Von dein Heiligen
Geist, von dem Geist der Wahrheit wird der Kreatur die Wahrheit
verkündet. Hier - wenn das Bewußtsein sich über
die "doppelte Schranke des Raumes und der Zeiten" erhebt
und in die Ewigkeit ein geht, hier, in diesem Augenblick der
Verkündung, fallen der die Wahrheit Verkündende und
die verkündete Wahrheit auf jede Art zusammen. In der Erscheinung
des Geistes der Wahrheit, d.h. in dem Tabor-Licht, sind die Form
der Wahrheit und der Inhalt der Wahrheit - Eines. Aber das von
der Kreatur aufgenommene und angeeignete Wissen der Wahrheit
steigt herab in die Zeit und in den Raum - in die Zeit der persönlichen
und in den Raum der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit. Dadurch
wird die unmittelbare Einheit der Form und des Inhalts zweimal
auseinandergerissen, und das Wissen der WAHRHEIT wird
zum Wissen um die WAHRHEIT. Das Wissen aber um die WAHRHEIT ist
die Wahrheit.
Es ist unzweifelhaft, daß neben der WAHRHEIT notwendig
auch die Wahrheit besteht, sofern nämlich neben Gott
die Kreatur existiert. Das Bestehen der Wahrheit
ist nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache selbst des
Daseins der Kreatur als solcher, sofern diese durch die persönliche
Mannigfaltigkeit in der Zeit, und durch die gesellschaftliche
- im Raume liegt. Das Vorhandensein der Wahrheit ist gleich dem
Vorhandensein der Kreatur. Aber existiert denn die Kreatur?
Vom philosophischen Standpunkt kann eine solche Frage im voraus
nicht beantwortet werden.
Die Kreatur ist eben deshalb Kreatur, weil sie kein unbedingt
notwendiges Wesen ist und weil folglich das Dasein der Kreatur
nicht nur aus der Idee der Wahrheit, dieses ersten Bewegers alles
Begreifens, in keiner Weise ableitbar ist, sondern sogar auch
nicht aus dem Faktum des Bestehens der WAHRHEIT, aus Gott.
Dem Akosmismus Spinozas und dem Pantheismus der meisten Denker
zum Trotz kann man aus der Natur Gottes nichts über das
Dasein der Welt erschließen, denn der Akt der Welt = Schöpfung
- auf welche Art wir ihn immer begreifen mögen: als augenblicklich
und historisch erreichbar, oder allmählich und auf die ganze
geschichtliche Zeit verteilt, oder sich in einem unendlichen
zeitlichen Prozeß offenbarend, oder, schließlich,
als vorzeitlich - muß bei aller Mannigfaltigkeit der Auffassungsmöglichkeiten
unabänderlich als frei gedacht werden, d.h. als nicht
mit Notwendigkeit aus Gott hervorgehend.
Das Dasein der Kreatur, d.h. unseres Unvermögens, ist, ich
wiederhole es, durch keine auch noch so verfeinerten Erörterungen
ableitbar, und wenn die Denker diese Ableitung trotzdem versuchen,
so kann man im voraus behaupten, daß sie entweder ein logisches
Kunststück vollbringen, oder die von Gott gegebene Kreatürlichkeit
der Kreatur vernichten, indem sie dieselbe - die freie, obwohl
unvermögende Persönlichkeit - von der Stufe des gottähnlichen
schöpferischen Seins auf das Niveau des abstrakten Seins
herabsetzen - zum Attribut oder Modus der Gottheit machen. Das
Sein der Wahrheit ist demnach nicht ableitbar, sondern
nur in der Erfahrung aufzeigbar: in der Erfahrung des Lebens
erkennen wir sowohl unsere Gottähnlichkeit als auch unser
Unvermögen; nur die Lebenserfahrung offenbart uns unsere
Persönlichkeit und unsere geistige Freiheit. Es liegt nicht
in der Macht der Philosophie, das Faktum der Wahrheit
abzuleiten; aber wenn es bereits der Philosophie gegeben
ist, so ist es ihres Amtes, nach den Eigenschaften, der Zusammensetzung,
der Natur der menschlichen - wiewohl von Gott, so doch eben in
der Menschheit und der Menschheit gegebenen - Wahrheit zu fragen.
