pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

sechster brief:

der widerspruch

Von dein Heiligen Geist, von dem Geist der Wahrheit wird der Kreatur die Wahrheit verkündet. Hier - wenn das Bewußtsein sich über die "doppelte Schranke des Raumes und der Zeiten" erhebt und in die Ewigkeit ein geht, hier, in diesem Augenblick der Verkündung, fallen der die Wahrheit Verkündende und die verkündete Wahrheit auf jede Art zusammen. In der Erscheinung des Geistes der Wahrheit, d.h. in dem Tabor-Licht, sind die Form der Wahrheit und der Inhalt der Wahrheit - Eines. Aber das von der Kreatur aufgenommene und angeeignete Wissen der Wahrheit steigt herab in die Zeit und in den Raum - in die Zeit der persönlichen und in den Raum der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit. Dadurch wird die unmittelbare Einheit der Form und des Inhalts zweimal auseinandergerissen, und das Wissen der WAHRHEIT wird zum Wissen um die WAHRHEIT. Das Wissen aber um die WAHRHEIT ist die Wahrheit.
Es ist unzweifelhaft, daß neben der WAHRHEIT notwendig auch die Wahrheit besteht, sofern nämlich neben Gott die Kreatur existiert. Das Bestehen der Wahrheit ist nur ein anderer Ausdruck für die Tatsache selbst des Daseins der Kreatur als solcher, sofern diese durch die persönliche Mannigfaltigkeit in der Zeit, und durch die gesellschaftliche - im Raume liegt. Das Vorhandensein der Wahrheit ist gleich dem Vorhandensein der Kreatur. Aber existiert denn die Kreatur?
Vom philosophischen Standpunkt kann eine solche Frage im voraus nicht beantwortet werden.
Die Kreatur ist eben deshalb Kreatur, weil sie kein unbedingt notwendiges Wesen ist und weil folglich das Dasein der Kreatur nicht nur aus der Idee der Wahrheit, dieses ersten Bewegers alles Begreifens, in keiner Weise ableitbar ist, sondern sogar auch nicht aus dem Faktum des Bestehens der WAHRHEIT, aus Gott.
Dem Akosmismus Spinozas und dem Pantheismus der meisten Denker zum Trotz kann man aus der Natur Gottes nichts über das Dasein der Welt erschließen, denn der Akt der Welt = Schöpfung - auf welche Art wir ihn immer begreifen mögen: als augenblicklich und historisch erreichbar, oder allmählich und auf die ganze geschichtliche Zeit verteilt, oder sich in einem unendlichen zeitlichen Prozeß offenbarend, oder, schließlich, als vorzeitlich - muß bei aller Mannigfaltigkeit der Auffassungsmöglichkeiten unabänderlich als frei gedacht werden, d.h. als nicht mit Notwendigkeit aus Gott hervorgehend.
Das Dasein der Kreatur, d.h. unseres Unvermögens, ist, ich wiederhole es, durch keine auch noch so verfeinerten Erörterungen ableitbar, und wenn die Denker diese Ableitung trotzdem versuchen, so kann man im voraus behaupten, daß sie entweder ein logisches Kunststück vollbringen, oder die von Gott gegebene Kreatürlichkeit der Kreatur vernichten, indem sie dieselbe - die freie, obwohl unvermögende Persönlichkeit - von der Stufe des gottähnlichen schöpferischen Seins auf das Niveau des abstrakten Seins herabsetzen - zum Attribut oder Modus der Gottheit machen. Das Sein der Wahrheit ist demnach nicht ableitbar, sondern nur in der Erfahrung aufzeigbar: in der Erfahrung des Lebens erkennen wir sowohl unsere Gottähnlichkeit als auch unser Unvermögen; nur die Lebenserfahrung offenbart uns unsere Persönlichkeit und unsere geistige Freiheit. Es liegt nicht in der Macht der Philosophie, das Faktum der Wahrheit abzuleiten; aber wenn es bereits der Philosophie gegeben ist, so ist es ihres Amtes, nach den Eigenschaften, der Zusammensetzung, der Natur der menschlichen - wiewohl von Gott, so doch eben in der Menschheit und der Menschheit gegebenen - Wahrheit zu fragen. Anders gesagt, die Frage nach dem formalen Gefüge der Wahrheit, nach ihrer verstandesmäßigen Gestaltung ist rechtmäßig, während ihr Inhalt die WAHRHEIT selbst ist. Auch das wäre noch eine schickliche Frage: wie stellt sich die Göttliche WAHRHEIT dem menschlichen Verstande dar?
