pawel florenski

biographie

 

 

1882

Pawel Alexandrowitsch Florenski wird am 9. Januar (am 21. Januar nach dem neuen Kalender) 1882 in der Nähe von Jewlach im Gouvernement Jelisawetpol in Transkaukasien geboren. 
Florenskis Vorfahren väterlicherseits waren Geistliche aus der Gegend von Kostroma in Nordrußland. Florenskis Vater, Alexander Iwanowitsch Florenski (1850-1908), ist Verkehrsbauingenieur und am Bau der Transkaukasischen Eisenbahn zwischen Tiflis und Baku sowie am Straßen- und Brückenbau in der Region beteiligt.

Alexander Florenski (rechts, Vater Pawel Florenskis) und seine Schwester Julia, um 1870

 

 

 

 

 

 

 

Florenskis Mutter, Olga Pawlowna, geb. Saparowa (1859-1951), entstammt einem alten armenischen Adelsgeschlecht aus Karabach.

Olga Florenskaja, geb. Saparowa (Mutter Pawel Florenskis), um 1870


 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski ist der älteste von sieben Geschwistern. Seine Schwester Julia (1884-1947) wird später Psychiaterin, seine Schwester Jelisaweta (1886-1959) Malerin und Pädagogin, sein Bruder Alexander (1888-1937?) Mineraloge und Kunstwissenschaftler, die Schwester Olga (1890-1914) Malerin und Dichterin, die Schwester Raissa (1894-1932) Malerin und der Bruder Andrej (1899-1961) Militäringenieur. 

Pawel Florenski (rechts) mit seiner Schwester Julia, um 1887

 

 

 

 

 

 

 

 

1883-1900

Die Kindheit verbringt Florenski in Batum und Tiflis. Sein Vater baut die Heerstraße zwischen Batum und Achalzich.

Die Familie Florenski (2. v. r. Pawel Florenski), um 1888

 

 

 

 

Pawel Florenski (2. v. l.) mit Julia (l.), seiner Tante Repsimia und seiner Schwester Jelisaweta, um 1889

 

 

 

 

 

 

 

1892

Eintritt in das 2. Klassische Gymnasium in Tiflis; zu seinen Klassenkameraden zählen der spätere Priester und Religionsphilosoph Alexander Jeltschaninow (1881-1934) und der spätere Philosoph Wladimir Ern (1882-1917).

1897

Im Juni/Juli Reise nach Deutschland (Dresden, Bonn und Köln) mit seinen Tanten Repsimija Saparowa und Jelisaweta Melik-Begljarowna. In Dresden Interesse für physikalische Instrumente, in Köln besonders für Automaten und Phonographen im Spielzeugmuseum.

Pawel Florenski (mitte) mit seiner Tante Jelisaweta Melik-Begljarow (l.) und ihren Mann Sergej, Bonn, 1897

 

 

 

 

 

 

1899

Im Frühjahr und Sommer geistige Krise, als ihm "die Begrenztheit des physikalischen Wissens" aufgeht. Mit der Beschreibung dieser Krise schließt Florenskis Autobiographie ab. Hinwendung zu religiösen Fragen.

Pawel Florenski als Gymnasiast, um 1898

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am 22. Oktober Brief an Lew Tolstoi: "Lew Nikolajewitsch! Ich habe Ihre Werke gelesen und bin zu dem Schluß gekommen, daß ich nicht so weiterleben darf, wie ich jetzt lebe. Ich beende das Gymnasium, und was vor mir liegt, ist eine Fortsetzung meines Lebens zu Lasten anderer; ich glaube, dem ist nur zu entgehen, wenn ich Ihre Ratschläge befolge; um sie aber in der Praxis anzuwenden, bedarf es noch der Antwort auf einige Fragen: Darf Geld verwendet werden? Wie ist Land zu erlangen? Ist es von der Regierung zu bekommen und wie? Auf welche Weise sind die geistigen Bedürfnisse zu befriedigen? Woher Bücher, Zeitschriften nehmen, wenn kein Geld verwendet bzw. mit körperlicher Arbeit nur für die Ernährung gesorgt werden soll? Kann Zeit für geistige Arbeit (die eigene Bildung) bleiben?" [Pawel Florenski, Leben und Denken. Band I. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1995, S. 70]

Pawel Florenski (2. v. l.) vor der Kutsche nach Kodschori od. Manglis, um 1898

 

 

 

 

Pawel Florenski, 1899

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Familie Florenski (4. v. l. Pawel Florenski), Tiflis, Oktober 1899

