pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

neunter brief:

die kreatur

[...]
Es gibt eine Objektivität: das ist die von Gott erschaffene Kreatur. Mit der gesamten Kreatur leben und fühlen, aber nicht mit jener, die der Mensch verunreinigt hat, sondern mit jener, die aus der Hand ihres Schöpfers hervorging; in dieser Kreatur eine andere, höhere Natur durchschauen; durch die Rinde der Sünde den reinen Kern der göttlichen Schöpfung betasten... Aber so sprechen bedeutet das gleiche, wie die Forderung der wiederhergestellten, d.h. geistigen, Persönlichkeit stellen. Und da erhebt sich wieder das Problem des Asketentums.
Nicht Fasten und andere körperliche Übungen, nicht Tränen und gute Werke sind das Gut des Asketen, sondern die in ihrer Ganzheit wiederhergestellte, d.h. keusch gewordene Persönlichkeit. "Nichts" - so spricht der hl. Methodius - "in der Natur ist böse, sondern das Böse wird böse durch die Art seiner Nutzung."
In dem Menschen ist keine Realität, welche ein Böses wäre; aber die falsche Benützung der Kräfte und Fähigkeiten, d.h. die Umkehrung der Realitätsordnung, ist ein Böses; dagegen besteht die Integrität-Keuschheit nach dem Worte des hl. Ambrosius von Mediolanum "in der unverletzten", "in der ungeschädigten Natur": "puder virginis est intemerata natura."
Das Böse ist nichts anderes als eine geistige Verkrümmung, und die Sünde ist alles, was dazu führt. Aber das Vorhandensein einer solchen Verkrümmung fordert eine Orthopädie besonderer Art, eine geistige Orthopädie. Eben diese Orthopädie ist der schmale Weg des Asketentums im Sinne der heiligen Väter. "Nicht darum" - so führt ein zeitgenössischer Bischof aus - "wurde das Asketentum als eine Gesamtheit von Begrenzungen und Einschränkungen gewisser Art zur Erlangung der sittlichen Vollkommenheit notwendig, weil das Christentum das fordert. Nein, das Christentum fordert von dem Menschen nur die positive, sittliche Entwicklung, jedoch der sündhafte Mensch selbst zeigt sich vollkommen unfähig, so zu leben, wie das christliche Ideal fordert, und ist gezwungen, Maßregeln verschiedener Art zu ergreifen, um den durch das Leben erworbenen sündhaften Lebensinhalt in sich zu unterdrücken, "im Schweiße seines Angesichts das himmlische Brot zu essen", wie sich die Asketen ausdrücken.
Das geistige Leben ist die vom Herrn Jesus Christus verliehene Rettung; das Asketentum aber ist der Weg zu ihr. Um aber nicht nur die Aufgabe zu begreifen, welche dem Werk gestellt wird, sondern auch sein besonderes Wesen, ist es notwendig, sich ein wenig in jene Anordnung der Lebensorgane hineinzuversetzen, welche einzig und allein mit Recht als Ordnung bezeichnet werden kann, d.h. als die Keuschheit des Menschen.
Man kann von verschiedenen Seiten an die Verdeutlichung dieser Ordnung herantreten, aber folgender Weg scheint uns der einfachste - zum mindesten jedoch der anschaulichste zu sein.
Der Mensch ist in verschiedenem Sinne "gegeben". Aber vor allem und in erster Linie ist er körperlich gegeben - als Körper. Der menschliche Körper - das ist es, was wir in erster Linie als den Menschen bezeichnen.
[...]
Aber was ist denn der Körper? - Nicht der Stoff des menschlichen Organismus als Materie der Physiker verstanden, sondern seine Form, und zwar nicht die Form seiner äußeren Umrisse, sondern seine ganze Gestaltung als Totalität - das ist es, was wir Körper nennen.