Um die Frage nach der logischen Struktur der Wahrheit zu beantworten, muß man im Auge behalten, daß die Wahrheit - Wahrheit eben von der WAHRHEIT ist, und nicht von etwas anderem, d.h. in irgendeiner Korrespondenz mit der WAHRHEIT steht. Die Form der Wahrheit ist nur dann fähig, ihren Inhalt - die WAHRHEIT - zusammenzuhalten, wenn sie irgendwie, wenn auch nur symbolisch, etwas von der WAHRHEIT in sich hat. Anders gesagt: die Wahrheit muß notwendig ein Emblem irgendeiner fundamentalen Eigenschaft der WAHRHEIT sein. Noch anders ausgedrückt: indem sie hier und jetzt ist, muß sie ein Symbol der Ewigkeit sein.
Obwohl in der Kreatur gegeben, muß die Wahrheit dennoch ein Polygramm der Gottheit sein. Obwohl diesseitig, muß sie dennoch so sein, als wenn sie es nicht wäre. Mit Farben des Bedingten muß sie die Umrisse des Unbedingten zeichnen. In dem zerbrechlichen Gefäß der menschlichen Worte muß der ewig unzerstörbare Diamant der Gottheit enthalten sein. Die Kreatur wird hin und her geworfen im sturmischen Wirbel der Zeit; aber die Wahrheit muß verbleiben. Die Kreatur wird geboren und stirbt, und Generationen folgen den Generationen; die Wahrheit aber muß unvergänglich sein. Die Menschen streiten miteinander und widerlegen einander; die Wahrheit aber soll unwiderlegbar und über alle Widerlegungen erhaben sein. Die menschlichen Meinungen wechseln von Land zu Land und von Jahr zu Jahr; die Wahrheit aber ist überall und immer die eine, sich selbst gleiche. Kurzum: die Wahrheit ist "das, was überall, immer und von allen geglaubt wurde, weil nur das in Wirklichkeit und im eigentlichen Sinne universal ist, was, wie die Bedeutung und der Sinn des Wortes selber zeigen, soweit möglich überhaupt alles umfaßt". Dieser Forderung aber können wir nur unter der Bedingung genügen, "wenn wir der Allgemeinheit, der Überlieferung und der Übereinstimmung folgen". Jede Wahrheit muß eine unbedingte Formel sein.
Doch wie ist das möglich? Wie kann man aus dem bedingten Material des menschlichen Verstandes eine unbedingte Formel der Göttlichen Wahrheit zusammenfügen?
[...]
Die Unbedingtheit der Wahrheit von der formalen Seite kommt darin zum Ausdruck, daß sie von vornherein ihre Negation hinzudenkt und aufnimmt und den Zweifel an ihrem Wahrheitscharakter mit der Aufnahme dieses Zweifels in sich selbst bis zu dessen äußerster Form beantwortet. Die Wahrheit ist gerade darum Wahrheit, weil sie keinerlei Widerlegung fürchtet; sie fürchtet sie aber darum nicht, weil sie sich selber stärker widerspricht, als jede denkbare Verneinung tun könnte; aber diese ihre Selbst-Verneinung verbindet die Wahrheit mit der Behauptung. Für den Verstand ist die Wahrheit ein Widerspruch, und dieser Widerspruch wird offenbar, sobald die Wahrheit eine Formulierung in Worten erhält. Jeder von den sich widersprechenden Sätzen ist in dem Wahrheitsurteil enthalten, und das Vorhandensein eines jeden von ihnen ist daher mit dem gleichen Grade an Überzeugungskraft - mit Notwendigkeit beweisbar. Die Thesis und die Antithesis bilden zusammen den Ausdruck der Wahrheit. Anders gesagt: die Wahrheit ist eine Antinomie und kann es nicht nicht sein.