Anders gesagt, die Frage nach dem formalen Gefüge der Wahrheit,
nach ihrer verstandesmäßigen Gestaltung ist rechtmäßig,
während ihr Inhalt die WAHRHEIT selbst ist. Auch das wäre
noch eine schickliche Frage: wie stellt sich die Göttliche
WAHRHEIT dem menschlichen Verstande dar?
Um die Frage nach der logischen Struktur der Wahrheit zu beantworten,
muß man im Auge behalten, daß die Wahrheit - Wahrheit
eben von der WAHRHEIT ist, und nicht von etwas anderem, d.h.
in irgendeiner Korrespondenz mit der WAHRHEIT steht. Die Form
der Wahrheit ist nur dann fähig, ihren Inhalt - die WAHRHEIT
- zusammenzuhalten, wenn sie irgendwie, wenn auch nur
symbolisch, etwas von der WAHRHEIT in sich hat. Anders gesagt:
die Wahrheit muß notwendig ein Emblem irgendeiner
fundamentalen Eigenschaft der WAHRHEIT sein. Noch anders ausgedrückt:
indem sie hier und jetzt ist, muß sie ein
Symbol der Ewigkeit sein.
Obwohl in der Kreatur gegeben, muß die Wahrheit dennoch
ein Polygramm der Gottheit sein. Obwohl diesseitig, muß
sie dennoch so sein, als wenn sie es nicht wäre. Mit Farben
des Bedingten muß sie die Umrisse des Unbedingten zeichnen.
In dem zerbrechlichen Gefäß der menschlichen Worte
muß der ewig unzerstörbare Diamant der Gottheit enthalten
sein. Die Kreatur wird hin und her geworfen im sturmischen Wirbel
der Zeit; aber die Wahrheit muß verbleiben. Die
Kreatur wird geboren und stirbt, und Generationen folgen den
Generationen; die Wahrheit aber muß unvergänglich
sein. Die Menschen streiten miteinander und widerlegen einander;
die Wahrheit aber soll unwiderlegbar und über alle Widerlegungen
erhaben sein. Die menschlichen Meinungen wechseln von Land zu
Land und von Jahr zu Jahr; die Wahrheit aber ist überall
und immer die eine, sich selbst gleiche. Kurzum: die Wahrheit
ist "das, was überall, immer und von allen
geglaubt wurde, weil nur das in Wirklichkeit und im eigentlichen
Sinne universal ist, was, wie die Bedeutung und der Sinn des
Wortes selber zeigen, soweit möglich überhaupt alles
umfaßt". Dieser Forderung aber können wir nur
unter der Bedingung genügen, "wenn wir der Allgemeinheit,
der Überlieferung und der Übereinstimmung folgen".
Jede Wahrheit muß eine unbedingte Formel sein.
Doch wie ist das möglich? Wie kann man aus dem bedingten
Material des menschlichen Verstandes eine unbedingte Formel
der Göttlichen Wahrheit zusammenfügen?
[...]
Die Unbedingtheit der Wahrheit von der formalen Seite kommt darin
zum Ausdruck, daß sie von vornherein ihre Negation
hinzudenkt und aufnimmt und den Zweifel an ihrem Wahrheitscharakter
mit der Aufnahme dieses Zweifels in sich selbst bis zu
dessen äußerster Form beantwortet. Die Wahrheit ist
gerade darum Wahrheit, weil sie keinerlei Widerlegung fürchtet;
sie fürchtet sie aber darum nicht, weil sie sich selber
stärker widerspricht, als jede denkbare Verneinung tun könnte;
aber diese ihre Selbst-Verneinung verbindet die Wahrheit mit
der Behauptung. Für den Verstand ist die Wahrheit ein
Widerspruch, und dieser Widerspruch wird offenbar, sobald
die Wahrheit eine Formulierung in Worten erhält. Jeder von
den sich widersprechenden Sätzen ist in dem Wahrheitsurteil
enthalten, und das Vorhandensein eines jeden von ihnen ist daher
mit dem gleichen Grade an Überzeugungskraft - mit Notwendigkeit
beweisbar. Die Thesis und die Antithesis bilden zusammen
den Ausdruck der Wahrheit. Anders gesagt: die Wahrheit ist eine
Antinomie und kann es nicht nicht sein.
