es unmöglich, diese "unfaßbare Erhabenheit"
durch Beschreibungen und Darstellungen zu erschöpfen. Die
Gestalt der "unbräutlichen Braut", wie
in einem kristallenen Prisma gebrochen, wirft in einem bestimmten
Zeitpunkt nur eine Art von Gnadenstrahlen; die Ikonographie gibt
eine Vielheit von verschiedenen Aspekten der sophiistischen
Schönheit der Jungfrau Maria. Jede echte Ikona der Gottesmutter,
eine sog. "manifestierte" ("javlennaja")
d.h. eine durch Wunder angezeichnete Ikona, die sozusagen eine
Bestätigung und eine Anerkennung der hl. Jungfrau-Mutter
besitzt, ist nur eine einseitige Abbildung, nur ein heller Fleck
eines zufälligen Strahles der Gnadenreichen und nur
einer Ihrer farbenreichen Namen. Das erklärt das Bestehen
der Vielheit, der "javlennj" Ikonen, wie auch
den Wunsch, vor vielen verschiedenen Ikonen zu knien. Die Benennungen
einiger Ikonen drücken teilweise ihr geistiges Wesen aus,
und ich erwähnte schon manche solche typische Benennungen
von den Aspekt-Ikonen. Die andren Benennungen sind ziemlich zufällig,
weil sie dieselben ursprünglich von irgendeiner Ortschaft
oder von einem Ereignis erhielten, die mit der Ikona nur äußerlich
verknüpft waren. Der Sinn solcher Ikonen kann nur durch
eine unmittelbare Kontemplation erkannt werden, und deshalb wäre
es sinnlos, hier die Benennungen von solchen Ikonen mitzuteilen.
Inzwischen will ich mich noch auf ein außerordentlich wichtiges
ikonographisches Thema konzentrieren, welches unter dem Namen
der "Sophia der göttlichen Allweisheit" bekannt
ist. [...]
Die Ikona der Sophia der göttlichen Allweisheit besteht
in vielen Varianten, und das allein ist schon (bei der Sophia-Ikonographie)
ein Beweis dafür, daß eine echte religiöse, aus
der Volksseele hervorgegangene Schöpferkraft da ist, und
daß nicht bloß eine Nachahmung der ikonographischen
Formen hier vorhanden ist. Um aber den inneren Inhalt dieses
Schöpfens zu erfassen, ist es nötig, diese Variante
nicht als getrennt voneinander, sondern einheitlich zu nehmen,
weil sie alle die Aspekte einer Idee sind.
Das Ziel
unsres Exkurses ist die Klärung der Idee der Sophia
(unter allen möglichen Namen zu verschiedenen Zeitepochen).
Deswegen hat es kein besonderes Interesse, - den Terminus (Sophia)
selbst in seinem allseitigen Inhalt zu interpretieren. Es
besteht sicher kein Zweifel, daß bei den hl. Vätern
sehr oft unter dem Worte Sophia das Wort Gottes gemeint
wird, nämlich die zweite Hypostase der allerhl. Trinität.
Dasselbe gilt auch in bezug auf die liturgischen Gebete und Gesänge.
Diese allgemein bekannte Sache durch Zitate zu beweisen, hieße
sich in die geöffnete Türe drängen. Unser Ziel
(wiederholen wir) ist die Betrachtung nur einer besonderen Auffassung
(Idee) von Sophia; außerdem beschränken wir uns
hier auf die Materialien der Ikonographie, weil das, was
den Namen der Sophia bei den hl. Vätern trägt, nicht
immer mit dem Inhalte dieses Begriffes in der Ikonographie zusammenfällt,
die einer viel späteren Zeit angehört; und umgekehrt
wird bei den hl. Vätern die Sophia der Ikonographie nicht
immer unter diesem Namen gedacht.
Jedenfalls ist es notwendig, wenigstens die typischen Hauptvarianten,
zugleich zu nehmen. Mit Ausnahme von einigen sehr seltener und
besonders stehenden Varianten, soll man nur drei Varianten
als typisch betrachten, weil alle übrigen (was ihre Form
anbetrifft) diesen drei Haupttypen ähnlich sind.