Übrigens soll sie auch gar nichts anderes sein, denn man kann im voraus behaupten, daß die Erkenntnis der Wahrheit ein geistiges Leben erfordert und folglich eine asketische Tat ist. Die asketische Tat des Verstandes ist aber der Glaube, d.h. die Selbst-Verleugnung. Der Akt der Selbstverleugnung des Verstandes ist eben das Aussprechen der Antinomie. In der Tat kann auch nur eine Antinomie geglaubt werden; denn jedes nichtantinomische Urteil wird von dem Verstand einfach anerkannt oder einfach abgelehnt, da es die Grenze seiner egoistischen Isolierung nicht überschreitet. Wenn die Wahrheit nicht - antinomisch wäre, so hätte der Verstand, sich immer in seiner eigenen Sphäre drehend, keinen Stützpunkt, sähe kein außerrationales Objekt und hätte folglich keinen Beweggrund, die Glaubenstat zu beginnen. Dieser Stützpunkt ist - das Dogma. Mit dem Dogma beginnt auch unsere Erlösung, denn nur das Dogma beschränkt, da es antinomisch ist, unsere Freiheit nicht und gibt dem freiwilligen Glauben und dem arglistigen Unglauben freie Bahn. Man kann ja niemanden zum Glauben zwingen, wie man auch niemanden zum Unglauben zwingen kann, nach dem Worte des hl. Augustin: "Nemo credit nisi volens (niemand glaubt anders als freiwillig)".
[...]
Das Wissen um den Widerspruch und die Liebe zu dem Widerspruch ist, neben der antiken Skepsis, wie es scheint, das Wichtigste, was das Altertum gegeben hat. Wir sollen nicht, wir dürfen nicht den Widerspruch mit dem Teig unserer Philosopheme verkleistern! Mag der Widerspruch so tief bleiben, wie er ist. Wenn die erkennbare Welt aufgespalten ist und wir ihre Spalten in Wirklichkeit nicht beseitigen können, so sollen wir sie auch nicht verdecken. Wenn die erkennende Vernunft zersplittert, wenn sie kein Stück aus einem Guß ist, wenn sie sich selber widerspricht - so sollen wir wiederum nicht den Anschein erwecken, daß dem nicht so sei. Es ist längst an der Zeit, die kraftlose Anstrengung des menschlichen Verstandes, die Widersprüche auszugleichen, den welken Versuch der Anspannung durch ein freimütiges Bekenntnis der Widersprüchlichkeit abzuwehren.
Das "Buch Hiob" besteht ganz aus diesem verdichteten Erlebnis des Widerspruchs, ist ganz auf der Idee der Antinomienhaftigkeit aufgebaut. Gott "erinnert uns hier daran, daß der Mensch kein Maß der Schöpfung" sei, daß "das Universum nach einem Plane aufgebaut sei, der die menschliche Vernunft unendlich übertrifft". Gottes Wünsche und Gottes Taten sind dem Menschen wesentlich unbegreiflich und scheinen ihm daher unvernünftig (Hiob 23): "Wir begreifen Ihn nicht - Er sieht nicht auf die Weisen und Verständigen." (Hiob 37, 23-24) "Alles ist ein Geheimnis, in allem ist Gottes Geheimnis... Daß es aber ein Geheimnis ist, das ist um so besser: furchtbar ist es dem Herzen und wunderbar; und diese Furcht dient zur Freude des Herzens... Um so herrlicher ist es noch, als es ein Geheimnis ist." (Dostojewski) Das Geheimnis der sittlichen Unordnung erschüttert Hiob durch seine Majestät, seine Freunde aber bemerken es nicht einmal (Hiob 21). "Leget den Finger auf eure Lippen" - das ist die Geste des Schweigens und des Geheimnisses - jene Geste, mit der auf den Ikonen der Seher der Geheimnisse Johannes häufig dargestellt wird.