 

 

 

 

1900-1904

Im Juni 1900 Abitur mit Goldmedaille. Im September 1900 Beginn des Studiums der reinen Mathematik an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Moskauer Universität. Vorlesungen u.a. bei dem Mathematiker Nikolai Bugajew (1837-1903), dem Begründer der Arithmologie, über Diskontinuität und bei Nikolai Shukowski (1847-1921). Gleichzeitig an der Historisch-Philologischen Fakultät Studium der antiken Philosophie bei dem Solowjowschüler Sergej Trubezkoi (1862-1905), vor allem Platos, außerdem der Psychologie bei Lew Lopatin (1855-1920), einem Freund Wladimir Solowjows (1853-1900).

Pawel Florenski als Student, um 1900

 

 

 

 

 

 

Interesse für die Kunst (Museen, Architektur, Konzerte). Beginn der Freundschaft mit dem symbolistischen Dichter Andrej Bely (1880-1934), dem Sohn seines Mathematikprofessors Nikolai Bugajew, Briefwechsel 1904-1914.

1904

Über Andrej Bely lernt Florenski die russischen Symbolisten Valeri Brjussow (1873-1924), Konstantin Balmont (1867-1942), Dmitri Mereshkowski (1865-1941), Sinaida Hippius (1869-1945), Wjatscheslaw Iwanow (1866-1949) und Alexander Blok (1880-1921) kennen. 
Die Arbeit über das Symbol "Empyrie und Empirie" entsteht, sie ist Alexander Jeltschaninow gewidmet. 
Im März Bekanntschaft mit seinem Beichtvater und geistlichen Führer Bischof Antoni (Florensow) (1847-1918), der im Moskauer Donskoi-Kloster im Ruhestand lebt. Briefwechsel mit dem Bischof.
Mit Wladimir Ern und Valentin Swenzizki (1879-1931) Begründer der "Sektion für Philosophie und Geschichte der Religion" bei der Moskauer Historisch-Philologischen Studentengesellschaft.
Im Frühjahr Abschluß der Universität mit dem Diplom Ersten Grades. Abschlußarbeit "Über die Besonderheiten flacher Kurven als Orte der Durchbrechung ihrer Kontinuität", in der Kontinuität als Grenzfall der Diskontinuität verstanden wird. Diese Arbeit ist gedacht als erster Teil des geplanten Buches "Die Idee der Diskontinuität als Element der Weltanschauung". In seinem Ende 1903 geschriebenen Vorwort dazu weist er auf ein steigendes Interesse der Forschung an dieser Idee hin:

"Man denke an die 'Mutationstheorie' von de Vries in der Biologie, die 'Heterogenese' Korshinskis und die sie bestätigenden Fakten, die Arbeit Tammans zur Thermodynamik und Molekularphysik, das schnell anwachsende Material zur Psychophysik, das Studium des subliminalen Bewußtseins und Schöpfertums in der Psychologie (Du Prel, Myers u.a.), die Fragen nach dem psychischen Leben im ganzen usw. usw., um das bestätigt zu finden. Und selbst die Gesellschaft neigt offenbar den gleichen Ideen oder genauer den gleichen Stimmungen zu. Vielleicht sind der herrschende Individualismus, die allgemein einsetzende Hochschätzung der Persönlichkeit (vgl. den 'Heroenkult' bei Carlyle) u.ä. nichts anderes als ein Heraufdämmern einer neuen diskontinuierlichen Weltanschauung, wenn auch oft in karikaturhaft entstellter Form." [Istorikomatematiceskie issledovanija, Band XXX, Moskau 1986, S. 164]

Florenski lehnt das Angebot ab, am Lehrstuhl für Mathematik zu arbeiten. In einem Brief an seine Mutter vom 3. März 1904 schreibt Florenski von seiner Absicht, "eine Synthese von Kirchlichkeit und weltlicher Kultur zu schaffen, sich vollständig mit der Kirche zu verbinden ohne jeden Kompromiß." [Florenski, Leben und Denken. Bd I, S. 79]

In zwei russischen symbolistischen Zeitschriften erscheinen von Florenski Arbeiten zur Idee der Diskontinuität: "Über eine Voraussetzung der Weltanschauung" in "Die Waage" (9/1904) und "Über Symbole der Unendlichkeit (Eine Skizze der Ideen Georg Cantors)" in "Neuer Weg" (9/1904). 
Im September rät ihm sein Starez Bischof Antoni, nicht Mönch zu werden, sondern in die Geistliche Akademie einzutreten und dort seine Studien fortzusetzen. 
Florenski beschäftigt sich mit symbolischer Logik, Erkenntnistheorie, Philosophiegeschichte, Archäologie und Hebräisch und treibt naturwissenschaftliche, volkskundliche und kulturgeschichtliche Studien. 

