pawel florenskibiographie |
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1882Pawel Alexandrowitsch
Florenski wird am 9. Januar (am 21. Januar nach dem neuen Kalender)
1882 in der Nähe von Jewlach im Gouvernement Jelisawetpol
in Transkaukasien geboren. Alexander Florenski (rechts, Vater Pawel Florenskis) und seine Schwester Julia, um 1870
Florenskis Mutter, Olga Pawlowna, geb. Saparowa (1859-1951), entstammt einem alten armenischen Adelsgeschlecht aus Karabach. Olga Florenskaja, geb. Saparowa (Mutter Pawel Florenskis), um 1870
Pawel Florenski ist der älteste von sieben Geschwistern. Seine Schwester Julia (1884-1947) wird später Psychiaterin, seine Schwester Jelisaweta (1886-1959) Malerin und Pädagogin, sein Bruder Alexander (1888-1937?) Mineraloge und Kunstwissenschaftler, die Schwester Olga (1890-1914) Malerin und Dichterin, die Schwester Raissa (1894-1932) Malerin und der Bruder Andrej (1899-1961) Militäringenieur. Pawel Florenski (rechts) mit seiner Schwester Julia, um 1887
1883-1900Die Kindheit verbringt Florenski in Batum und Tiflis. Sein Vater baut die Heerstraße zwischen Batum und Achalzich. Die Familie Florenski (2. v. r. Pawel Florenski), um 1888 Pawel Florenski (2. v. l.) mit Julia (l.), seiner Tante Repsimia und seiner Schwester Jelisaweta, um 1889 1892Eintritt in das 2. Klassische Gymnasium in Tiflis; zu seinen Klassenkameraden zählen der spätere Priester und Religionsphilosoph Alexander Jeltschaninow (1881-1934) und der spätere Philosoph Wladimir Ern (1882-1917). 1897Im Juni/Juli Reise nach Deutschland (Dresden, Bonn und Köln) mit seinen Tanten Repsimija Saparowa und Jelisaweta Melik-Begljarowna. In Dresden Interesse für physikalische Instrumente, in Köln besonders für Automaten und Phonographen im Spielzeugmuseum. Pawel Florenski (mitte) mit seiner Tante Jelisaweta Melik-Begljarow (l.) und ihren Mann Sergej, Bonn, 1897 1899Im Frühjahr und Sommer geistige Krise, als ihm "die Begrenztheit des physikalischen Wissens" aufgeht. Mit der Beschreibung dieser Krise schließt Florenskis Autobiographie ab. Hinwendung zu religiösen Fragen. Pawel Florenski als Gymnasiast, um 1898
Am 22. Oktober Brief an Lew Tolstoi: "Lew Nikolajewitsch! Ich habe Ihre Werke gelesen und bin zu dem Schluß gekommen, daß ich nicht so weiterleben darf, wie ich jetzt lebe. Ich beende das Gymnasium, und was vor mir liegt, ist eine Fortsetzung meines Lebens zu Lasten anderer; ich glaube, dem ist nur zu entgehen, wenn ich Ihre Ratschläge befolge; um sie aber in der Praxis anzuwenden, bedarf es noch der Antwort auf einige Fragen: Darf Geld verwendet werden? Wie ist Land zu erlangen? Ist es von der Regierung zu bekommen und wie? Auf welche Weise sind die geistigen Bedürfnisse zu befriedigen? Woher Bücher, Zeitschriften nehmen, wenn kein Geld verwendet bzw. mit körperlicher Arbeit nur für die Ernährung gesorgt werden soll? Kann Zeit für geistige Arbeit (die eigene Bildung) bleiben?" [Pawel Florenski, Leben und Denken. Band I. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1995, S. 70] Pawel Florenski (2. v. l.) vor der Kutsche nach Kodschori od. Manglis, um 1898 Pawel Florenski, 1899 Die Familie Florenski (4. v. l. Pawel Florenski), Tiflis, Oktober 1899 1900-1904Im Juni 1900 Abitur mit Goldmedaille. Im September 1900 Beginn des Studiums der reinen Mathematik an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität. Vorlesungen u.a. bei dem Mathematiker Nikolai Bugajew (1837-1903), dem Begründer der Arithmologie, über Diskontinuität und bei Nikolai Shukowski (1847-1921). Gleichzeitig an der Historisch-Philologischen Fakultät Studium der antiken Philosophie bei dem Solowjowschüler Sergej Trubezkoi (1862-1905), vor allem Platos, außerdem der Psychologie bei Lew Lopatin (1855-1920), einem Freund Wladimir Solowjows (1853-1900). Pawel Florenski als Student, um 1900
Interesse für die Kunst (Museen, Architektur, Konzerte). Beginn der Freundschaft mit dem symbolistischen Dichter Andrej Bely (1880-1934), dem Sohn seines Mathematikprofessors Nikolai Bugajew, Briefwechsel 1904-1914. 1904Über Andrej
Bely lernt Florenski die russischen Symbolisten Valeri Brjussow
(1873-1924), Konstantin Balmont (1867-1942), Dmitri Mereshkowski
(1865-1941), Sinaida Hippius (1869-1945), Wjatscheslaw Iwanow
(1866-1949) und Alexander Blok (1880-1921) kennen. "Man denke an die 'Mutationstheorie' von de Vries in der Biologie, die 'Heterogenese' Korshinskis und die sie bestätigenden Fakten, die Arbeit Tammans zur Thermodynamik und Molekularphysik, das schnell anwachsende Material zur Psychophysik, das Studium des subliminalen Bewußtseins und Schöpfertums in der Psychologie (Du Prel, Myers u.a.), die Fragen nach dem psychischen Leben im ganzen usw. usw., um das bestätigt zu finden. Und selbst die Gesellschaft neigt offenbar den gleichen Ideen oder genauer den gleichen Stimmungen zu. Vielleicht sind der herrschende Individualismus, die allgemein einsetzende Hochschätzung der Persönlichkeit (vgl. den 'Heroenkult' bei Carlyle) u.ä. nichts anderes als ein Heraufdämmern einer neuen diskontinuierlichen Weltanschauung, wenn auch oft in karikaturhaft entstellter Form." [Istorikomatematiceskie issledovanija, Band XXX, Moskau 1986, S. 164] Florenski lehnt das Angebot ab, am Lehrstuhl für Mathematik zu arbeiten. In einem Brief an seine Mutter vom 3. März 1904 schreibt Florenski von seiner Absicht, "eine Synthese von Kirchlichkeit und weltlicher Kultur zu schaffen, sich vollständig mit der Kirche zu verbinden ohne jeden Kompromiß." [Florenski, Leben und Denken. Bd I, S. 79] In zwei russischen
symbolistischen Zeitschriften erscheinen von Florenski Arbeiten
zur Idee der Diskontinuität: "Über eine Voraussetzung
der Weltanschauung" in "Die Waage" (9/1904) und
"Über Symbole der Unendlichkeit (Eine Skizze der Ideen
Georg Cantors)" in "Neuer Weg" (9/1904). 1904-1908Geistliche Leitung durch den Starez Isidor (1814 od. 33-1908), Priestermönch in der Gethsemane-Einsiedelei in Sergijew Posad. Florenski in seiner späteren Biographie über den Starez: "Vater
Isidor liebte es, nicht zueinander Gehöriges zu vermischen.
So besaß er ein Töpfchen mit seiner berühmten
Konfitüre - bestehend aus gewöhnlicher Kirschkonfitüre,
Weintrauben, Moosbeeren, Rosinen, Kvas, und, so scheint es, Rettich.
Vater Isidor erzählte manchmal, wie er diese Konfitüre
hergestellt hatte und verkündete mit einem Lächeln:
'Manchen gefällt es nicht, mir aber macht es nichts, schmeckt
es.' Diese Konfitüre bot er nur wenigen an, den 'Vollkommenen',
so scherzte er, denen er vertraute. Den Übrigen reichte
er gewöhnliche Konfitüre. Tatsächlich, dafür
gab es einen Grund: wer es nicht gewohnt war, vermochte kaum
ein Löffelchen dieser asketischen Konfitüre herunterzuschlucken.