Die drei typischen Perewoden kann man aber folgendermaßen
charakterisieren: 1. Typus des Engels, 2. Typus der Kirche
(ab und zu ,,Kreuz-Sophia" genannt), 3. Typus der Gottesmutter;
oder auch nach jenen Städten, wo sich die besten Muster
solcher Ikonen befinden: 1. die Nowgorodska-Sophia, 2.
die Jaroslawska-Sophia und 3. die Kiewska-Sophia.
[...]
[Es folgt
bei Florenskij eine ausführliche Beschreibung aller drei
Perewoden der Sophia-Ikonen. Wir geben hier mit einigen Kürzungen
nur die Beschreibung der Nowgoroder und der Kiewsker Ikona.]
Der Inhalt dieses höchsten Heiligtums der großen Nowgorod
ist, wie folgt: die zentrale Figur der Komposition bildet eine
engelhafte Figur, mit dem königlichen Dalmatik und mit Barmen
und Omophorion bekleidet Ihr langes Haar ohne Locken fällt
auf Ihre Schulter. Ihr Antlitz und Ihre Hände haben die
Farbe des Feuers; hinter Ihrem Rücken sind zwei flammende
Flügel; auf dem Haupte hat Sie eine goldene Krone m Form
einer Mauer mit Zinnen. In Ihrer rechten Hand hält
Sie den goldenen Kaduceus, in Ihrer linken eine geschlossene
Rolle, die Sie an Ihr Herz drückt; um Ihr Haupt leuchtet
der goldene Nimbus, über den Ohren sind sichtbar die Toroki
(oder "Sluchi"). Es ist Sophia! Sie ist dargestellt,
auf einem doppelten Kissen (Mutaka) sitzend, das auf einen prächtigen
Thron gelegt ist; dieser hat vier Füße und
stützt sich auf sieben feurige Säulen. Die Füße
der Sophia ruhen auf einem großen Steine. Der ganze Thron
befindet sich inmitten eines achtstrahligen goldenen Sternes,
der auf einem Hintergrund aus blauen und grünlichen,
mit vielen goldenen Sternchen besetzten konzentrischen Ringen
leuchtet. Dieser achtstrahlige Stern ist jedoch nicht immer da.
[...]
Die Flügel der Hagia Sophia deuten auf Ihre geheimnisvolle
besondere Beziehung zum Himmelreich. Die Flamme der Flügel
und der Gestalt ist eine Hinweis auf die Geistträgerschaft,
auf die Fülle der Geistigkeit. Der Kaduceus in der
rechten Hand (doch nicht der Stab mit dem Kreuze oder mit dem
Monogramm Christi) weist auf die theurgische Macht über
die Seelen, die Psychopompie, hin. Die Rolle in
der linken Hand, welche Sophia an das Herz drückt wie au
das Organ der höchsten Weisheit, ist eine Hindeutung auf
die verborgensten Mysterien. Das königliche Gewand und
der Thron deuten auf die königliche Macht.
Die Krone (in der Form einer Stadtmauer) - das übliche
Attribut der Mutter Erde in ihren verschiedenen Modifikationen
- bedeutet wahrscheinlich ihren Schutz für die gesamte Menschheit
als civitas. Der Stein unter den Füßen
ist eine Hindeutung auf die unerschütterliche Grundfeste.
Toroki (oder "Sluchi") hinter den Ohren, ein
Stirnband, welches die Haare bindet und die Ohren zum besseren
Hören freiläßt' ist ein Hinweis auf die Feinheit
des Wahrnehmungsvermögens und das Offensein für die
höheren Inspirationen. "Toroki" - ist ein
ikonographisches Symbol und eine Bezeichnung des Organs für
das Hören des Göttlichen. [...]
Endlich deuten die himmlischen. Sphären, welche Sophia umgeben
und voller Sterne sind, auf die kosmische Macht der Sophia,
auf Ihre Herrschaft über das ganze Universum, Ihre Kosmokratie.
Die türkisblaue Farbe von diesen Sphären symbolisiert
die Luft und den Himmel, noch mehr: den geistigen Himmel, die
allerhöchste Welt, in deren Mittelpunkt Hagia Sophia wohnt.