1904-1908

Geistliche Leitung durch den Starez Isidor (1814 od. 33-1908), Priestermönch in der Gethsemane-Einsiedelei in Sergijew Posad. Florenski in seiner späteren Biographie über den Starez:

"Vater Isidor liebte es, nicht zueinander Gehöriges zu vermischen. So besaß er ein Töpfchen mit seiner berühmten Konfitüre - bestehend aus gewöhnlicher Kirschkonfitüre, Weintrauben, Moosbeeren, Rosinen, Kvas, und, so scheint es, Rettich. Vater Isidor erzählte manchmal, wie er diese Konfitüre hergestellt hatte und verkündete mit einem Lächeln: 'Manchen gefällt es nicht, mir aber macht es nichts, schmeckt es.' Diese Konfitüre bot er nur wenigen an, den 'Vollkommenen', so scherzte er, denen er vertraute. Den Übrigen reichte er gewöhnliche Konfitüre. Tatsächlich, dafür gab es einen Grund: wer es nicht gewohnt war, vermochte kaum ein Löffelchen dieser asketischen Konfitüre herunterzuschlucken. Vater Isidor jedoch aß ganze Löffel davon und lobte sie sogar. 
Selbst in solchen Kleinigkeiten, wie den 'Möbeln' Vater Isidors und seiner 'Konfitüre' vermag man seine feine und äußerst lehrreiche Ironie über die luxuriöse Welt zu erkennen, die Unabhängigkeit Vater Isidors von der Welt, seine Freiheit. 'Ihr glaubt mich, einen Knecht Gottes, mit euren Möbeln, eurer Konfitüre und euren weltlichen Bequemlichkeiten zu erstaunen? Ich aber, nun, beachte euch nicht mit all euren Besitztümern. Denn wenn der Geist Gottes da ist, dann sind auch meine Möbel und meine Konfitüre gut, wenn er aber abwesend ist - dann sind auch all eure Dinge unnötig.' Das, so denkt man, mag sich Vater Isidor mit seinen 'Möbeln' und seiner 'Konfitüre' im Stillen sagen. Jedoch, diese stille Rede, war sie auch voll des Duftes und der Farben eines Narrentums um Christi willen, war ihm in ihrer Art dennoch fremd. Doch wenn man dieser feinen Ironie gegenüber der Welt den Charakter des Narrentums hinzufügt, dann kann der Starez Isidor durchaus als ein Narr um Christi willen bezeichnet werden. Dieses Narrentum, so scheint es, war ihm angeboren, und deshalb war kein Zug desselben künstlich hinzugefügt oder angeeignet. 
Ähnlich wie die Konfitüre wurde manchmal auch ein Essen bereitet, in welches Vater Isidor Salat, Oliven und alles sonst noch Erdenkliche hineintat. Das Gemisch war von der Art, daß wenn Vater Isidor versuchte, es anzubieten, alle ablehnten. Der Starez aber sagte mit einem liebevollen Lächeln: 'Nun, versucht es doch wenigstens.' 
Wie in diesem, so vermag man auch in einer Vielzahl anderer Fälle keine Grenze zwischen seiner Einfachheit und Liebe sowie seiner Unabhängigkeit im Verhältnis zu allen Dingen der Welt zu ziehen. Er hatte alles von sich gestoßen, so daß es unmöglich war, bei ihm auch nur den Schatten eines Eigenwillens oder falschen Scheins zu finden. Seine Einfachheit war Ironie und seine Ironie war Einfachheit. Er vermochte alle gegebenen Umstände aufzuheben und auf alles mit den Augen der Ewigkeit zu schauen. Und - wie seltsam - er tat dies, ohne irgend jemanden zu verletzen. Er stürzte alles um, was ihm von seinem Gesprächspartner entgegengebracht wurde. Er stieß jeden von der Höhe menschlicher Selbstgefälligkeit und stellte ihn wieder auf die Erde. Er stampfte jeden Eigendünkel in den Schmutz und (wie verwunderlich), es war unmöglich, sich über diese Gespräche zu empören. Denn Vater Isidor schaute hell und kindlich, als bemerkte er nicht, was er angerichtet hatte. Er stieß die Menschen von ihren Sockeln und nicht der geringste Strahl von Selbstgefälligkeit, Eigenliebe oder Stolz leuchtete in seinen klaren Augen. Er handelte ... als wäre es nicht er. Er zerschlug den Eigendünkel, doch unklar blieb, wie er dies getan hatte und womit. Am allerbesten ließe er sich mit einem Menschen vergleichen, der mit Strom geladen ist: er berührte jemanden mit der Hand und dieser spürte einen Schlag, doch vermochte er seinen Augen nicht zu trauen. Denn der ihn berührte, war äußerlich ein einfacher Mensch und blieb auch ein solcher. So war auch unser Starez. Er schlug Funken und stand dabei da wie vorher - in einem weißen Kittel oder in einem Hemd und Socken, zärtlich lächelnd. Und man denkt sich erneut: 'Einfach nur ein liebenswerter Großvater, und weiter nichts!'" [Pavel Florenskij, Das Salz der Erde. Bericht über das Leben des Starez Isidor, Priestermönch im Gethsemane-Skit. Übersetzt und herausgegeben von André Sikojev, München 1989, S. 18-19]