Vater Isidor jedoch aß ganze Löffel davon und lobte
sie sogar. Freundschaft mit Sergej Troizki (1881-1910), dem Studienfreund und Zimmergenossen an der Geistlichen Akademie von 1905-07, an den die ersten Briefe des in diesen Jahren entstehenden Buches "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" gerichtet sind. Er heiratet 1909 Florenskis Schwester Olga. Pawel Florenski (rechts) und Sergej Troizki, um 1907
Florenski sammelt Material zu Sprache und Volkstum im nordrussischen Gouvernement Kostroma u.a. in Tolpygino, dem Heimatort Troizkis. 1905Umgang mit den
Mitgliedern der "Christlichen Kampfbruderschaft" Wladimir
Ern, Valentin Swenzizki, Andrej Bely, Wolshski (Alexander Glinka),
dem Tifliser Priester Iona Brichnitschew (1879-1968), Alexander
Jeltschaninow, evt. auch Sergej Bulgakow (1871-1944) und Nikolai
Berdjajew (1874-1948), die, ausgehend von christlichen Prinzipien,
politische, soziale und kirchliche Reformen fordern. 1906In einem Brief an Andrej Bely vom 31. Januar schildert Florenski sein Lebensideal: "Die Wissenschaft, die Philosophie und all das habe ich längst abgeschrieben, ich betrachte sie nicht mehr wie 'alle'. Sinn und Ziel meiner Tätigkeit erblicke ich nun im Umgang mit der Persönlichkeit, aber nicht in 'tätiger Liebe' und nicht im 'Dienst am Nächsten' (auch dies betrachtete und betrachte ich nicht wie 'alle'), sondern in der Berührung der bloßen Seele mit der bloßen Seele. Wenn man etwas Positives erreichen kann, dann nur in und durch eine Verbindung, bei der man, und handelte es sich auch nur um zwei Menschen, einander bis zum Ende, bis auf den Grund versteht, so daß jeder für den anderen eine Unendlichkeit darstellt. Ich habe verstanden, daß diese Einheit das Fundament für alles, das Postulat jedes Lebens ist. Ist sie aber möglich? Das ist für mich die Schicksalsfrage. Ist sie in einzelnen Momenten ganz real, so verschwindet sie gleich wieder spurlos, und es zeigen sich Grenzen zwischen den Persönlichkeiten. Und es muß einem scheinen, als blieben alle Anstrengungen, diese Grenzen zu überschreiten, nur ein qualvolles Bemühen. [...] 'Werke' an sich, nicht geheiligt durch persönliche Beziehungen, kommen mir unnötig vor; alle 'Werke' sind für mich nur symbolisch wertvoll, insofern sie den persönlichen Umgang ausdrücken und ihm dienen, es geht nicht um periphere Berührungen, sondern innere Gemeinsamkeit." ["... nicht anders als über die Seele des anderen" Andrej Bely und Pawel Florenski. Der Briefwechsel. Texte. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1994, S. 60-61] Am 23. März
wird Florenski, der sich in seiner Predigt "Schrei des Blutes"
in der Kirche der Geistlichen Akademie gegen die Hinrichtung
des Revolutionärs Leutnant Pjotr Schmidt ausspricht, verhaftet
und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, aber auf Fürsprache
des Schriftstellers Grigori Ratschinski (1859-1939) Ostern wieder
entlassen. 1907In Sergijew Posad erscheint Florenskis Gedichtband "Im ewigen Azur". Florenski arbeitet an dem namensphilosophischen Buch "Sakramentale Umbenennung". Pawel Florenski (links), 1907 1908Tod des Vaters
am 22. Januar. Pawel Florenski, um 1908
Eine Zeitlang verkehrt Florenski im "Turm" von Wjatscheslaw Iwanow, wo er mit Maximilian Woloschin (1877-1932) und Alexander Skrjabin (1879-1915) bekannt wird. Briefwechsel Florenskis mit Wjatscheslaw Iwanow. Pawel Florenski (rechts), links Wladimir Ern, um 1908
Abschluß
der Geistlichen Akademie mit der Kandidatenarbeit "Über
die religiöse Wahrheit", die zur Grundlage der Magisterdissertation
von 1912 und seines Buches "Der Pfeiler und die Grundfeste
der Wahrheit" von 1914 wird. Für die von Jeltschaninow
herausgegebene "Geschichte der Religion" (Moskau 1909)
verfaßt Florenski zusammen mit dem Herausgeber den Artikel
"Orthodoxie".
1908-1918Nach zwei Probevorlesungen "Die allgemeinmenschlichen Wurzeln des Idealismus" und "Die kosmologischen Antinomien Immanuel Kants" (beide 1909 als Sonderdrucke aus dem "Theologischen Boten" in Sergijew Posad erschienen) beginnt Florenski am 23. September 1908 in der Moskauer Geistlichen Akademie seine Tätigkeit als Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie. Vorlesungen zur antiken Philosophie (besonders Platos), zur Philosophie Kants und zur Philosophie des Kults und der Kultur. Als Grundvoraussetzung für die Vorlesung bezeichnet Florenski "das Interesse am Kleinen, an den Einzelheiten, an den Feinheiten, an den feinsten Zügen, welche die zu untersuchende Erscheinung in ihrer lebendigen Individualität und nicht nur 'im allgemeinen', im Schema beschreiben." [zitiert nach: Michael Silberer, Die Trinitätsidee im Werk von Pavel A. Florenskij. Versuch einer systematischen Darstellung in Begegnung mit Thomas von Aquin (= Das östliche Christentum. Neue Folge, Bd. 36), Würzburg 1984, S. 17-18] 'Pawel Florenski, 1909
"Grenzen der Gnoseologie. Die Grundantinomie der Erkenntnistheorie" erscheint im "Theologischen Boten". Die Zeitschrift druckt auch laufend Florenskis Gutachten der Kandidatenarbeiten seiner Studenten. 1909-10Jahre einer schweren seelischen Krise: Um Priester zu werden, muß Florenski entweder Mönch sein oder heiraten. Pawel Florenski (mitte), um 1909 1910Ehe mit der Rjasaner Bauerntochter Anna Michailowna Giazintowa (1889-1973). Mit seiner Frau Umzug in die Schtatnaja Straße in Sergijew Posad. Aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor. Pawel Florenski (rechts) mit seiner Frau Anna und ihrem Bruder Wassili Giazintow, 1911
Beziehung zu dem Ethnologen Alexej Wetuchow (1869-1941?). Briefwechsel. 1911Durch den Rektor
der Moskauer Geistlichen Akademie Bischof Feodor wird Florenski
am 23. April zum Diakon und einen Tag später zum Priester
geweiht. Pawel Florenski, 1912
Pawel Florenski, 1912 1912-17Redakteur der Zeitschrift der Geistlichen Akademie "Theologischer Bote". Als Autor ist er besonders durch editorische und biographische Beiträge vertreten. Enge Beziehungen zur Moskauer slawophilen Intelligenz in der "Religiös-Philosophischen Gesellschaft zum Gedenken an Wladimir Solowjow" und um den Verlag "Der Weg". Briefwechsel mit dem Philosophen Wladimir Koshewnikow (1852-1917) und mit Feodor Samarin (1858-1916), bei dessen Tod er eine Gedenkrede hält. Pawel Florenski (vorn mitte) an der Geistlichen Akademie, Moskau, 1912 Pawel Florenski (vorn rechts) neben ihm Sergej Bulgakow, 1913
Pawel Florenski (rechts) und Michail Nowoselow, 1913 1912-21Gottesdienst in der Maria Magdalena geweihten Hauskapelle der Barmherzigen Schwestern des Roten Kreuzes in Sergijew Posad. 1914Mit der Verteidigung
der Magisterdissertation "Über die geistliche Wahrheit.