Die Sakramente der Religion sind keine Geheimnisse, die man nicht ausposaunen soll, keine konventionellen Parolen von Verschwörern, sondern unausdrückbare, unaussagbare, unbeschreibbare Erlebnisse, welche in das Wort nicht anders eingehen können als in Gestalt eines Widerspruchs, welche zugleich "ja" und "nein" sind. Daher kleidet sich die Verzückung der Seele, wenn sie zum Kirchengesang wird, in die Hülle eines eigenartigen Spieles mit Begriffen. Der ganze Kirchen - Gottesdienst, insbesondere die kirchlichen Lobgesänge, sind erfüllt vom überschäumenden Scharfsinn antithetischer Nebeneinanderstellungen und antinomischer Behauptungen. Der Widerspruch! Er ist immer ein Geheimnis der Seele - ein Geheimnis des Gebetes und der Liebe. Je mehr wir uns Gott nähern, um so deutlicher werden die Widersprüche. Dort, in dem himmlischen Jerusalem sind sie nicht. Hier aber - sind Widersprüche in allem, und sie werden weder durch soziale Einrichtungen, noch durch philosophische Argumente beseitigt. Etwas Großes, längst Ersehntes und dennoch völlig Unerwartetes - die große ungeahnte Freude - wird plötzlich erscheinen, den ganzen Kreis des irdischen Daseins erfassen, ihn aufrütteln, den Himmel wie eine Bücherrolle zusammendrehen, die Erde reinwaschen, neue Kräfte geben, alles erneuern, alles verwandeln, das Einfachste und Alltäglichste im blendenden Strahlenglanz der Schönheit zeigen. Dann wird es keine Widersprüche geben und auch keinen Verstand, der sich mit ihnen abplagt. Aber jetzt: je heller die Wahrheit des dreistrahlenden Lichtes leuchtet, welches von Christus offenbart wurde und sich in den Heiligen widerspiegelt - des Lichtes, in dem der Widerspruch dieser Welt durch Liebe und Glorie überwunden ist -, um so schroffer treten die dunklen Spalten im Weltbau hervor. Überall sind Risse! Doch ich will von den Rissen auf dem Gebiete der Spekulation sprechen.
Dort, im Himmel - ist die Eine WAHRHEIT; wir aber haben vielerlei Wahrheiten, Splitter der WAHRHEIT, welche miteinander inkongruent sind. In der Geschichte des flachen und langweiligen Denkens der "neueren Philosophie" hat Kant sich erkühnt, das große Wort der "Antinomie" auszusprechen, welches die Anständigkeit der scheinbaren Einheit störte. Dafür allein würde ihm ewiger Ruhm gebühren. Es verschlägt nichts, wenn seine eigenen Antinomien unglücklich sind: auf das Erlebnis des Antinomischen kommt es an.
Unter dem Gesichtswinkel der Dogmatik sind die Antinomien unvermeidlich. Wenn es die Sünde gibt (in ihrer Anerkennung besteht aber die erste Hälfte des Glaubens), so ist unser ganzes Wesen wie auch die ganze Welt zersplittert. Von dem einen Winkel der Welt oder von unserem Verstande ausgehend, haben wir keinen Grund zu erwarten, daß wir zu dem gleichen Ergebnis gelangen werden, wie wenn wir von einem anderen Winkel ausgegangen wären. Die Begegnung ist unwahrscheinlich. Das Vorhandensein einer Vielheit verschieden lautender Schemata und Theorien, welche gleich gewissenhaft sind, aber verschiedene Ausgangspunkte haben, ist der beste Beweis für die Risse im Weltgebäude. Der Verstand selbst ist zersplittert und zerspalten, und nur der geläuterte Gott-Träger-Verstand der heiligen Asketen nähert sich ein wenig mehr der Ganzheit: in ihm hat das Zusammenawachsen der Brüche und Spalten begonnen, in ihm beginnt die Heilung der Krankheit des Seins, die Wunden der Welt werden zusammengezogen, denn er selbst ist das gesund-machende Organ der Welt.