Der Körper ist ein Ganzes, ein Individuelles, ein Besonderes. Es ist hier nicht der Ort zu beweisen, daß das Individuelle jedes Organ des Körpers durchdringt, und daß daher ein völlig unbezweifelbares, wenn auch vielleicht für die Formeln der Charakterologie ungreifbares Band, irgendeine Übereinstimmung zwischen den feinsten Eigentümlichkeiten im Bau der Organe und den geringfügigsten Besonderheiten der persönlichen Charakteristik besteht. Die Gesichtszüge, der Bau des Schädels, die Linien der Hand- und Fußflächen, die Form der Hände und der Finger, der Metallklang der Stimme, welcher die kleinsten Besonderheiten im Bau der Stimmorgane ausdrückt, die Handschrift, welche die feinsten Eigentümlichkeiten der Muskelkontraktionen festhält, der Geschmack und die Idiosynkrasien, welche zeigen, welcher Stoffe und Erregungen ein bestimmter Organismus bedarf, d.h. was ihm fehlt usw. usw., überall schaut uns hier unter der Hülle des unpersönlichen Stoffes die eine Persönlichkeit an. In dem Körper erscheint überall seine Einheit. Und darum, je mehr wir uns in den Begriff des "menschlichen Körpers" hineindenken, um so hartnäckiger macht sich die Notwendigkeit geltend, von der ontologischen Peripherie des Körpers zu seinem ontologischen Mittelpunkt fortzuschreiten, d.h. zu jenem Körper, welcher diese Mannigfaltigkeit von Organen und Funktionen zur Einheit macht, ohne die auf alle diese Organe nur der Begriff der
omoiousia, keineswegs der Begriff der omoousia anwendbar ist. Eben diese Wurzel der Einheit des Körpers, dieser Körper im Körper, dieser Körper par excellence, dieser Körper im eigentlichen Sinn beschäftigt uns. Was gewöhnlich als Körper bezeichnet wird, ist nicht mehr als eine ontologische Oberfläche; aber hinter ihr, jenseits dieser Hülle liegt die mystische Tiefe unseres Wesens. Überhaupt ist alles, was wir "äußere Natur" nennen - die gesamte "empirische Wirklichkeit", unser "Körper" mit eingeschlossen - nur die Oberfläche der Scheidewand zwischen zwei Tiefen des Seins: der Tiefe des "Ich" und der Tiefe des "Nicht-Ich", und man kann daher nicht sagen, ob unser Körper dem Ich oder dem Nicht-Ich angehöre.
Was läßt sich denn über den Bau unseres wahren Körpers sagen? Es möge seine die Umrisse andeutende Hülle, es möge der "Körper" der Empirie seine Organe und die Eigentümlichkeiten seines Baues aufzeigen!!
Vor allem zeigt sich eine Symmetrie der oberen und unteren Körperhälfte - eine sogenannte Homotypie des "oberen" und des "unteren" Poles. Das Unten des Menschen stellt sich als Spiegelbild seines Oben dar. Die Organe, die Knochen, das Muskel-, Blut- und Nervensystem, sogar die Krankheiten des oberen und unteren Poles und die Wirkung der Arzneien erscheinen als polar verknüpft. Wenn dem aber so ist, bedeutet diese Übereinstimmung dann nicht, daß nicht diese oder jene Extremität als ontologischer Mittelpunkt des Körpers dient, sondern das Zentrum der Homotypie, d.h. der mittlere Teil des Menschen? Welcher? - Schon ein oberflächlicher Blick deutet auf die natürliche Gliederung des menschlichen Körpers in Kopf, Brust und Unterleib hin, wobei jeder dieser Teile als Ganzes genommen als ein Organ betrachtet werden kann. In dem Unterleib konzentrieren sich die ernährenden und fortpflanzenden Funktionen, in der Brust - die Gefühle, und endlich im Kopf - das Leben des Bewußtseins.
In der Ebene der Empirie ist das Nervensystem unser Körper im eigentlichsten Sinne; es hat in diesen drei Organen seine Zentren, und soweit man es bei dem gegenwärtigen Stand des Wissens erraten kann, sind diese Zentren eben die Zentren der oben genannten Funktionen. Aber nicht um diese handelt es sich, sondern darum, daß das Leben eines jeden der Organe - des Kopfes, der Brust und des Unterleibs - durch entsprechende Trainierung vertieft werden kann, und dann wird der Mensch zum Mystiker des entsprechenden Organs. Die regelmäßige Entwicklung aller Organe unter der Hegemonie jenes, mit dem die menschliche Persönlichkeit vorzugsweise verbunden ist, d.h. der Brust - das ist die normale Mystik, und sie wird nicht anders erreicht als in der gnadenreichen Umgebung der Kirchlichkeit. Jede andere Mystik gibt zwar eine Vertiefung, stört aber das Gleichgewicht der Persönlichkeit, denn der Kern der Seele, unfähig sich von der Gnade zu ernähren, wächst nicht in den Schoß der Heiligen Trinität hinein, sondern irgendwo zur Seite, vertrocknet und geht zugrunde. Dieser Art ist die Mystik des Unterleibs, d.h. die Mystik der orgiastischen Kulte des Altertums und der Gegenwart und teilweise die Mystik des Katholizismus. Dieser Art ist auch die Mystik des Kopfes oder das Yoga, welches in den Ländern des Orients, besonders in Indien, verbreitet ist und von den Okkultisten verschiedener Sekten, insbesondere von den Theosophen in die europäische Welt hineingetragen wurde.