[...] Blau ist die Farbe, welche natürlicherweise zu Hagia
Sophia gehört und durch sie zur Trägerin der Sophia,
zur allerheiligsten Jungfrau.
[...]
Der Inhalt der Kiewska-Sophia (sie zeigt viele Analogien
mit der "Jaroslavska Sophia") ist wie folgt:
Auf dem Amvone mit sieben Stufen ist ein Kivorij mit, sieben
Säulen aufgestellt, hinter welchem; die Gottesmutter steht.
In Ihrem linken Arm hält Sie das Jesuskind, in dem rechten
den Kaduceus (ich beschreibe hauptsächlich die Ikona der
"Optina Pustin" , oder ab und zu das lateinische
Kreuz. Unter Ihren Füßen befindet sich - die Mondsichel,
auf einer Wolke ruhend. Unten, auf der Rotonde steht die Inschrift:
"Die Allweisheit schuf sich ein Haus usw." Auf
einer jeden der Säulen sind drei Inschriften: die erste
- die Benennung der geistigen Gnadengaben, die zweite - die symbolische
Darstellung derselben, die dritte - der hierzu passende Text
aus der "Offenbarung". Auf den Stufen der Amvon
stehen die Namen der sieben Tugenden, auf der "Stufe des
Glaubens" aber die Namen der sieben Propheten. Über
die Rotonde erhebt sich Gott Vater, und über Ihn - der Heilige
Geist. Ringsum stehen die sieben Erzengel, rechts -Michael
mit dem flammenden Schwerte, Uriel mit dem Blitz,
Rafael mit der Myrrhe in einem Alabastergefäß;
links - Gabriel mit der Lilie, Selaphiel mit dem
Rosenkranz, Jehudiel mit der Krone, Barahiel mit
Blumen auf einem weißen Hintergrunde.
Jedoch am bemerkenswertesten ist die bekannte Komposition der
Sophia-Ikona im Ikonostas der Kathedrale der Hagia Sophia in
Kiew, der "Mutter aller russischen Kirchen".
Diese Ikona hat (wie es scheint) einen späteren Ursprung
(Mitte des 18. Jahrhunderts), ihre Komposition gehört aber
dem 16. Jahrhundert an, was aus ihrer treuen Kopie in der Kathedrale
von Tobolsk folgt, welche bei deren Erbauung, d.h. zur
Zeit des Patriarchen Philarethes, gemalt wurde. Diese Komposition,
wie überhaupt die Ikonographie Südrußlands bildete
sich unter offenkundig katholischem Einfluß: die Gottesmutter
ist ohne Schleier dargestellt, sie hält in Ihrer Hand das
lateinische Kreuz, hinter Ihr ist eine Kolonnade usw.
Die auf der Ikona dargestellte Gottesmutter hält in der
rechten Hand den blühenden Stab mit einem schlangenförmigen
Griff, d.h. den Kaduceus oder vielleicht auch den bischöflichen
Stab; in der linken Hand aber hält Sie das lateinische Kreuz.
Christus ist in Ihrem Schoß dargestellt; seine rechte Hand
"segnet", seine linke Hand erhebt die "Derschava"
(das Sinnzeichen der königlichen Macht.) Hinter dem Rücken
der Gottesmutter sind zwei ausgestreckte Flügel, unter Ihren
Füßen ist der sichelförmige Mond, der sich auf
dem siebenköpfigen Tiere befindet.
Es ist nötig noch zu bemerken, daß die hier beschriebene
Ikona in bezug auf ihre Komposition nicht identisch ist mit ihrer
Risa.
Die Komposition der Kiewska-Sophia ist also ein modifizierter
Typus der gekrönten Gottesmutter, eine synkrete Zusammenfassung
der Krönung der Gottesmutter und des Typus der "apokalyptischen
Frau". Mit anderen Worten, die Gottesmutter ist hier
beleuchtet mit dem doppelten Lichte: mit dem Lichte der irdischen
und dem Lichte der himmlischen Kirche.
[...]