Übrigens soll sie auch gar nichts anderes sein, denn man
kann im voraus behaupten, daß die Erkenntnis der Wahrheit
ein geistiges Leben erfordert und folglich eine asketische Tat
ist. Die asketische Tat des Verstandes ist aber der Glaube, d.h.
die Selbst-Verleugnung. Der Akt der Selbstverleugnung des Verstandes
ist eben das Aussprechen der Antinomie. In der Tat kann auch
nur eine Antinomie geglaubt werden; denn jedes nichtantinomische
Urteil wird von dem Verstand einfach anerkannt oder einfach abgelehnt,
da es die Grenze seiner egoistischen Isolierung nicht überschreitet.
Wenn die Wahrheit nicht - antinomisch wäre, so hätte
der Verstand, sich immer in seiner eigenen Sphäre drehend,
keinen Stützpunkt, sähe kein außerrationales
Objekt und hätte folglich keinen Beweggrund, die Glaubenstat
zu beginnen. Dieser Stützpunkt ist - das Dogma. Mit dem
Dogma beginnt auch unsere Erlösung, denn nur das Dogma beschränkt,
da es antinomisch ist, unsere Freiheit nicht und gibt dem freiwilligen
Glauben und dem arglistigen Unglauben freie Bahn. Man kann ja
niemanden zum Glauben zwingen, wie man auch niemanden
zum Unglauben zwingen kann, nach dem Worte des hl. Augustin:
"Nemo credit nisi volens (niemand glaubt anders als freiwillig)".
[...]
Das Wissen um den Widerspruch und die Liebe zu dem Widerspruch
ist, neben der antiken Skepsis, wie es scheint, das Wichtigste,
was das Altertum gegeben hat. Wir sollen nicht, wir dürfen
nicht den Widerspruch mit dem Teig unserer Philosopheme
verkleistern! Mag der Widerspruch so tief bleiben, wie er ist.
Wenn die erkennbare Welt aufgespalten ist und wir ihre Spalten
in Wirklichkeit nicht beseitigen können, so sollen
wir sie auch nicht verdecken. Wenn die erkennende Vernunft zersplittert,
wenn sie kein Stück aus einem Guß ist, wenn sie sich
selber widerspricht - so sollen wir wiederum nicht den Anschein
erwecken, daß dem nicht so sei. Es ist längst an der
Zeit, die kraftlose Anstrengung des menschlichen Verstandes,
die Widersprüche auszugleichen, den welken Versuch der Anspannung
durch ein freimütiges Bekenntnis der Widersprüchlichkeit
abzuwehren.
Das "Buch Hiob" besteht ganz aus diesem verdichteten
Erlebnis des Widerspruchs, ist ganz auf der Idee der Antinomienhaftigkeit
aufgebaut. Gott "erinnert uns hier daran, daß der
Mensch kein Maß der Schöpfung" sei, daß
"das Universum nach einem Plane aufgebaut sei, der die menschliche
Vernunft unendlich übertrifft". Gottes Wünsche
und Gottes Taten sind dem Menschen wesentlich unbegreiflich und
scheinen ihm daher unvernünftig (Hiob 23): "Wir begreifen
Ihn nicht - Er sieht nicht auf die Weisen und Verständigen."
(Hiob 37, 23-24) "Alles ist ein Geheimnis, in allem ist
Gottes Geheimnis... Daß es aber ein Geheimnis ist, das
ist um so besser: furchtbar ist es dem Herzen und wunderbar;
und diese Furcht dient zur Freude des Herzens... Um so herrlicher
ist es noch, als es ein Geheimnis ist." (Dostojewski) Das
Geheimnis der sittlichen Unordnung erschüttert Hiob durch
seine Majestät, seine Freunde aber bemerken es nicht einmal
(Hiob 21). "Leget den Finger auf eure Lippen" - das
ist die Geste des Schweigens und des Geheimnisses - jene Geste,
mit der auf den Ikonen der Seher der Geheimnisse Johannes häufig
dargestellt wird.