[...]
Was wir auch unternehmen, wir zersplittern unvermeidlich, was wir betrachten, zerspalten, was wir erforschen, in miteinander unverträgliche Aspekte. Indem wir ein und dasselbe von verschiedenen Seiten betrachten, d.h. mit verschiedenen Seiten der geistigen Tätigkeit operieren, können wir zu Antinomien gelangen, zu Behauptungen, welche in unserem Verstande unverträglich sind. Nur in dem Augenblick der gnadenreichen Erleuchtung werden diese Widersprüche in unserem Verstande beseitigt, aber - nicht verstandesmäßig, sondern in überverstandesmäßiger Weise. Das Antinomische bedeutet nicht: "Entweder dies oder das andere ist wahr"; es bedeutet auch nicht: "Weder dies noch das andere ist nicht wahr". Es bedeutet nur: "Sowohl dies als auch das andere ist wahr, aber jedes in seiner Art; die Versöhnung aber und die Einheit - geht über den Verstand hinaus." Das Antinomische ist eine Folge der Zersplitterung des Seins, selbst mit Einschluß des Verstandes als eines Teiles vom Sein.
Als ideale Grenze, an der der Widerspruch aufgehoben wird, setzen wir das Dogma. Doch ist es für den Verstand bloß formal und wird nur im begnadeten Zustand der Seele mit dem Saft des Lebens erfüllt, wird nur dann zur sich selbst beweisenden WAHRHEIT. Während das Dogma für den Verstand eine regulative Norm ist, erscheint es für die von der Gnade geläuterte Vernuft, welche die Offenbarung aufnimmt, als intuitiv gegebene Wahrheit. Für den Verstand ist das Dogma nicht mehr als ein kategorischer Imperativ, der die Forderung enthält: "Du sollst so denken, daß jede Verletzung des Dogmas nach der einen Seite sofort durch eine entsprechende Verletzung nach der diametral entgegengesetzten Seite aufgehoben werde; alle deine Verstandesoperationen mit dem Dogma sollen so vollzogen werden, daß in ihnen die fundamentale Antinomie des Dogmas stets bewahrt bleibe."
Im Gegenteil in der durch das Gebet und durch das Werk geläuterten Vernunft - als deren Grenzfall die Vernunft des Heiligen erscheint - ist das Dogma ein sich selbst beweisendes Axiom, welches bezeugt: "Du schaust sowohl meine Wahrheit als auch die innere Notwendigkeit meiner antinomischen Natur im Verstande; wenn du aber jetzt unklar siehst, so wirst du später klar blicken, wenn du dich noch geläutert haben wirst."
Das Dogma, als Gegenstand des Glaubens, schließt die verstandesmäßige Antinomie unabänderlich ein. Wenn keine Antinomie vorhanden ist, so ist verstandesmäßig die Behauptung - geschlossen. Dann aber ist es erstens kein Dogma, sondern ein wissenschaftlicher Satz. Da ist nichts zu glauben; sich reinigen und ein Werk vollbringen - hat hier keinen Zweck. Mir aber erscheint es als große Lästerung zu meinen, daß die religiöse Wahrheit - "ein Heiligtum" - bei jedem inneren Zustand, ohne Werk, erfaßbar sei. Wohl kann sie der unreinen Vernunft durch Gnade aufleuchten, um sie an zuziehen, aber sie kann nicht jedem zugänglich sein. Ich wiederhole also: ein solcher Satz ist kein Dogma. Und zweitens ist das Bewußtsein dann nicht vollständig, nicht tief, nicht in das innere Sein des Gegenstandes eingedrungen: wir können das Wesen des religiösen Objekts nicht in seiner Totalität denken, sind außerstande, es mit dem Verstande zu umfassen, ohne es zu zerlegen. Der Verstand vermag nicht, sich nicht auf eine der Seiten des Objektes zu beschränken. Die Beschränkung auf eine Seite - das eben ist der Sinn der Häresie.