Versuch einer orthodoxen Theodizee" erhält Florenski
den Grad eines Magisters der Theologie und die Berufung zum außerordentlichen
Professor an die Geistliche Akademie. Er übernimmt den Lehrstuhl
für Philosophie seines Vorgängers und Förderers
Alexej Wwedenski (1861-1913). Über die Magisterdissertation
kommt es zum Briefwechsel mit dem Philosophen Fürst Jewgeni
Trubezkoi. 1915Im Januar/Februar
an der Front als Regimentsgeistlicher in einem Sanitätszug.
Tagebuchaufzeichnungen.
Pawel Florenski mit seiner Frau und Sohn Wassili, Sergijew Posad, 1915
1916Der Dichter
Welimir Chlebnikow (1885-1922) besucht Florenski in Sergijew
Posad. Gespräche über Chlebnikows "Gesetze der
Zeit". Florenski verfaßt "Notizen zur Anthropologie": "[1916.
18. XI. Sergijew Posad. Bei der Lektüre der 'Metaphysik'
von Aristoteles] Pawel Florenski, um 1917 1917Besuch bei dem Maler Michail Nesterow (1862-1942) in seinem Atelier in Abramzewo. Im Mai malt Nesterow das Doppelporträt von Pawel Florenski und Sergej Bulgakow "Philosophen". Michail Nesterow, Philosophen, 1917 [Pawel Florenski (links) und Sergej Bulgakow]
Das Buch "Die
ersten Schritte der Philosophie" erscheint in Sergijew Posad.
In der Widmung für Sergej Bulgakow heißt es u.a.:
"Sieben Jahre der Erprobung unserer Freundschaft haben meine
Verehrung und Liebe zu Ihrem geistigen Antlitz vertieft."
[Florenski, Leben und Denken. Bd. I, S. 19] Nach der Februarrevolution beginnt Florenski mit der Niederschrift seines Testaments "Meinen Kindern: Anna, Wassili und Kirill und Oletschka - für den Fall meines Todes", das er bis 1923 laufend ergänzt: "[1917.
11. IV. Sergijew Posad]
Pawel Florenski (vorn mitte) mit seiner Familie, Sergijew Posad, 1917
In einem Brief vom 30. Juli an die Gutsbesitzerin in Abramzewo, Alexandra Mamontowa, schreibt Florenski: "Alles,
was um uns herum vorgeht, ist natürlich quälend für
uns. Aber ich glaube und hoffe, daß der Nihilismus, wenn
er sich erschöpft hat, seine Nichtigkeit erweisen, allen
übersein und Haß gegen sich herausfordern wird und
dann, nach dem Untergang all dieser Scheußlichkeit, die
Herzen und Hirne nicht mehr wie früher lau und furchtsam
sein, sondern sich ausgehungert der russischen Idee, der Idee
Rußlands, der heiligen Rus zuwenden werden. [...] Pawel Florenski (vorn mitte) mit den Sängern der Maria Magdalena geweihten Hauskapelle der Barmherzigen Schwestern des Roten Kreuzes, Sergijew Posad, 1917
Ende Oktober, Anfang November skizziert Florenski ein umfangreiches Vorhaben, das u.a. den Titel "Erste Entwürfe einer konkreten Metaphysik" trägt und später "An den Wasserscheiden des Denkens" benannt ist. Zu den frühesten Texten gehört offenbar "Makrokosmos und Mikrokosmos"; die erste zusammenhängende Niederschrift als Teilmanuskript einer Vorlesungsreihe trägt das Datum 21.9.1917: "In den Anschauungen der Renaissancezeit begegnet die Parallele zwischen Makro- und Mikrokosmos durchaus häufig. So wird in der 'Geheimen Philosophie' des Agrippa von Nettesheim folgende Überlegung angestellt: 'Als das vollkommene Ebenbild ist der Mensch das schönste aller Werke Gottes, also ein Mikrokosmos, und enthält deshalb in sich alle Zahlen, Maße, Gewichte, Bewegungen und Elemente. Darum haben die Alten ehemals die Zahlen mit den Fingern bezeichnet und in den Teilen des menschlichen Körpers selbst haben sie alle Zahlen, Maße, Proportionen und Harmonien gefunden. Vom menschlichen Körper haben sie abgeleitet und nach dem Maße des Körpers hergestellt alle Tempel, Häuser, Theater, ja auch Schiffe, Maschinen und andere künstliche Bauten jeglicher Art, wie auch alle ihre Teile und Glieder.'" [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1988, Nr. 12, S. 41-42. Übersetzt von Jörg Milbradt] 1918Im Januar/Februar
die autobiographische Skizze "Ungeordnete Notizen über
meinen Vater Alexander Iwanowitsch Florenski". 1918-20Wissenschaftlicher Sekretär der Kommission zum Schutze der Kunstschätze und Altertümer des Dreifaltigkeits-Sergi-Klosters. Theoretische Arbeiten zur altrussischen Kunst: "Das Dreifaltigkeits-Sergi-Kloster und Rußland", über dessen geistigen Ort Florenski schreibt:"Hier begegnet uns nicht nur Ästhetik, sondern das Gefühl für Geschichte, das Empfinden der Volksseele, die Wahrnehmung der russischen Staatlichkeit als Ganzes und der schwer erklärbare, aber unbeugsame Gedanke: daß hier in der Lawra, besonders hier, obwohl unverständlich wie, im ideellen Sinne die öffentliche Meinung entsteht, hier wird das Urteil der Geschichte geboren, hier wird absolutes Gericht über alle Seiten des russischen Volkslebens gehalten. Das gerade bildet die umfassende, lebendige Einheit der Lawra als Mikrokosmos und Mikrogeschichte, im gewissen Sinne als Konzept des Wesens unserer Heimat, das gibt der Lawra den Charakter eines Noumenon. Spürbarer als irgendwo sonst schlägt hier der Puls der Geschichte, hier führen die Nervenstränge zusammen, hier macht sich Rußland in seinem ganzen Wesen bemerkbar." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1988, Nr. 1, S. 6. Übersetzt von Jörg Milbradt] Weiter entstehen: "Die Gebetsikonen des hl. Sergi", "Himmlische Zeichen", "Die umgekehrte Perspektive" und "Der Kultakt als Synthese der Künste" - darin heißt es: "Ich denke mir die Lawra als eine Art Versuchsstation und Laboratorium zum Studium der wichtigsten Probleme der modernen Ästhetik, in manchem ähnlich etwa dem heutigen Athen. Dann vollzöge sich die theoretische Erörterung der mit der Sakralkunst verbundenen Fragen nicht isoliert von der praktischen Beschäftigung mit ebendieser Kunst, sondern unmittelbar im Angesicht der ästhetischen Erscheinung, an der das theoretische Räsonnement sich kontrollieren und nähren kann." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1988, Nr. 9, S. 36. Übersetzt von Jörg Milbradt] 1918-21Florenski sammelt Material für eine Biographie über Bischof Antoni (Florensow). 1919-1924Nach Schließung der Moskauer Geistlichen Akademie 1918 setzt Florenski seine Vorlesungen auf Bitten des Bischofs Feodor inoffiziell fort. Seiner Bitte vom September 1924, auf Grund von Meinungsverschiedenheiten mit der neuen Kirchenleitung ihn von seinem Lehramt zu entbinden, scheint nicht stattgegeben worden zu sein. 1919Am 23. Januar (5. Februar n. n. Kal.) stirbt der Schriftsteller und Philosoph Wassili Rosanow (geb. 1856) in Sergijew Posad. Florenski hat sich in den letzten Monaten um Rosanow gekümmert, sie schätzten sich gegenseitig sehr und standen seit 1909 im Briefwechsel. Bei aller Nähe hat Florenski aber den Unterschied zwischen Rosanow und sich selbst betont. Am 26. Oktober 1915 schrieb er im Zusammenhang mit seinen genealogischen Forschungen in einem Brief an Rosanow: "Ja, lieber Wassili Wassiljewitsch, unsere Ähnlichkeit reicht in große Tiefen, das, worin wir voneinander abweichen, ist aber nicht weniger tiefgehend. Unsere Ähnlichkeit: Die schneidend schmerzhafte Liebe zum Konkreten, zum Blutvollen und, genau gesagt, zur Wurzel - zur Wurzel der Persönlichkeit, der Geschichte, des Seins, des Wissens. Ich denke, diese Liebe ist ein Erbteil Kostromas, denn es gibt in ganz Rußland und vielleicht auf der ganzen Welt niemand, der seinem Geschmack, seiner Beschaffenheit, der Organisation seiner Seele nach wurzelhafter wäre als die Leute aus Kostroma, besonders aus dem Gebiet jenseits der Wolga. Von da kommt die organische Abneigung gegen alles, was wurzellos ist, was die Wurzeln zerfrißt, was nicht aus der Wurzel wachsen will, sondern 'aus sich selbst'. Aber da liegt nun auch die Verschiedenheit. Sie, der Sie sich in der Literatur 'wie zu Hause' fühlen, sprechen alles aus, was in der Seele aufblitzt, während ich mich nirgends zu Hause fühlen will, außer in dem vertrauten dunklen Wiegen-Grab, in der vertrauten Erde, und meinen Schmerz und meine Freude an ihrem höchsten Punkt nur der Mutter Erde sage. Ich glaube, daß diese Sehnsucht nach dem Schoß auch von Kostroma kommt: Die Leute von Kostroma sind verschlossen und zeigen ihre Seele keinem." [Pawel Florenski, Leben und Denken. Band II. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1996, S. 18] Vorträge in der "Allrussischen Assoziation der Ingenieure" und der "Russischen Gesellschaft der Elektrotechniker" u.a. über "Das Prinzip der Diskontinuität". 1919-21Unterricht in
Physik, Geometrie, Mathematik, Astronomie und Geschichte der
materiellen Kultur am Volksbildungsinstitut in Sergijew Posad.