Nur die Mystik des Mittelpunkts im menschlichen Wesen, die Mystik, welche in erster Linie der Gnade, die sein Innerstes nährt, den Zugang zum Menschen eröffnet, nur diese Mystik bessert die Persönlichkeit und gibt ihr die Möglichkeit eines planmäßigen Wachstums. Jede andere Mystik dagegen vergrößert notwendig das ohnedies gestörte Gleichgewicht des Lebens und bringt die Natur des sündhaften Menschen endgültig zur Entartung.
Eben darin liegt die Gefahr der "Verführung" und der falschen Mystik, daß es, je mehr und je gewissenhafter der ihr verfallene Mensch an sich zu arbeiten bemüht ist, um so schlimmer für ihn ist; und nur der schlimmste Sturz kann ihn zur Besinnung bringen und zur Zerstörung dessen, was er so sorgfältig aufbaute. Gleichwie der Wanderer, der einen falschen Weg einschlug, je mehr er eilt, sich um so weiter von seinem Ziele entfernt, gerade so geht auch der Asket, welcher von der Bahn der Kirchlichkeit abwich, durch sein Asketentum zugrunde. Nicht umsonst warnen die geistigen Ältesten die Anfänger: "Fürchte keine Sünde, selbst die Unzucht fürchte nicht, fürchte nichts; aber fürchte das Gebet und die Werke."
Also ist die kirchliche Mystik die Mystik der Brust. Aber als Zentrum der Brust galt von altersher das Herz, wenigstens das Organ, welches diesen Namen trug. Wenn die Brust der Mittelpunkt des Körpers ist, so ist das Herz der Mittelpunkt der Brust. Und dem Herzen wandte sich von altersher die ganze Aufmerksamkeit der kirchlichen Mystik zu.
[...]
Die Läuterung des Herzens gibt die Gemeinschaft mit Gott, und die Gemeinschaft mit Gott richtet die ganze Persönlichkeit des Asketen auf und ordnet sie. Die ganze Persönlichkeit durchströmend und durchdringend heiligt das Licht der göttlichen Liebe auch die Schranke der Persönlichkeit, den Leib, und strahlt von hier in die für die Persönlichkeit äußere Natur aus. Durch die Wurzel, mit der sich die geistige Persönlichkeit in den Himmel versenkt, heiligt die Gnade auch alles den Asketen Umgebende und ergießt sich in den Schoß der gesamten Kreatur. Der Leib, diese gemeinsame Grenze des Menschen und der übrigen Kreatur, verbindet sie in eins. Wenn daher der von Gott abgefallene Mensch die gesamte Kreatur nach sich zog und, indem er ihr Wesen verdarb, auch die Ordnung der Natur verkehrte, so führt der von Gott wiederhergestellte Mensch den ursprünglichen Einklang und die Harmonie in die Kreatur ein, welche "sich sehnet und ängstet noch immerdar" (Röm. 8, 22) und "wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes" (Röm. 8, 19). Der Mensch ist durch seinen Körper mit allem Fleische verbunden, und dieses Band ist so eng, daß das Schicksal des Menschen und das Schicksal der gesamten Kreatur unzertrennlich sind.
Der Göttliche Bund war ja doch von Gott nicht nur mit dem Menschen, sondern mit der gesamten Kreatur geschlossen. In dem Bunde Gottes mit Noah (1. Mos. 9) wird dieser Gedanke mit aller Bestimmtheit wiederholt ausgesprochen.
[...]