Die Häresie, sogar die mystische, ist eine verstandesmäßige Einseitigkeit, welche sich als das Ganze behauptet.
AioesiV = Auswahl, Wahl, Neigung zu etwas, alsdann das Gewählte, eine gewählte Denkrichtung und daher - die Partei, die Sekte, die philosophische Schule. Kurz in dem Worte aioesiV ist die Idee einer Einseitigkeit, einer gewissen geradlinigen Konzentration auf eine von den vielen möglichen Behauptungen enthalten. Die Orthodoxie ist universal, die Häresie ist ihrem Wesen nach parteiisch. Der Geist der Sekte ist der daraus hervorgehende Egoismus, die geistige Abgeschiedenheit: die einseitige Behauptung wird auf das Fundament der unbedingten WAHRHEIT gestellt und eben dadurch schließt diese Behauptung alles aus, worin die antinomische Ergänzung zu der gegebenen Hälfte der Antinomie erblickt wird, welche dem Verstande nach unbegreiflich ist. Indem das Objekt der Religion vom Himmel des geistigen Erlebens in die Leibhaftigkeit des Verstandes niedersinkt, wird es unvermeidlich in Aspekte zersplittert, welche einander ausschließen. Es ist Sache des orthodoxen allumfassenden Verstandes, alle Splitter zu sammeln, ihre ganze Fülle; des häretischen, sektiererischen dagegen - die Splitter auszusuchen, welche ihm gefallen: "man muß vielseitig sein, um auf der Harfe der Ewigkeit spielen zu können!"
[...]
Für das unmittelbare Schauen offenbart sich in diesen sich aufeinander türmenden, jungfräulichen Massen der "Ja" und der "Nein" die höchste religiöse Einheit, welche ihre Vollendung im Heiligen Geiste erhalten kann. Welch ein Mangel an Feinfühligkeit, welche religiöse Geschmacklosigkeit wäre es, wenn man sich bemühen wollte, alle diese "Ja" und "Nein" auf eine Ebene zu versetzen - die eine oder die andere Schicht für unwesentlich zu erklären! Die Antinomien gehören zum Wesen des Erlebnisses selbst, sind unabtrennbar von ihm wie die Farbe der Blüte von dem in ihr eingeschlossenen Pigment. Es ist - wie ein auf einem Bilde gemalter Nebel oder wie ein in einen Stoff eingewebtes Muster. Wollten wir das Bild besser, deutlicher sehen und schickten wir uns an, den Stoff zu entmustern, so würden wir vergeblich den Nebel und das Muster wegwischen: mit ihnen zugleich müßte man das Material des Bildes und des Stoffes - also sie selber - vernichten. So ist es auch in der Religion. Die Antinomien sind konstitutive Elemente der Religion, wenn man über dieselbe verstandesmäßig nachdenkt. Thiesis und Antithesis, als Grundlage und Einschlagfaden, verflechten das Gewebe des religiösen Erlebnisses selbst. Wo keine Antinomie ist, dort ist auch kein Glaube: das wird aber nur dann sein, wenn Glaube und Hoffnung vergehen und die Liebe allein verbleiben wird (1. Kor. 13; 8, 13).
Wie kalt und fern, wie gottlos und rauh erscheint mir jene Zeitspanne meines Lebens, als ich die Antinomien der Religion für lösbar, aber noch nicht gelöst hielt, als ich in meinem hochmütigen Wahn den logischen Monismus der Religion behauptete.
Die Selbst-Verleugnung - das ist das einzige, was uns der Gottähnlichkeit annähert. Aber wie die Selbstverleugnung überhaupt, so ist insbesondere die Selbstverleugnung des Verstandes eine Ungereimtheit, eine Sinnlosigkeit für den Verstand. A kann nicht nicht - A sein. "Unmöglich", aber auch "unzweifelhaft"! Aus dem Ich macht die Liebe ein nicht-Ich, denn die wahre Liebe ist ein Sich-Lossagen vom Verstande.
[...]

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff]

 

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