Die Vorlesungen zur Mathematik sollen in einer "Enzyklopädie
der Mathematik" zusammengefaßt werden. Dazu gehört
die geplante Arbeit "Die Zahl als Form", aus der nur
der erste Teil "Die pythagoräischen Zahlen" bekannt
geworden ist. 1921/22 wird "Die Zahl als Form" zum
Druck vorbereitet; für das Titelblatt macht Wladimir Faworski
(1886-1964) einen Holzschnitt; das Buch erscheint nicht. "In eben diesen Jugendjahren festigte sich die Grundüberzeugung, daß alle möglichen Seinsgesetze schon in der reinen Mathematik enthalten seien als der ersten konkreten und deshalb brauchbaren Selbstmanifestation der Denkprinzipien - das, was man mathematischen Idealismus nennen könnte. Und in Verbindung mit dieser Überzeugung zeigte sich das Bedürfnis, mir eine philosophische Weltanschauung aufzubauen, welche sich auf die vertieften Grundlagen mathematischer Erkenntnis stützt." [zitiert nach: Silberer, Trinitätsidee, S. 6-7] Zu seinem Werdegang als Mathematiker notiert Florenski in einer Eintragung in Iwan Shegalkins Buch "Transfinite Zahlen" (Moskau 1907): "In Universitätskreisen, zumindest in Moskauer, bin ich es gewesen, der als erster von transfiniten Zahlen und von Mengen gesprochen hat. Diese Fragen waren damals allen ohne Ausnahme ganz fremd, es ging nicht darum, ob man Cantors Arbeiten anerkannte oder nicht, man kannte sie nicht. Meine Beschäftigung mit diesen Fragen erschien zu Beginn wie Narretei und unnützes Spiel mit halbtheologischen Abstraktionen. Das erste, was an der Moskauer Universität darüber gesagt wurde, stammte von mir. Ich hielt in der Religiös-Philosophischen Studentengesellschaft und in dem Mathematischen Studentenzirkel Vorträge über transfinite Zahlen und über Mengen; im Mathematischen Zirkel waren auch mehrere Professoren anwesend. Das war im Jahre ..., ich war damals Student des ... Studienjahres. Ich habe dann einen populären Aufsatz zu diesem Thema unter der Überschrift 'Über Symbole der Unendlichkeit' veröffentlicht, und zwar fand er Aufnahme im 'Neuen Weg'. In der Folge erlebte ich, wie man sich den tranfiniten Zahlen zuwandte, endlich gab es dazu eine ganze Dissertation von I. I. Shegalkin. Da ich mich also für den Initiator des Studiums der transfiniten Zahlen in der russischen Wissenschaft halte, hätte ich meiner Meinung nach wenigstens eine flüchtige Erwähnung in der diesen Fragen gewidmeten Spezialdissertation und den Bibliographien verdient; man hat aus meinem Aufsatz mehrfach geschöpft (vgl. z.B. die 'Mathematische Bildung'), ohne meinen Namen mit einem Wort zu erwähnen. Priester P. Florenski 8.2.1920 Sergijew Posad" [Florenski, Leben und Denken. Bd. I, S. 135] 1920Florenski wird
zu einem Vortrag über das Kloster ins Kommissariat für
Volksbildungswesen bestellt. 1921-24Forschungsarbeit
im Rahmen der von Leo Trotzki geleiteten Hauptverwaltung der
Elektroindustrie beim Obersten Volkswirtschaftsrat der RSFSR
auf den Gebieten Hochspannungstechnik, Nichtleiter, Transformatoren. 1921Vorlesungen
an der Geistlichen Akademie im Moskauer Petrowski-Kloster über
den "Kulturgeschichtlichen Ort und Voraussetzungen des christlichen
Weltverständnisses".
1922Das Buch "Imaginäre Größen in der Geometrie", 1902 begonnen, wird abgeschlossen und erscheint im Druck. Das Buch erregt Aufmerksamkeit; zu seinen Bewunderern zählen Maximilian Woloschin, Ossip Mandelstam, Wsewolod Iwanow, Maxim Gorki, Michail Prischwin, Jewgeni Samjatin und Michail Bulgakow sowie der Philosoph Alexej Lossew; bei der Kritik stößt besonders das Schlußkapitel über das Weltbild in Dantes "Göttlicher Komödie", das Florenski mit Hilfe der Relativitätstheorie rehabilitiert, auf Widerspruch und wird schließlich Anlaß zu seiner Verfolgung. In einem Brief "An die Politabteilung" vom 13. September 1922 wendet sich Florenski gegen Streichungen im Schlußkapitel: "Bei der Ausarbeitung einer monistischen Weltanschauung, der Ideologie eines konkreten tätigen Verhältnisses zur Welt war und bin ich dem Spiritualismus, dem abstrakten Idealismus und der abstrakten Metaphysik prinzipiell feind. Seit je war ich der Meinung, die Weltanschauung müsse feste, lebendig konkrete Wurzeln haben und in einer lebendigen Verkörperung in der Technik, in der Kunst usw. gipfeln. Insbesondere vertrete ich eine nichteuklidische Geometrie mit dem Ziel technischer Anwendung in der Elektrotechnik (meine große Arbeit über Räume und elektrische Felder wird in Kürze veröffentlicht werden). In Anbetracht dessen darf die zur Rede stehende Passage meiner Broschüre nicht losgelöst interpretiert, sondern muß im Zusammenhang mit dem gesamten Buch über die imaginären Größen und meinen wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt gesehen werden, die in Kürze in den technischen Sammelbänden der Hauptverwaltung für Elektroindustrie erscheinen (die Theorie der imaginären Größen ist physikalisch und folglich technisch anwendbar)." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 204] Der Verlag "Pomorje" kündigt Florenskis Buch "An den Wasserscheiden des Denkens (Grundzüge einer konkreten Metaphysik)" an, mit folgendem Aufbau der ersten Lieferungen: I II III Weitere Lieferungen
sollen die folgenden Gegenstände behandeln: Abschluß der Arbeit "Die Ikonostase" als Teil der "Philosophie des Kults": "Hinsichtlich der geistigen Welt sucht die stets lebendige und schöpferische Kirche keineswegs, die alten Formen als solche zu verteidigen, sie bringt sie auch nicht in Gegensatz zu den neuen Formen als solchen. Das kirchliche Kunstverständnis war, ist und wird eines sein - Realismus. Das bedeutet: die Kirche, 'die Säule und Grundfeste der Wahrheit', fordert nur eines - die Wahrheit. Ob es Wahrheit in alten oder in neuen Formen ist, danach fragt die Kirche nicht, sie fordert stets nur die Beglaubigung, daß etwas wahr ist, und wenn die Beglaubigung vorliegt, so segnet sie es und verleibt es ihrer Schatzkammer der Wahrheit ein - wenn nicht, weist sie es zurück." [Pavel Florenskij, Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland. Übersetzung und Einführung von Ulrich Werner, Stuttgart 1988, S. 89] Florenski wird
Mitglied der literarisch-künstlerischen Vereinigung "Makowez".