Die Sakramente der Religion sind keine Geheimnisse, die man nicht
ausposaunen soll, keine konventionellen Parolen von Verschwörern,
sondern unausdrückbare, unaussagbare, unbeschreibbare Erlebnisse,
welche in das Wort nicht anders eingehen können als in Gestalt
eines Widerspruchs, welche zugleich "ja" und "nein"
sind. Daher kleidet sich die Verzückung der Seele, wenn
sie zum Kirchengesang wird, in die Hülle eines eigenartigen
Spieles mit Begriffen. Der ganze Kirchen - Gottesdienst, insbesondere
die kirchlichen Lobgesänge, sind erfüllt vom überschäumenden
Scharfsinn antithetischer Nebeneinanderstellungen und antinomischer
Behauptungen. Der Widerspruch! Er ist immer ein Geheimnis der
Seele - ein Geheimnis des Gebetes und der Liebe. Je mehr wir
uns Gott nähern, um so deutlicher werden die Widersprüche.
Dort, in dem himmlischen Jerusalem sind sie nicht. Hier aber
- sind Widersprüche in allem, und sie werden weder durch
soziale Einrichtungen, noch durch philosophische Argumente beseitigt.
Etwas Großes, längst Ersehntes und dennoch völlig
Unerwartetes - die große ungeahnte Freude - wird plötzlich
erscheinen, den ganzen Kreis des irdischen Daseins erfassen,
ihn aufrütteln, den Himmel wie eine Bücherrolle zusammendrehen,
die Erde reinwaschen, neue Kräfte geben, alles erneuern,
alles verwandeln, das Einfachste und Alltäglichste im blendenden
Strahlenglanz der Schönheit zeigen. Dann wird es keine Widersprüche
geben und auch keinen Verstand, der sich mit ihnen abplagt. Aber
jetzt: je heller die Wahrheit des dreistrahlenden Lichtes leuchtet,
welches von Christus offenbart wurde und sich in den Heiligen
widerspiegelt - des Lichtes, in dem der Widerspruch dieser Welt
durch Liebe und Glorie überwunden ist -, um so schroffer
treten die dunklen Spalten im Weltbau hervor. Überall sind
Risse! Doch ich will von den Rissen auf dem Gebiete der Spekulation
sprechen.
Dort, im Himmel - ist die Eine WAHRHEIT; wir aber haben vielerlei
Wahrheiten, Splitter der WAHRHEIT, welche miteinander inkongruent
sind. In der Geschichte des flachen und langweiligen Denkens
der "neueren Philosophie" hat Kant sich erkühnt,
das große Wort der "Antinomie" auszusprechen,
welches die Anständigkeit der scheinbaren Einheit
störte. Dafür allein würde ihm ewiger Ruhm gebühren.
Es verschlägt nichts, wenn seine eigenen Antinomien unglücklich
sind: auf das Erlebnis des Antinomischen kommt es an.
Unter dem Gesichtswinkel der Dogmatik sind die Antinomien unvermeidlich.
Wenn es die Sünde gibt (in ihrer Anerkennung besteht aber
die erste Hälfte des Glaubens), so ist unser ganzes Wesen
wie auch die ganze Welt zersplittert. Von dem einen Winkel der
Welt oder von unserem Verstande ausgehend, haben wir keinen Grund
zu erwarten, daß wir zu dem gleichen Ergebnis gelangen
werden, wie wenn wir von einem anderen Winkel ausgegangen wären.
Die Begegnung ist unwahrscheinlich. Das Vorhandensein einer Vielheit
verschieden lautender Schemata und Theorien, welche gleich gewissenhaft
sind, aber verschiedene Ausgangspunkte haben, ist der beste Beweis
für die Risse im Weltgebäude. Der Verstand selbst ist
zersplittert und zerspalten, und nur der geläuterte Gott-Träger-Verstand
der heiligen Asketen nähert sich ein wenig mehr der
Ganzheit: in ihm hat das Zusammenawachsen der Brüche
und Spalten begonnen, in ihm beginnt die Heilung der Krankheit
des Seins, die Wunden der Welt werden zusammengezogen, denn er
selbst ist das gesund-machende Organ der Welt.