Wenn die Entartung der menschlichen Natur die Entartung der gesamten Kreatur nach sich zieht, und die harmonische Gestaltung des Menschen die harmonische Gestaltung der Kreatur, so drängt sich uns die Frage nach den konkreten Zügen dieser keusch gewordenen Kreatur auf, d.h. jener Anfänge des paradiesischen Zustandes, welche der Asket schon jetzt in diesem Leben erreicht, vor der allgemeinen Veränderung der Welt. Um aber das Wesen dieses irdischen Paradieses der Asketen, dieser Mystik des Herzens, deutlicher zu erfassen, muß man sich daran erinnern, daß die von der falschen Mystik bewirkte Entartung, die Versetzung des Zentrums des menschlichen Daseins, von einem zweifachen Typus sein kann. Entweder es handelt sich dabei um die Mystik des Kopfes, um eine mystische Überentwicklung des Intellekts, welcher nicht vom Herzen mit Gnade ernährt wird, sondern sich selbständig mit teuflischem Hochmut ernährt und sich bemüht, durch falsches Wissen alle Geheimnisse der Erde und des Himmels zu umfassen, oder aber es handelt sich dabei umgekehrt um eine mystische Überentwicklung des organischen Lebens, um die Mystik des Unterleibes, welche wiederum die Quellen des Lebens nicht von dem die Geistigkeit ausströmenden Herzen empfängt, sondern von den Teufeln durch Unreinheit. Hier wie dort erscheint die Persönlichkeit nicht in ihrer Ganzheit, sondern zersplittert und entartet, ohne Mittelpunkt. Durch eine Zurückdrängung des hochmütigen Intellekts unterscheidet sich der Asket von den Mystikern des ersten Typus; durch eine Zügelung des begehrlichen Unterlelbs - von den Mystikern des letzteren Typus. Alles, wodurch der Asket lebt, entsteht bei ihm nicht willkürlich in diesem oder jenem einzelnen Organ, sondern in dem lebendigen Mittelpunkt seines Wesens, im Herzen, und zwar unter der gnadenreichen Einwirkung des Geistes-Trösters. Da es im Mittelpunkt des gesamten von der Gnade geläuterten Wesens entstand, verbreitet sich die Lebensbewegung natürlich (nicht widernatürlich wie bei den Pseudo-Mystikern) über die Organe der Lebenstätigkeit, und darum wirken sie in voller Übereinstimmung miteinander.
Er ist wesentlich mit der gesamten Kreatur verbunden und meidet nichts, was der Kreatur eigentümlich ist; aber ihm, seiner Empfindung der Kreatur, fehlt die Begierde. Er dringt tief ein in die Geheimnisse des Himmels und der Erde und ermangelt nicht des Wissens von ihnen, aber in ihm, in seiner Erkenntnis der Geheimnisse, ist kein Hochmut. Die schlechte Unendlichkeit der Zügellosigkeit sowohl in der materiellen als auch in der intellektuellen Welt ist schlechterdings aus ihm ausgeschieden, da sie in ihrer Wurzel selbst, im Herzen, untergraben ist. Er hat einen unvergänglichen Leib und einen unvergänglichen Intellekt. Und mehr als das: sogar die vom Geiste nicht erfüllten Menschen erhalten vom Asketen Kräfte für ein besseres Verhältnis zur Kreatur.
Der vergeistigte Asket schwingt sich über die Natur empor. "Wer von den starken Männern" - sagt Makarius der Große - "oder von den Weisen, oder von den Verständigen stieg zum Himmel empor, während er noch auf der Erde weilte und vollbrachte dort geistige Werke, indem er die Schönheit des Geistes schaute? Jetzt aber wirft sich einer, welcher seiner Gestalt nach ein Bettler, bis zum äußersten arm und erniedrigt und den Nachbarn sogar völlig unbekannt ist, mit seinem Angesicht vor Gott nieder, erhebt sich, vom Geiste geleitet, in den Himmel und genießt mit unzweifelhafter Gewißheit in seiner Seele die dortigen Wunder!" Und nach dem Worte des Nikita Stifatos "wenn jemand des Heiligen Geistes teilhaftig wird, und Seine Kraft aus Seiner unaussprechlichen Wirkung und Seinem Wohlgeruch in sich erkennt, die sich sogar im Körper in fühlbarer Weise offenbaren, so kann ein solcher in den Grenzen der Natur nicht verbleiben... er empfindet weder Hunger noch Durst noch auch andere natürliche Bedürfnisse". Er verwandelt sich, und alle Eigenschaften seines natürlichen Wesens verändern sich. "Wer die Gnade hat", - sagt der hl. Makarius der Große - "hat einen anderen Verstand, einen anderen Sinn, eine andere Weisheit als die Weisheit dieser Welt." Das Mönchtum selbst ist gar nichts anderes als Geisigkeit, und die Geistigkeit kann nicht umhin, Mönchtum zu sein. Und hier, für das mönchische Bewußtsein, wird die ganze Weit zu einer anderen. Indem sich der Mönch vom irdischen Leben entfernt, er sich dem universalen Leben. "Nach der inneren Stimmung der Seele" - so sagt Nikita Stifatos - "verändert sich die Natur der Dinge"; "wer das wahre Gebet und die Liebe erlangt hat" - bezeugt derselbe - "der hat keine Unterscheidung der Dinge, der unterscheidet den Gerechten nicht vom Sünder, sondern liebt alle gleichmäßig und richtet sie nicht, wie auch Gott die Sonne leuchten läßt und den Regen sendet über Gerechte und Ungerechte." Indem der Asket das Universum segnet, sieht er in den Dingen überall und immer göttliche Erscheinungen und göttliche Schriftzeichen; jede Kreatur ist für ihn eine Leiter, auf der die Engel Gottes in das Erdental herabsteigen; alles Irdische ist ein Bild des Himmlischen. Die ganze Natur ist für ihn ein "Buch", wie der hl. Antonius der Große von sich gesagt bat.