In der Zeitschrift "Makowez", die in ihrem Programmartikel
"Unser Prolog" vom Ende der analytischen Kunst spricht,
erscheint Florenskis Aufsatz "Himmlische Zeichen. Gedanken
über die Symbolik der Farben", dessen Einleitung sich
auf Goethes Farbenlehre stützt, und "Der Kultakt als
Synthese der Künste". Zu den Schriftstellern, die in
"Makowez" veröffentlichen, gehören Welimir
Chlebnikow und Boris Pasternak. 1923Angesichts der
Einführung neuer Vor- und Familiennamen und der massenhaften
Umbenennung von Fabriken, Straßen und Städten gewinnt
Florenskis Buch "Namen", das er zwischen 1923 und 1926
diktiert und das ein umfangreiches Kapitel über den Namen
Pawel (Paul) enthält, besondere Bedeutung. Florenski
hatte sich schon 1906/07 mit der Philosophie des Namens beschäftigt
und war im Zusammenhang mit dem Athos-Streit um den Namen Gottes
1912/13 darauf zurückgekommen, vgl. "Über den
Namen Gottes" und "Namensverehrung als philosophische
Voraussetzung".
1924In der englischen Zeitschrift "The Pilgrim" (4/1924) erscheint Florenskis Aufsatz "Christentum und Kultur". Florenski versucht hier, die Thesen seines ehemaligen Universitätslehrers Lew Lopatin "zur Grundlage eines Weltbunds zur Wiedergeburt des Christentums zu machen": "Wenn ich
der Aufrichtigkeit eines wie immer festgeschriebenen Christus-Bekenntnisses
vertraue, sind damit auch Möglichkeit und Notwendigkeit
gegenseitiger Anerkennung und Gemeinschaft gegeben, denn jedes
konkrete Leben entfaltet sich, wie aus einer Knospe, von daher
und allein von daher. Alles übrige hängt hingegen vom
Klima und vom Boden ab, auf dem der Same des Glaubens gedeiht.
Pluralität und Unterschiede wird es zwangsläufig geben.
Einmal auf Grund der unterschiedlichen geistigen Reife: Einige
Konfessionen mögen noch nicht zu bestimmten Manifestationen
des religiösen Lebens herangereift sein und sich noch von
Milch statt von fester Speise (vgl. Hebr. 5, 12) nähren. Beginn der Arbeit
im Moskauer "Vereinigten Komitee für elektrotechnische
Normen und Regeln". Die Monographie "Nichtleiter und
ihre technische Anwendung" erscheint. 1925-1933Florenski ist Leiter der Abteilung für Materialkunde am Staatlichen Forschungsinstitut für Elektrotechnik und fährt im Sommer 1925 in den Kaukasus, um die Möglichkeiten zur Herstellung von Schmelzbasalt als Isolierstoff zu prüfen. Pawel Florenski, um 1925 1925In der Zeitschrift "Elektrifizierung" erscheint der Artikel "Die Weltenergievorräte". 1926Festvortrag zum 50. Jahrestag der Erfindung der Glühbirne durch Pawel Jablotschkow. Pawel Florenski mit seiner Tochter Maria-Tinatin, Sergijew Posad, 1926
Pawel Florenski mit seinen Kindern Michail und Olga, Sergijew Posad, 1926
Pawel Florenski (2. v. l.) mit seiner Familie, Sergijew Posad, 1926 1927-33Redakteur der "Technischen Enzyklopädie", Verfasser von 134 Lexikonartikeln in den Bänden 1-23. 1927-36Briefwechsel mit dem Geochemiker und Philosophen Wladimir Wernadski (1863-1945), der schon 1921 durch das Buch "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" auf Florenski aufmerksam geworden ist. Florenski interessiert sich für Wernadskis Arbeiten über Kristallographie und Mineralogie im Hinblick auf seine eigenen Forschungen zur elektrotechnischen Materialkunde. Parallele Überlegungen zur Noosphäre (Wernadski) und Pneumatosphäre (Florenski). 1927Florenskis "Autorreferat" von 1924 erscheint stark gekürzt in der Enzyklopädie des Russischen Bibliographischen Instituts "Granat", Bd. 44: "Seine Lebensaufgabe versteht F. als Wegbereitung einer künftigen ganzheitlichen Weltanschauung. Für das Grundgesetz der Welt hält F. das Prinzip der Thermodynamik - das Gesetz der Entropie, der allgemeinen Nivellierung (Chaos). Der Welt entgegen steht das Gesetz der Ektropie (Logos). Kultur ist der Kampf mit der Nivellierung der Welt - dem Tod. Kultur (von 'Kult') ist ein organisch zusammenhängendes System von Mitteln zur Verwirklichung und Offenbarung eines Wertes, der als unbedingt angenommen wird und daher als Gegenstand des Glaubens dient. Der Glaube bestimmt den Kult, der Kult das Weltverständnis, aus dem weiter die Kultur folgt. Die allgemeine Weltgesetzmäßigkeit ist als funktionale Abhängigkeit zu verstehen, diskontinuierlich hinsichtlich der Verbindungen und diskret hinsichtlich der Realität als solcher. Diese Diskontinuität und Vereinzelung in der Welt führt zur pythagoräischen Behauptung der Zahl als Form und zu dem Versuch, die 'Ideen' Platos als Urbilder zu erklären." [Enciklopediceskij slovar', Band 44, Moskau 1927, Sp. 143-144] Über sein Verhältnis zur Politik schreibt Florenski zur gleichen Zeit: "Zu Fragen der Politik habe ich so gut wie nichts zu sagen. Entsprechend meiner Veranlagung, der Art meiner Beschäftigungen und der aus der Geschichte gewonnenen Überzeugung, daß sich die historischen Ereignisse ganz und gar nicht so entwickeln, wie die daran Beteiligten das vorsehen, sondern nach bis heute ungeklärten Gesetzen gesellschaftlicher Dynamik, habe ich mich stets von der Politik ferngehalten und darüber hinaus die Ansicht vertreten, daß es für die Gesellschaft schädlich ist, wenn sich Männer der Wissenschaft, die berufen sind, leidenschaftslose Experten zu sein, in den politischen Kampf einmischen. Niemals im Leben habe ich einer politischen Partei angehört." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1990, Nr. 10, S. 39. Übersetzt von Jörg Milbradt] 1928Im Mai Verhaftung
mit anderen Geistlichen und Gläubigen in Sergijew Posad.