[...]
Was wir auch unternehmen, wir zersplittern unvermeidlich, was
wir betrachten, zerspalten, was wir erforschen, in miteinander
unverträgliche Aspekte. Indem wir ein und dasselbe von verschiedenen
Seiten betrachten, d.h. mit verschiedenen Seiten der geistigen
Tätigkeit operieren, können wir zu Antinomien gelangen,
zu Behauptungen, welche in unserem Verstande unverträglich
sind. Nur in dem Augenblick der gnadenreichen Erleuchtung werden
diese Widersprüche in unserem Verstande beseitigt, aber
- nicht verstandesmäßig, sondern in überverstandesmäßiger
Weise. Das Antinomische bedeutet nicht: "Entweder
dies oder das andere ist wahr"; es bedeutet auch nicht:
"Weder dies noch das andere ist nicht wahr". Es bedeutet
nur: "Sowohl dies als auch das andere ist wahr, aber jedes
in seiner Art; die Versöhnung aber und die Einheit - geht
über den Verstand hinaus." Das Antinomische ist eine
Folge der Zersplitterung des Seins, selbst mit Einschluß
des Verstandes als eines Teiles vom Sein.
Als ideale Grenze, an der der Widerspruch aufgehoben wird, setzen
wir das Dogma. Doch ist es für den Verstand bloß
formal und wird nur im begnadeten Zustand der Seele mit
dem Saft des Lebens erfüllt, wird nur dann zur sich selbst
beweisenden WAHRHEIT. Während das Dogma für den Verstand
eine regulative Norm ist, erscheint es für die von der Gnade
geläuterte Vernuft, welche die Offenbarung aufnimmt,
als intuitiv gegebene Wahrheit. Für den Verstand ist das
Dogma nicht mehr als ein kategorischer Imperativ, der die Forderung
enthält: "Du sollst so denken, daß jede
Verletzung des Dogmas nach der einen Seite sofort durch eine
entsprechende Verletzung nach der diametral entgegengesetzten
Seite aufgehoben werde; alle deine Verstandesoperationen mit
dem Dogma sollen so vollzogen werden, daß in ihnen die
fundamentale Antinomie des Dogmas stets bewahrt bleibe."
Im Gegenteil in der durch das Gebet und durch das Werk geläuterten
Vernunft - als deren Grenzfall die Vernunft des Heiligen
erscheint - ist das Dogma ein sich selbst beweisendes Axiom,
welches bezeugt: "Du schaust sowohl meine Wahrheit
als auch die innere Notwendigkeit meiner antinomischen Natur
im Verstande; wenn du aber jetzt unklar siehst, so wirst du später
klar blicken, wenn du dich noch geläutert haben wirst."
Das Dogma, als Gegenstand des Glaubens, schließt die verstandesmäßige
Antinomie unabänderlich ein. Wenn keine Antinomie vorhanden
ist, so ist verstandesmäßig die Behauptung - geschlossen.
Dann aber ist es erstens kein Dogma, sondern ein wissenschaftlicher
Satz. Da ist nichts zu glauben; sich reinigen und ein
Werk vollbringen - hat hier keinen Zweck. Mir aber erscheint
es als große Lästerung zu meinen, daß die religiöse
Wahrheit - "ein Heiligtum" - bei jedem inneren Zustand,
ohne Werk, erfaßbar sei. Wohl kann sie der unreinen Vernunft
durch Gnade aufleuchten, um sie an zuziehen, aber sie kann nicht
jedem zugänglich sein. Ich wiederhole also: ein solcher
Satz ist kein Dogma. Und zweitens ist das Bewußtsein dann
nicht vollständig, nicht tief, nicht in das innere
Sein des Gegenstandes eingedrungen: wir können das Wesen
des religiösen Objekts nicht in seiner Totalität
denken, sind außerstande, es mit dem Verstande zu
umfassen, ohne es zu zerlegen. Der Verstand vermag nicht, sich
nicht auf eine der Seiten des Objektes zu beschränken. Die
Beschränkung auf eine Seite - das eben ist der Sinn
der Häresie.