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Zwei Gefühle, zwei Ideen, zwei Voraussetzungen waren notwendig für die Möglichkeit einer Entstehung der Wissenschaft: erstens das Gefühl und die Idee, welche die gesetzmäßige Einheit der Kreatur zu ihrem Inhalt haben (im Gegensatz zu der launischen Willkür der Dämonen, welche mit sich "alles" erfüllen); zweitens das Gefühl und die Idee, weiche die wahre Realität der Kreatur als solcher behaupten. Nur diese beiden Ideen und Gefühle würden die Möglichkeit geben, mit furchtlosem und geradem Blick in ihr Innerstes einzudringen, vertrauensvoll ganz nah an sie heranzutreten und sie freudig zu lieben.
Es war nötig, in das Bewußtsein - um einen theologischen Ausdruck zu gebrauchen - zwei Dogmen einzuführen, nämlich: das Dogma von der Vorsehung des Einen Gottes und das Dogma von der Erschaffung der Welt durch den Guten Gott, d.h. von der Verleihung eines eigenen und selbständigen Seins an die Kreatur. Die Göttliche Vorsehung und die Freiheit der Kreatur bilden in ihrer Antinomie ein Dogma - das Dogma von der göttlichen Liebe zur Kreatur, welche ihren Grund in der Idee Gottes, der die Liebe ist, d.h. in der Idee der Dreieinigkeit der Gottheit hat. Diese Antinomie erscheint in ihrer ganzen Entschiedenheit als Fundament der zeitgenössischen Wissenschaft. Außer ihr gibt es keine Wissenschaft. Wenn somit früher gezeigt wurde, daß das Dogma der Trinität der Ausgangspunkt der Philosophie ist, so tritt jetzt zutage, daß es als Regel für den Aufbau der Wissenschaft dient.
Beide Ideen, welche dem Bestehen der Wissenschaft als Bedingungen zugrunde liegen, vor allem aber die erstere, waren in den alttestamentlichen Büchern der Bibel enthalten.
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Die hervorragenden Repräsentanten der monotheistischen Gottesauffassung sehen in dem Monotheismus eine Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft, in der Beschäftigung aber mit der Wissenschaft - einen notwendigen Ausdruck und ein Zur-Geltung-kommen ihrer Überzeugungen. "Bei der Herrschaft des Polytheismus dagegen ist die Entstehung der Wissenschaft unmöglich", denn "der Polytheismus prädisponiert den Menschen zur Trennung und Isolierung der Erscheinungen, lenkt die Bewegung seines Denkens nach einer anderen Seite und hält die Entwicklung des Wissens zurück." "In Ländern, wo der Polytheismus herrscht, können von Zeit zu Zeit große Männer erscheinen, welche vermöge eines gewaltigen Aufschwungs ihres Verstandes unter Befreiung von den polytheistischen Begriffen ihres Landes in größerem oder geringerem Maße die Regelmäßigkeit und Einheit der Naturerscheinungen entdecken; aber ihre Begriffe und Anschauungen können nicht Wurzel fassen; sie bleiben ohne jede Wirkung auf die Intellekte und haben infolgedessen keinen Einfluß auf die Entwicklung des Wissens. Das hat seinen Grund darin, daß in den polytheistischen Ländern die Richtung der Geister der Richtung der Wissenschaft völlig entgegengesetzt ist. Der Polytheismus strebt nach Trennung und Isolierung der Welterscheinungen, die Wissenschaft dagegen strebt nach ihrer Vereinigung und Verallgemeinerung. Der Polytheismus macht die Geister geneigt, jede Erscheinung einer besonderen Ursache zuzuschreiben; dagegen lehrt sie die Wissenschaft, die Vielheit der Erscheinungen auf ein und dieselbe Ursache zurückzuführen. Aber indem der Monotheismus die Menschen lehrt, daß alles, was in der Welt vor sich gebt, das eine oberste Wesen zu seinem Prinzip bat, muß er, wie oben gezeigt wurde, unausbleiblich zur Wissenschaft führen."
[...]