Florenski wird vorgeworfen, unter dem Deckmantel wissenschaftlicher
Arbeit religiöse Propaganda betrieben zu haben, als Beweis
dient das Buch von Florenski und Juri Olsufjew über den
russischen Graveur des 15. Jahrhunderts Amwrosi. Pawel Florenski in der Verbannung, Nishi Nowgorod, 1928
Pawel Florenski in der Verbannung, Nishi Nowgorod, 1928
Pawel Florenski, Nishi Nowgorod, 1928
Mit Hilfe des Politischen Roten Kreuzes, dessen Vorsitzende Maxim Gorkis erste Frau Jekaterina Peschkowa ist, kann Florenski im September nach Moskau zurückkehren. Nach seiner Rückkehr ist er weiterhin Leiter der Abteilung Materialkunde am gleichen Institut. Pawel Florenski (4. v. r.) mit Mitarbeitern im Laboratorium für Materialkunde, Moskau, 1928
"Es gehört zur Gruppe der organischen Stoffe, mit denen die Industrie in einen offenen Wettbewerb mit der Natur tritt und die in diesem Sinne als Zeichen einer neuen, einer synthetischen Epoche im Verhältnis zur Welt angesehen werden können. Das frühere Verhältnis kam in der Reinigung, in der Trennung, in der Analyse zum Ausdruck. Das neue Verhältnis gibt sich nicht mit den fertigen Produkten zufrieden, sondern stellt sie durch künstliche Verbindungen her, indem sie den Prozeß auf vorher festgelegte Ziele hinlenkt. Drei Reiche der Natur - das Tierreich in Gestalt seiner Erdölprodukte, das Pflanzenreich in Gestalt seiner Steinkohlenprodukte und der trockenen Holzdestillation und schließlich das Mineralreich in Gestalt verschiedener Salze und anorganischer Verbindungen - müssen vereint werden, damit der feste Körper Carbolit entsteht, der gleichzeitig an die Festigkeit des Holzes, die Haltbarkeit des Kautschuks, an Harz und Knochen erinnert, aber sie alle durch die harmonische Verbindung ihrer technischen Eigenschaften übertrifft." [Michael Hagemeister, P. A. Florenskij und seine Schrift "Mnimosti v geometrii". In: P. A. Florenskij, Mnimosti v geometrii. Moskva 1922. Nachdruck nebst einer einführenden Studie von Michael Hagemeister (= Specimina Philologiae Slavicae, Supplementband 14), München 1985, S. 40]
Pawel Florenski (hinten mitte), Umgebung von Sergijew Posad, 1928
Pawel Florenski mit seiner Familie, Umgebung von Sergijew Posad, um 1929
1929Teilnahme an Konferenzen über Isolierstoffe, Graphit, Glimmer. 1930Florenski wird zum stellvertretenden Direktor für Wissenschaft am Allunionsinstitut für Elektrotechnik ernannt und leitet außer der Abteilung Materialkunde die Abteilungen Vakuum-, Röntgen-, Meß- und Lichttechnik. 1931Auf Grund eines
postum in Paris veröffentlichten Vortragsmanuskriptes, das
nicht Florenskis Namen trägt, aber seinen Gedankengängen
nahekommt, wird vermutet, daß er im Januar in einem kleinen
Kreis über Alexander Blok gesprochen hat. 1932Florenski wird
Mitglied der Kommission zur Standardisierung der wissenschaftlich-technischen
Bezeichnungen, Fachtermini und Symbole beim Rat für Arbeit
und Verteidigung der UdSSR. Vertrag mit der Verlagsabteilung
der Luftstreitkräfte der Roten Armee über das Buch
"Elektrotechnische Materialkunde", das zu Florenskis
Lebzeiten nicht erschienen ist. "Den Mathematikern wird nichts anderes übrigbleiben, als offen das Telepathische ihrer Erkenntnis zu bekunden oder aber ebenso offen zuzugeben, daß ihr Wissen ein vermitteltes sei und damit in die Mathematik etwas als legitim einzuführen, dessen sie sich immer auf illegitime Weise bedient haben - die intuitive Wahrnehmung der verschiedenen Wirkkräfte der Natur und der ihnen innewohnenden Eigenschaften. Dann wird die mathematische Axiomatik von Grund auf umgestaltet werden müssen. Eine verhältnismäßig geringfügige Verschiebung auf das Physikalisch-Intuitive mathematischer Kenntnisse hin (ich meine die beiden Relativitätsprinzipien) hat zu unüberblickbaren Folgen geführt. Bis in welche Tiefen wird das mathematische Denken umgestaltet werden müssen, wenn man sich einmal das Bedingte und Scholastische des heutigen mathematischen Formalismus klargemacht und begriffen hat, daß die Mathematik vom Leben ausgeht, von ihm gespeist wird und ihm dient. [...] Wie oben dargelegt, stützt sich die Mathematik wesentlich auf die Intuition, und zwar nicht auf eine vereinzelte, bresthafte und eingeschmuggelte Intuition, das zugestandene Minimum an Leben, sondern auf die ganze Fülle des Lebens." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 237, 238]
Pawel Florenski mit seiner Frau und Sohn Michail, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932
Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932
Pawel Florenski mit seiner Frau, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932
Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932
Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932
Pawel Florenski mit seiner Frau und Sohn Michail, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932 Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932 Pawel Florenski, Umgebung von Sagorsk (Sergijew Posad), 1932 Pawel Florenski, Umgebung von Sagorsk (Sergijew Posad), 1932 1933-1937Am 25. Februar 1933 wird Florenski in seiner Moskauer Dienstwohnung von der Geheimpolizei GPU verhaftet. Die Anklage lautet auf "Konterrevolutionäre Agitation und Propaganda sowie organisierte konterrevolutionäre Tätigkeit". Ziel dieser Tätigkeit, angeblich in einer "Partei der Wiedergeburt Rußlands": Bildung einer sich auf die orthodoxe Kirche stützenden republikanischen Regierung und die Union zwischen katholischer und orthodoxer Kirche. Pawel Florenski nach seiner Verhaftung, Moskau, 27. Februar1933
"Als Surrogat
einer solchen Persönlichkeit, als Zwischenstufe der Geschichte,
erscheinen Akteure vom Schlage Mussolinis, Hitlers u.a. Historisch
ist ihr Erscheinen zweckmäßig, da es den Massen die
demokratische Denkungsart sowie die Vorurteile über Parteien,
Parlamente und ähnliches abgewöhnt und ihnen einen
Vorgeschmack davon gibt, wieviel der Wille bewirken kann. Doch
besitzen diese Gestalten noch kein echtes Schöpfertum, und
es scheint, als seien sie nur die ersten Versuche der Menschheit,
den Helden hervorzubringen. Die künftige Ordnung unseres
Landes erwartet denjenigen, der über Willen und Intuition
verfügt und sich nicht scheuen würde, offen die Fesseln
der Repräsentation, des Parteiensystems, des Wahlrechts
usw. zu zerbrechen, und der sich ganz dem Ziel, das ihn anzieht,
widmen würde. Alle Rechte auf die Herrschaft, [...] ob sie
auf Wahlen oder auf Ernennung beruhen, sind alter Plunder, der
ins Krematorium gehört. Zur Schaffung der neuen Ordnung,
die eine neue Periode der Geschichte und eine ihr entsprechende
neue Kultur eröffnen soll, gibt es nur ein Recht die
Kraft des Genies, die Kraft, diese Ordnung zu errichten. Dieses
Recht ist allerdings nicht menschlichen Ursprungs und verdient
deshalb göttlich genannt zu werden. Und wie auch immer sich
dieser Schöpfer der Kultur nennen mag Diktator, Lenker,
Imperator oder sonstwie , wir werden ihn für einen
wahren Selbstherrscher halten und uns ihm nicht aus Furcht unterwerfen,
sondern in der zitternden Erkenntnis, daß wir es mit einem
Wunder zu tun haben und der lebendigen Erscheinung der Schöpferkraft
der Menscheit." [Literaturnaja ucheba, 3/1991, S. 98. Übersetzt
von Michael Hagemeister] 1934Überführung auf die Versuchsstation zur Erforschung des Eisbodens in Skoworodino im Amurgebiet. Arbeiten zu den mechanischen Eigenschaften und der elektrischen Leitfähigkeit des Dauerfrostbodens, die Eingang finden in das 1940 in Moskau erscheinende Buch "Das Bauen auf Dauerfrostboden" von Nikolai Bykow und Pawel Kapterew. Kapterew, ebenfalls seinerzeit Mitarbeiter in der Kommission zum Schutze der Kunstschätze und Altertümer des Dreifaltigkeits-Sergi-Klosters, wurde mit Florenski zusammen verbannt. Florenskis Name wird in dem Buch nicht genannt. Vorträge über den Dauerfrostboden. Pawel Florenski (links) und Pawel Kapterew, Skoworodino, 1934
Als Florenski
im Frühjahr 1934 erfährt, daß seine Bücher,
Fotosammlungen, Exzerpte und Manuskripte beschlagnahmt wurden,
schreibt er an die Lagerleitung: "Die Vernichtung der Ergebnisse
meiner Lebensarbeit ist für mich weit schlimmer als der
physische Tod." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1990, Nr.