Die Häresie, sogar die mystische, ist eine verstandesmäßige
Einseitigkeit, welche sich als das Ganze behauptet. AioesiV = Auswahl, Wahl, Neigung zu etwas, alsdann
das Gewählte, eine gewählte Denkrichtung und daher
- die Partei, die Sekte, die philosophische Schule. Kurz in dem
Worte aioesiV ist die Idee einer
Einseitigkeit, einer gewissen geradlinigen Konzentration auf
eine von den vielen möglichen Behauptungen enthalten.
Die Orthodoxie ist universal, die Häresie ist ihrem
Wesen nach parteiisch. Der Geist der Sekte ist der daraus hervorgehende
Egoismus, die geistige Abgeschiedenheit: die einseitige Behauptung
wird auf das Fundament der unbedingten WAHRHEIT gestellt und
eben dadurch schließt diese Behauptung alles aus, worin
die antinomische Ergänzung zu der gegebenen Hälfte
der Antinomie erblickt wird, welche dem Verstande nach unbegreiflich
ist. Indem das Objekt der Religion vom Himmel des geistigen Erlebens
in die Leibhaftigkeit des Verstandes niedersinkt, wird es unvermeidlich
in Aspekte zersplittert, welche einander ausschließen.
Es ist Sache des orthodoxen allumfassenden Verstandes,
alle Splitter zu sammeln, ihre ganze Fülle; des häretischen,
sektiererischen dagegen - die Splitter auszusuchen, welche
ihm gefallen: "man muß vielseitig sein, um auf
der Harfe der Ewigkeit spielen zu können!"
[...]
Für das unmittelbare Schauen offenbart sich in diesen sich
aufeinander türmenden, jungfräulichen Massen der "Ja"
und der "Nein" die höchste religiöse Einheit,
welche ihre Vollendung im Heiligen Geiste erhalten kann. Welch
ein Mangel an Feinfühligkeit, welche religiöse Geschmacklosigkeit
wäre es, wenn man sich bemühen wollte, alle diese "Ja"
und "Nein" auf eine Ebene zu versetzen - die eine oder
die andere Schicht für unwesentlich zu erklären! Die
Antinomien gehören zum Wesen des Erlebnisses selbst,
sind unabtrennbar von ihm wie die Farbe der Blüte von dem
in ihr eingeschlossenen Pigment. Es ist - wie ein auf einem Bilde
gemalter Nebel oder wie ein in einen Stoff eingewebtes Muster.
Wollten wir das Bild besser, deutlicher sehen und schickten wir
uns an, den Stoff zu entmustern, so würden wir vergeblich
den Nebel und das Muster wegwischen: mit ihnen zugleich
müßte man das Material des Bildes und des Stoffes
- also sie selber - vernichten. So ist es auch in der Religion.
Die Antinomien sind konstitutive Elemente der Religion, wenn
man über dieselbe verstandesmäßig nachdenkt.
Thiesis und Antithesis, als Grundlage und Einschlagfaden, verflechten
das Gewebe des religiösen Erlebnisses selbst. Wo keine Antinomie
ist, dort ist auch kein Glaube: das wird aber nur dann sein,
wenn Glaube und Hoffnung vergehen und die Liebe allein verbleiben
wird (1. Kor. 13; 8, 13).
Wie kalt und fern, wie gottlos und rauh erscheint mir jene Zeitspanne
meines Lebens, als ich die Antinomien der Religion für lösbar,
aber noch nicht gelöst hielt, als ich in meinem hochmütigen
Wahn den logischen Monismus der Religion behauptete.
Die Selbst-Verleugnung - das ist das einzige, was uns der Gottähnlichkeit
annähert. Aber wie die Selbstverleugnung überhaupt,
so ist insbesondere die Selbstverleugnung des Verstandes eine
Ungereimtheit, eine Sinnlosigkeit für den Verstand. A kann
nicht nicht - A sein. "Unmöglich", aber auch "unzweifelhaft"!
Aus dem Ich macht die Liebe ein nicht-Ich, denn die wahre Liebe
ist ein Sich-Lossagen vom Verstande.
[...]
[Übersetzung
Nikolai von Bubnoff]
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