Nur das Christentum hat eine bis dahin nie gesehene Verliebtheit in die Kreatur erzeugt und das Herz durch ein liebevolles Erbarmen mit allem Existierenden verwundet. Das "Naturgefühl" - wenn man darunter das Verhältnis zur Kreatur selbst versteht, nicht zu ihren Formen, wenn man in ihm etwas mehr sieht als einen äußeren subjektiv-ästhetischen Genuß der "Naturschönheiten" - dieses Gefühl ist durchaus christlich und außerhalb des Christentums völlig undenkbar, denn es setzt das Gefühl von der Realität der Kreatur voraus. Aber dieses Naturgefühl entstand und entsteht nicht in der Seele der "gemäßigten", protestantisierenden und auf jegliche Art rationalisierenden Homoiusianer, welche dem Verstande alles zu Gefallen tun, sondern bei den Asketen und Bändigern des Verstandes, bei den strengen Vollbringern von Werken - bei den Anhängern der Homousie.
Dieses Verhältnis zur Kreatur wurde erst dann denkbar, als die Menschen in der Kreatur nicht nur eine Schale der Dämonen erblickten, nicht irgendeine Emanation der Gottheit und nicht ihre wesenlose Erscheinung gleich der Erscheinung des Regenbogens in den Wassertropfen, sondern eine selbständige, eigengesetzliche und selbstverantwortliche göttliche Schöpfung, die von Gott geliebt wird und fähig ist, Seine Liebe zu erwidern. Im Gegenteil, alle anderen Vorstellungen, welche die Kreatur zu erheben scheinen, verwandeln sie in Wahrheit in ein Nichts: ihre Selbständigkeit, ihr eigenes Sein und folglich ihre freie Selbstbestimmung ist eine leere Scheinbarkeit. Die Kreatur als solche ist ein entschiedenes Nichts, und real sind nur die Dämonen oder die "Substanz", welche diesem Nichts zugrunde liegt - eine unbekannte und unerbittliche Substanz; aber sowohl die Dämonen als auch die Substanz sind, da sie die Selbst-Begründung der Dreifaltigen Liebe nicht in sich haben, nicht unbedingt und darum ebenfalls scheinbar. Jede Weltanschauung außer dem Christentum ist in ihrem innersten Wesen akosmistisch und atheistisch: für sie gibt es weder Gott noch die Welt.
"Gott kann nicht aufhören, Gott zu sein, wie das Dreieck es nicht verhindern kann, daß die Summe seiner Winkel zwei Rechten gleicht"; der göttliche Egoismus - das war es, was Gott in einen Dämon verwandelte. Im Gegenteil, die christliche Idee Gottes als der Wesentlichen Liebe, als der Liebe in Sich und darum auch außer Sich; die Idee der göttlichen Demut, der Selbst-Erniedrigung Gottes, welche sich zuerst in der Schöpfung der Welt, d.h. in der Schaffung eines selbständigen Seins neben sich, in der Verleihung der Freiheit an dieses, sich nach seinen eigenen Gesetzen zu entwickeln und folglich in der freiwilligen Begrenzung Seiner Selbst manifestiert; die Idee der göttlichen Demut, der göttlichen Selbst-Erniedrigung - diese Idee, sage ich, war vor allem der Boden für die Anerkennung der Selbständigkeit der Kreatur und darum ihrer sittlichen Verantwortlichkeit vor Gott. In der alten Welt konnte es keine sittliche Verantwortlichkeitsidee der Kreatur vor Gott geben, weil es die Idee von der Freiheit der Kreatur nicht d gab. Christus führte die Idee von der göttlichen Demut bis an die äußerste Grenze: indem Gott in die Welt eintritt, legt Er die Gestalt seiner Herrlichkeit ab und nimmt die Gestalt Seiner Kreatur an (Phil. 2, 6-8), unterwirft sich den Gesetzen des kreatürlichen Lebens - stört den Weltlauf nicht, schlendert keine Blitze auf die Welt und betäubt sie nicht mit Donnergetöse, wie die Heiden es sich vorstellten (es genügt, an den Mythos von Zeus und Semele zu erinnern), sondern erstrahlt vor ihr nur m mildem Licht, indem Er Seine sündhafte und zerquälte Kreatur an sich zieht - sie zur Vernunft bringt, aber nicht straft. Gott liebt Seine Kreatur und steht für sie, für ihre Sünde Qual aus. Gott streckt Seine Hände Seiner Kreatur entgegen, bittet und ruft sie zu sich, erwartet Seinen verlorenen Sohn. Aber die an der Spitze der Kreatur stehende Menschheit ist für sie vor Gott verantwortlich, gleichwie auch ein Mensch für den anderen verantwortlich ist.
Freilich ist hier die dogmatische Idee ungenau zum Ausdruck gebracht; aber das geschah mit Vorbedacht, weil sich auf diese Weise die Erlebnisse in einem gröberen und darum anschaulicheren Umriß darstellen.