12, S. 30. Übersetzt von Jörg Milbradt] 1935-36Vorträge
über Mathematik und Physik (Atomkern) sowie zur Technologie
und Chemie der Wasserpflanzen. 1934-37Kurz nach seiner Ankunft auf den Solowki-Inseln schreibt Florenski am 5. November 1934 an seine Frau Anna: "Meine
liebe Annulja, gestern erhielt ich Dein Telegramm, es hat mich
sehr traurig gemacht. Du verstehst gar nicht, was Du da schreibst,
Solowki, das ist nicht die BAM, ich konnte mich nicht entschließen,
Dir mit einem Telegramm zu antworten, weil ich fürchtete,
dadurch das Recht auf einen Brief zu verlieren. In klimatischer
Hinsicht ist hier, mit dem Fernen Osten verglichen, auch alles
umgekehrt: Es ist feucht, verhältnismäßig warm
(heute war das erste Eis auf den Pfützen), es weht ein durchdringender
Wind, deshalb ist einem kälter als bei strengem Frost, der
Himmel ist fast immer grau, bewölkt, bedeckt, eine ziemlich
einförmige Natur. Der Wald ist allerdings nicht so übel,
aber ich habe ihn bisher nur einmal gesehen, bei Erdarbeiten,
es war eine freudige Begegnung. Überall liegen Granitblöcke
und anderes kristallines Gestein aus der Eiszeit. Felsgestein
sieht man nicht, der Boden ist sandig. Mein Handtuch im Zimmer
wird nie trocken, und es ist mir auch in mehreren Tagen nicht
gelungen, die gewaschenen Sachen zu trocknen. Überhaupt
ist alles eintönig, traurig, unansehnlich, besonders nach
dem Fernen Osten. Das Weiße Meer ist schmutziggrau und
sieht gar nicht nach Meer aus. Es gibt viele Seen, ich glaube
450. Im Sommer sind sie vielleicht nicht so übel, aber jetzt
sind sie alle grau und erfreuen das Auge nicht. In dem Brief Nr. 58 [die Briefe an seine Familie numeriert Florenski, der letzte bekannte Brief vom 18./19. Juni 1937 trägt die Nummer 103] vom 23.-25. April 1936 schreibt Florenski an seine Mutter über die Richtung seines wissenschaftlichen Interesses: "Äußerlich geht einstweilen alles glatt, das heißt ich bin soweit gesund und munter, arbeite, lebe unter erträglichen Bedingungen, bin von erträglichen Menschen umgeben. Du schreibst, ich nähme an den heutigen Arbeiten zur Physik keinen Anteil. Das kommt nicht nur daher, daß ich nicht in Moskau bin. Der Geist der modernen Physik, dieses extreme Abstrahieren von der konkreten Erscheinung, das Ersetzen der physikalischen Gestalt durch analytische Formeln, ist mir fremd. Ich lebe ganz und gar aus einem goethisch-faradayschen Weltempfinden und Weltverständnis. Die heutige Physik ist die Quintessenz bürgerlichen Denkens, ich verstehe eigentlich nicht, warum man sich im Lande der Sowjets damit beschäftigt. Die Physik der Zukunft muß andere Wege gehen, sich der konkreten Gestalt zuwenden. Sie muß ihre Grundpositionen überprüfen, sie darf nicht bei einem deutlich veralteten Denken Anleihen machen. Nein, auch in Moskau würde ich mich an den Arbeiten, den heutigen Arbeiten zur Physik nicht beteiligen, sondern mich mit Kosmophysik befassen, mit den Grundprinzipien der Struktur der Materie, so wie sie in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist und nicht, wie man sie aus formalen Prämissen abstrakt konstruiert. Näher an die Wirklichkeit, näher an das Leben der Welt - das ist meine Richtung. Nicht ohne Ursache bin ich damals in die elektrotechnische Materialkunde gegangen. Ich küsse Dich noch einmal, liebe Mamotschka." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 302]
Wie Florenski bei aller Konzentration auf die ihm im Lager übertragenen Aufgaben immer nur die Sorge um seine Familie erfüllte, lesen wir in dem Brief Nr. 86 vom 4. Dezember 1936 bis 6. Januar 1937 an seine Frau Anna, seinen Sohn Michail, seine Töchter Maria-Tinatin und Olga: "[Solovki,
3.-4. I. 1937] Liebe Annulja, Zeichnungen (Polysiphonia urceolata) von Pawel Florenski in einem Brief an seine Familie aus dem Lager auf den Solowki-Inseln, 1936/37
Außerdem schicke ich Dir 2 Skizzen von Flechten auf Kuzovy [Gruppe kleiner Inseln zwischen Solovki und dem karelischen Festland]. Flechten (das Schwarze und Grüne sind die Flechten, das Blaßrote und Graue ist das bloße Gestein) wachsen zyklisch, in konzentrischen Auswüchsen, offenbar sind das ihre Jahresringe, wenn sich in einer günstigen Saison massive Abschnitte des Thallus [Vegetationskörper der niederen Pflanzen, besonders der Algen, Pilze und Flechten] entwickeln. Ich habe es nicht mehr geschafft, das aufzuzeichnen, doch habe ich einen Fall von 7 konzentrischen Kreisen beobachtet, sie waren freilich nicht immer vollständig. Ich weiß nicht, ob eine solche Beobachtung bereits von jemand anderem gemacht worden ist, doch sage ich, daß an anderen Orten diese Kreisförmigkeit nur andeutungsweise und undeutlich vorkommt, nur auf Kuzovy, dort allerdings überall, habe ich sie deutlich ausgebildet gesehen. Ich weiß nicht, ob meine Zeichnungen irgendeinen Wert haben, doch wenn ich sie mache, denke ich die ganze Zeit an Euch, und für Euch mache ich sie.
Zeichnungen (Corallina officinalis) von Pawel Florenski in einem Brief an seine Familie aus dem Lager auf den Solowki-Inseln, 1936/37 Du fragst, was
Alginat ist. In den Braunalgen (Laminaria, Fucus und einigen
anderen) ist sowohl frei als auch in Form von Kalziumsalz eine
sonst nirgends vorkommende organische Säure enthalten, genannt
die algine, d.h. die in Algen vorkommende, oder einfach das Algin.