Das ist die Interpretation der Sophia durch unsere Vorfahren.
Sogleich zeigt sich der Unterschied derselben mit der Interpretation
der byzantischen Griechen. Das Byzanz, mit der abstrakt-theologischen
Spekulation beschäftigt, verstand Sophia von der Seite Ihres
spekulativ-dogmatischen Inhaltes. Sophia (in der Auffassung der
Griechen) ist vorzugsweise ein Gegenstand der Kontemplation.
Aber nachdem unsere Vorfahren die fertigen, dogmatischen
Formeln von Byzanz übernommen hatten, hingen sie mit ihrer
ganzen Seele an der Großtat und an dem Ideal der
Keuschheit; sie verehrten und liebten vorzugsweise die Reinheit
und Heiligkeit der individuellen Seele. Dann wandte
sich Sophia zu ihrem Bewußtsein mit der anderen Seite Ihres
Wesens, mit dem Aspekte der Keuschheit und der Jungfräulichkeit,
der geistigen Vollkommenheit und der inneren Schönheit.
Endlich lenkten unsere Zeitgenossen, von der Einheit aller
Kreaturen in Gott träumend, ihre Gedanken auf die Idee der
mystischen Kirche. Dann wandte sich Sophia zu ihnen mit
Ihrem dritten Aspekte - mit dem Aspekte der Kirche.
Feodor Bucharew, F. Dostojewskij und W. Solowjew, die sog.
"Neo-christen", die katholischen Modernisten usw. -
das sind die Strömungen, welche wiederum ihren symbolischen
Ausdruck finden in den Sophia-Ikonen. [...]
Noch kürzer gesagt, Sophia ist das Gedächtnis Gottes,
in deren heiligem Schoß alles ist, was da ist, und ohne
welche nur Tod und Wahn bestehen.
[...]
Das sind drei Hauptaspekte der Sophia-Idee. Von diesen
drei Aspekten und den drei Typen ihrer Auffassung erreicht zu
verschiedenen Zeitepochen und in verschiedenen Seelen ein jeder
der Reihe nach seine Vorherrschaft. Das Schweben der theologischen
Kontemplation, die Großtat der inneren Keuschheit und die
Freude der Alleinheit - dieses dreifache Leben des Glaubens,
der Hoffnung und der Liebe - zerfällt im menschlichen Bewußtsein
in die einzelnen Momente des Lebens und erreicht die Einheit
nur in dem Tröster (Heiligen Geist) wieder. Wir sollen nicht
vergessen, daß nur diese Einheit die Kraft und der
Sinn eines jeden dieser Momente ist. Nur in der Überwindung
der fleischlichen Vernünftelei tritt, einem ewigen Schneegipfel
gleich, "die Säule der Wahrheit" aus dem grauen
Morgendunst hervor.
Die Frage besteht darin, bei welchen nämlichen Lebensbedingungen
die Großtat dieser Selbstüberwindung emporsteigt.
Diese Bedingungen bestehen in der "Notwendigkeit",
sich in seiner Seele eine vorläufige, teilweise Überwindung
der Fleischlichkeit vorzustellen und die Seele dadurch zur Großtat
zu bewegen.
Sophia - diese wahre Schöpfung, oder die Schöpfung
in Wahrheit, erscheint zunächst als eine Hindeutung auf
die verklärte, vergeistigte Welt, als eine den anderen unsichtbare
Erscheinung des Himmlischen in dem Irdischen. Diese Offenbarung
geschieht in der persönlichen, offenherzigen Liebe zweier
Seelen - in der Freundschaft, wenn der Liebende im Voraus,
ohne seine Großtat, die Überwindung der
"ich-Identität" erreicht, die Aufhebung der Grenzen
des eigenen "Ich", das Heraustreten aus sich selbst
und das Finden seines eigenen "Ich" in dem "Ich"
eines Anderen - des Freundes. Die Freundschaft als eine
geheimnisvolle Geburt des "Du" - ist jene Umgebung,
wo die Offenbarung der Wahrheit entsteht.
[Übersetzung
Nikolai von Bubnoff, mit Ergänzungen von Lew Kobilinski-Ellis]
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