Die Erwartung der Rettung und der Erneuerung für die Kreatur, das quälende Gefühl der freien Verantwortlichkeit für die Kreatur, das bohrende Mitleid mit ihr, das tiefgehende Bewußtsein der eigenen Ohnmacht - der Ohnmacht wegen der Sünde und Unreinheit - dringen schneidend bis zum verborgenen Tränenquell in die Seele des Asketen ein. Wir, die wir erlöst sind, wir, die wir von Gott alles erhielten, wir, die wir in der Sünde vergraben sind, sehen oft die Welt nicht einmal durch diese Sünde hindurch, obwohl "Gott die Welt also geliebt hat, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde" (Joh. 3, 16, 17); - obwohl Christus in dem feierlichsten Augenblick seines Erdenlebens seinen Jüngern geboten hat: "Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur" (Mark. 16, 15); - obwohl wir "die Hoffnung des Evangeliums" haben, "welches gepredigt ist unter aller Kreatur, die unter dem Himmel ist" (Kol. 1, 23); - obwohl "das ängstliche Harren der Kreatur auf die Offenbarung der Kinder Gottes wartet; sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um des Willen, der sie unterworfen hat auf Hoffnung; denn auch die Kreatur frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar; nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung." (Röm. 8, 19-23)
"Die Liebe zur Natur... Aber die Askese, aber die Flucht vor der Natur?" werden die Weltmenschen einwenden. Als Antwort darauf behaupte ich im voraus, daß der Geist des christlichen Asketentums in der profanen Literatur bisher ganz und gar nicht verstanden worden ist und alles, was über ihn gesagt wird, nur äußerlich und ohne Beweise vorgebracht wird. Die Äußerungen weltlicher Schriftsteller über die geistliche Übung sind meistenteils "klägliche" Worte, zu denen übrigens teilweise die Ungewandtheit ihrer kirchlichen Gegner, teilweise die Unmöglichkeit, über die asketische Erfahrung außerhalb der Erfahrung selbst zu sprechen, den Anlaß gaben. Das hat zur Folge, daß man gewöhnlich den wesentlichen Unterschied des christlichen Asketentums von dem Asketentum der anderen Religionen, insbesondere der indischen nicht sieht. Es ist freilich nicht schwer, ihre Identität zu "beweisen", indem man einzelne Worte und aus dem Zusammenhang gerissene Aussprüche zusammenstellt. Wer aber in das innere Wesen der beiden Arten des Asketentums eingedrungen ist, der wird zugeben, daß es nichts Entgegengesetzteres gibt als eben sie. Jenes Asketentum ist eine Flucht, dieses ist ein Kunstgriff; jenes ist trübe, dieses - freudig. Jenes gründet sich auf die schlimme Botschaft vom Bösen, welches über die Welt herrscht; dieses - auf die frohe Botschaft vom Sieg, welcher das Böse in der Welt bezwungen hat. Jenes gibt die Überlegenheit, dieses - die Heiligkeit. Jenes geht vorn Menschen aus, dieses - von Gott. Jenes verabscheut die Kreatur, obwohl es von ihrem Bösen unwillkürlich angezogen wird, indem es eine magische Gewalt über sie erlangen möchte; dieses ist in die Kreatur verliebt, obwohl es die Sünde haßt, welche sie verzehrt; und der Asket bedarf keiner magischen Kräfte, weil die begnadete Kreatur das Joch der Heteronomie der Sünde fortnehmen und fähig sein wird, durch sich selbst nach dem ihr von Ewigkeit her gegebenen Bilde des Seins zu leben. Für jenes Asketentum ist alles schattenhaft und erscheint nur von außen schön, im Inneren aber ist es greulich und voller Fäulnis; für dieses ist alles voller Realität, und die sichtbare Schönheit ist nur ein "Aufwurf" und Moder im Vergleich zu dem, was sich in dem geheimen Innersten der von Gott erschaffenen Kreatur verbirgt. Für jenes Asketentum ist die Kreatur sklavisch an ihre Ursache gebunden; für dieses übt sie in bezug auf den Schöpfer und Vater freie Selbstbestimmung aus. Für jenes Asketentum ist der Tod das konstitutive Element des kreatürlichen Lebens; für dieses ist er eine sinnlose, zufällige Erscheinung, die von Christus schon in der Wurzel untergraben ist. Jener Asket flieht, um zu fliehen, er versteckt sich; dieser flieht, um rein zu werden, er überwindet. Jener schließt die Augen vor der Kreatur; dieser trachtet danach, sie hell werden zu lassen, um klarer zu sehen. Es gibt gar nichts Entgegengesetzteres als diese beiden Arten des Asketentums. Die Verzweiflung und der Triumph, der Trübsinn und die Freude - das ist schon der anfängliche Unterschied.