Die Salze dieser Säure heißen Alginate unter Hinzufügung
der Bezeichnung für das Metall, mit dem die Säure verbunden
ist. Was Algin chemisch ist, wurde bisher noch nicht festgestellt, doch wird behauptet und es gibt
Anzeichen dafür, daß es sich um eine komplizierte
Form von Mannuronsäure handelt. Aber das wird Dir nichts
sagen. Algin ist weder in Wasser löslich (es quillt darin)
noch in anderen Lösungsmitteln, doch löst es sich in
einer Soda- oder Alkalilösung, wobei es sich chemisch in
Natrium- oder Kaliumalginat verwandelt. Beim Hinzugießen
von Mineralsäure verliert die Alginsäure ihr Metall
und sondert sich in Form von kleinen halbdurchsichtigen Klümpchen
ab - ganz wie eine Meduse. Das geschieht, wenn man dem Natrium-
oder Kaliumalginat die Salze von Schwer- oder Erdalkalimetallen
(Chrom, Mg) zuführt: dann bilden sich ihre nichtlöslichen,
quellenden, gallertartigen Alginate. Auf dieser Umwandlung basiert
eine Reihe von Anwendungen des Natriumalginats: Man trägt
es in Form einer Lösung auf, verwandelt es danach in Algin
oder unlösliches Alginat, und beim Eintrocknen entsteht
ein elastischer, unlöslicher, durchsichtiger und nichtentzündlicher
Film. Hier z.B. das Papier, auf dem die Ahnfeltia gezeichnet
ist in Form eines kleinen Busches oder die Rhizoide [Wurzelähnliche
Haftorgane der Algen] der Laminaria, wurde von mir aus Filterpapier
hergestellt durch Tränken mit Natriumalginat und Behandlung
mit Säure: das ergab eine in Wasser unlösliche Imprägnierung.
Und sie genügt.
[4. XII. 1936]
Lieber Mik, Liebe Tika [Maria-Tinatin], Liebe Olja, Am 13. Februar 1937 schreibt Florenski im Brief Nr. 91 an seine Frau Anna: "Die Zeitung,
die so voll ist von Puschkin, habe ich bekommen. Man könnte
Befriedigung empfinden, wenn man die reine Tatsache der Aufmerksamkeit
für Puschkin bedenkt. Für unser Land ist es nicht wichtig,
was man über ihn sagt, sondern daß man überhaupt
von ihm spricht; Puschkin wird schon für sich selber sprechen
und alles Nötige sagen. Aber in die Befriedigung mischt
sich Bitterkeit, eine unvernünftige Bitterkeit über
das Schicksal Puschkins.
Was Florenski am 21. März 1937 im Brief Nr. 95 an seinen Sohn Kirill schreibt, kann man als sein Vermächtnis ansehen: "Ich möchte
Dir etwas über meine Arbeiten schreiben oder genauer über
ihren Sinn, ihr inneres Wesen, damit Du die Gedankengänge
weiterverfolgen kannst, die auszuformen und zu Ende zu führen
mir nicht vergönnt war, es gibt hier auch kein Ende, wenn
ich sie aber wenigstens anderen hätte verständlich
machen können. Was habe ich mein ganzes Leben gemacht? -
Ich habe die Welt als ein Ganzes betrachtet, als einheitliches
Bild und als Wirklichkeit, aber in jedem Augenblick oder genauer
gesagt in jedem Abschnitt meines Lebens unter einem bestimmten
Gesichtswinkel. Ich habe die Weltverhältnisse an einem Weltquerschnitt,
in einer bestimmten Richtung, auf einer bestimmten Ebene untersucht
und mich bemüht, die Struktur der Welt auf Grund dieses
in dem jeweiligen Lebensabschnitt mich interessierenden Merkmals
zu begreifen. Die Schnittflächen wechselten, aber keine
ersetzte die andere, sondern fügte ihr etwas hinzu. Daher
das unablässig Dialektische des Denkens (Wechsel der Betrachtungsebenen)
bei beständiger Ausrichtung auf die Welt als Ganzes. Im Brief Nr. 96 nimmt Florenski diesen Gedanken auf und schreibt am 23. März 1937 an seine Frau Anna: "Was ich kann, würde ich gern den Kindern beibringen, meine eigene Tätigkeit ist mir nicht so wichtig und ich würde es vorziehen, mit meinen Gedanken ganz allein zu sein. Ich bin sogar nicht einmal sicher, ob die Zukunft sie annehmen wird, das heißt die Zukunft, wenn sie bis dahin vorgedrungen sein wird, hat dann ihre eigene Sprache und ihre eigene Verfahrensweise. Letzten Endes besinge ich die Freude des Denkens, wenn die Zukunft von einem anderen Ende her dazu gekommen sein wird, wird man sagen: 'Es stellt sich heraus, 1937 hat ein gewisser N. die gleichen Gedanken in einer altmodischen Sprache geäußert.'" [Moskovskij literator, Moskau, Nr. 5 vom 27.1.1989, S. 3] Im Brief Nr. 99 schreibt er am 11. Mai 1937 an seine Frau Anna: "Unsere Wasserpflanzenepopöe geht in diesen Tagen zu Ende, womit ich mich weiter beschäftigen werde, weiß ich nicht, vielleicht mit dem Wald, d.h. ich möchte die mathematische Analyse auf diesen Bereich anwenden. Das Ende der Beschäftigung mit den Algen war zu erwarten: In meinem Leben ist es immer so gewesen - wenn ich einen Gegenstand erst einmal beherrsche, muß ich ihn aus nicht von mir abhängigen Gründen aufgeben und etwas Neues beginnen, wieder von Grund auf, um Wege zu bahnen, die nicht ich gehen werde. Hierin liegt offenbar ein tiefer Sinn, wenn sich das im Laufe des Lebens immer wiederholt - eine Unterweisung in Uneigennützigkeit, aber es ist doch ermüdend. Wenn ich noch hundert Jahre zu leben hätte, so wäre ein solches Schicksal all der Unternehmungen nur nützlich, aber bei der Kürze des Lebens ist es nur reinigend, nicht nützlich. Übrigens heißt es im Koran: 'Dem Menschen widerfährt nichts, was nicht in den Himmeln geschrieben stünde.' Von mir steht offenbar geschrieben, daß ich Pionier zu sein habe, nicht mehr. Darein muß man sich fügen. Ich schreibe das nicht so sehr meinetwegen, als vielmehr wegen der Kinder: Die Lehren des Geschlechts muß man kennen und sich bewußt machen, damit man sein Leben nutzen und sich an das aller Wahrscheinlichkeit nach zu Erwartende anpassen kann. Mein Denken und Sorgen gilt ganz Euch, ich möchte gern die Erfahrung meines Lebens und Nachdenkens an Euch weitergeben." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 349] Im Frühjahr 1937 wurde das Lager in ein Gefängnis mit verschärften Haftbedingungen umgewandelt. Über Florenskis Schicksal in dieser Zeit ist kaum etwas bekannt. Es gibt nur das Zeugnis eines Mitgefangenen, Alexander Faworski, der ihn im Oktober/November 1937 noch auf den Solowki-Inseln gesehen hat. In einem Brief an einen der Enkel Florenskis heißt es: "Ihr Großvater Florenski wurde auf den Solowki-Inseln sehr verehrt - ein genialer, demütiger, mutiger Philosoph, Mathematiker und Theologe. Mein Eindruck von Florenski und die Meinung aller Gefangenen, die sein Schicksal teilten, war eine hohe Geistigkeit, Wohlwollen gegenüber den Menschen, Reichtum der Seele. All das, was den Menschen adelt." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 192] 1937Am 25. November
Verurteilung Pawel Florenskis zum Tode. Zu Florenskis letzten Nachrichten gehört dieser Brief vom Juni 1937: "Die letzten
Tage war ich zur Nachtwache eingeteilt, um die in unserer ehemaligen
Jodfabrik hergestellten Erzeugnisse zu bewachen. Man könnte
hier arbeiten (jetzt schreibe ich zum Beispiel Briefe), aber
die verzweifelte Kälte in der toten Fabrik, die kahlen Wände
und das Tosen des Windes, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben
fährt, ermuntern nicht eben zum Arbeiten, und Du siehst
an meiner Schrift, daß ich mit den steifen Fingern nicht
einmal einen Brief zustande bringe. [...]
Zusammengestellt von Sieglinde und Fritz Mierau editionen
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