Aber je schärfer diese eigenartigen Elemente der christlichen Beziehung zur Kreatur überhaupt und insbesondere zum Menschen hervortreten, um so größer ist das asketische Werk. Ein Christ, der das asketische Werk bis zum äußersten nicht anerkennt, der sich nicht durch Mühsal erzogen hat; ein Christ, der fortfährt, "von dieser Welt" zu bleiben; ein Christ, der unfähig ist und nicht danach strebt, "über dem weltlichen Gefüge" zu sein - ein solcher kann die göttliche Kreatur lästern, vor dieser oder jener natürlichen Erscheinung des kreatürlichen Lebens verächtlich die Stirn runzeln und sich davor ekeln. Sieh nur, ist es nicht die Intelligenz, welche sich vor der Ehe ekelt? Ist nicht Leo Tolstojs "Kreuzersonate" - dieses typische Werk aus der Sphäre der Intelligenz - Schmutz und Lästerung zugleich? Verneint nicht das nachsichtig-verächtliche und im Grunde genommen unflätig-ekle Hindeuten der Männer einer "wissenschaftlichen" Weltanschauung auf den Körper den Körper selbst in seiner geheimnisvollen Tiefe, in seiner mystischen Wurzel? Das Asketentum wird darum nicht anerkannt, weil sein ideelles Wesen nicht anerkannt wird - die Idee der Vergottung, die Idee des heiligen Leibes -, wenn ich mich dieser von den Häretikern verdorbenen Redeweisen bedienen darf.
Die Intellektuellen werfen der kirchlichen Lebensauffassung den metaphysischen Dualismus vor und bemerken selbst nicht, daß sie die Lüge des Dualismus von sich auf die Kirche abwälzen. Indessen enthüllt die kirchenväterliche Theologie in sehr bestimmter Weise die Wahrheit, daß das ewige Leben nicht nur das Leben der Seele, sondern auch dasjenige des Leibes sei; so nach dem hl. Gregor von Nyssa:
h zwh auth ou thV yuchV esti monon, alla kai tou swmatoV. Nicht nur "die Seele des Christen" wird der "göttlichen Natur teilhaftig", sondern auch der Leib; der Mensch vereinigt sich mit Gott geistig und leiblich. Wie Simeon der Neue Theologe sagt, "homo Deo spiritualiter corporaliterque unitur". Die Läuterung des Herzens eröffnet den Ausblick auf die himmlische Welt und gestaltet dadurch den ganzen Menschen. Geheiligt wird die Seele, geheiligt wird auch der Leib; der heiligen Seele ist auch der heilige Leib verbunden.
Die Pfeiler der kirchlichen Lebensauffassung - der heilige Irenäus von Lyon, der heilige Methodius von Patara, der heilige Athanasius der Große, der heilige Johannes Chrysostomos und eine Menge anderer bringen diese Idee so klar zum Ausdruck und beharren auf ihr so unerschütterlich, daß der Leser, welcher das Asketentum mit den Augen der profanen Schriftsteller betrachtet, welche vom Asketentum, entweder aus Unwissenheit oder aus böser Absicht gegen die Kirche, sprechen, notwendig verblüfft sein muß.
Die Idee des heiligen Leibes...
Ihr dient das Fasten; und aus demselben Grunde, dessentwegen das Fasten verworfen wird, schämt sich die Intelligenz des Essens. Das ist aufrichtig, und eben darin liegt das Entsetzliche, daß es aufrichtig ist. Zum Essen, geschweige denn zum Kosten ist der Intellektuelle unfähig - er weiß nicht einmal, was kosten, was heiliges Essen bedeutet: sie "kosten" die Gabe Gottes nicht, sie "essen" nicht einmal die Nahrung, sondern sie verschlingen chemische Stoffe. Es vollzieht sich nur eine tierische, nackte "physiologische Funktion", welche qualvoll beschämend ist; und diese "Funktion" verachtet man, man schämt sich ihrer. Man schämt sich und tut es; darum ißt der Intellektuelle zynisch, verehelicht sich zynisch, herausfordernd, mit Verletzung der eigenen und fremden Schamhaftigkeit. In der Seele ist keine Ruhe und kein Frieden, sondern Verwirrung und Schwere: - das erste Anzeichen einer nicht begnadeten, dem Leben undankbaren Seele, welche die unschätzbare Gabe Gottes verwirft und das Sein hochmütig nach ihrer Art umgestalten möchte.
[...]

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff]

 

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