Freundschaft mit Sergej Troizki (1881-1910), dem Studienfreund und Zimmergenossen an der Geistlichen Akademie von 1905-07, an den die ersten Briefe des in diesen Jahren entstehenden Buches "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" gerichtet sind. Er heiratet 1909 Florenskis Schwester Olga. 

Pawel Florenski (rechts) und Sergej Troizki, um 1907

 

 

 

 

 

 

 

Florenski sammelt Material zu Sprache und Volkstum im nordrussischen Gouvernement Kostroma u.a. in Tolpygino, dem Heimatort Troizkis.

1905

Umgang mit den Mitgliedern der "Christlichen Kampfbruderschaft" Wladimir Ern, Valentin Swenzizki, Andrej Bely, Wolshski (Alexander Glinka), dem Tifliser Priester Iona Brichnitschew (1879-1968), Alexander Jeltschaninow, evt. auch Sergej Bulgakow (1871-1944) und Nikolai Berdjajew (1874-1948), die, ausgehend von christlichen Prinzipien, politische, soziale und kirchliche Reformen fordern. 
Vom 28. August bis 8. September Reise in die Einsiedelei Optina, wo er sich mit dem Manuskript "System der christlichen Weltanschauung" des Archimandriten Serapion (Maschkin) (1854-1905) bekanntmacht, das entscheidend wird für sein Buch "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit".
Briefwechsel. Nach dem Tode Serapions gibt Florenski dessen Briefe und Skizzen mit einer Biographie heraus. Florenski verfaßt einen Nachruf mit dem Titel ",Um die Ehre der himmlischen Berufung'. Charakterzüge des Archimandriten Serapion (Maschkin)".
Florenski schreibt den Aufsatz "Hamlet", den er Sergej Troizki widmet. Im "Theologischen Boten" erscheint Immanuel Kants "Monadologia physica", übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen von Florenski.

1906

In einem Brief an Andrej Bely vom 31. Januar schildert Florenski sein Lebensideal:

"Die Wissenschaft, die Philosophie und all das habe ich längst abgeschrieben, ich betrachte sie nicht mehr wie 'alle'. Sinn und Ziel meiner Tätigkeit erblicke ich nun im Umgang mit der Persönlichkeit, aber nicht in 'tätiger Liebe' und nicht im 'Dienst am Nächsten' (auch dies betrachtete und betrachte ich nicht wie 'alle'), sondern in der Berührung der bloßen Seele mit der bloßen Seele. Wenn man etwas Positives erreichen kann, dann nur in und durch eine Verbindung, bei der man, und handelte es sich auch nur um zwei Menschen, einander bis zum Ende, bis auf den Grund versteht, so daß jeder für den anderen eine Unendlichkeit darstellt. Ich habe verstanden, daß diese Einheit das Fundament für alles, das Postulat jedes Lebens ist. Ist sie aber möglich? Das ist für mich die Schicksalsfrage. Ist sie in einzelnen Momenten ganz real, so verschwindet sie gleich wieder spurlos, und es zeigen sich Grenzen zwischen den Persönlichkeiten. Und es muß einem scheinen, als blieben alle Anstrengungen, diese Grenzen zu überschreiten, nur ein qualvolles Bemühen. [...] 'Werke' an sich, nicht geheiligt durch persönliche Beziehungen, kommen mir unnötig vor; alle 'Werke' sind für mich nur symbolisch wertvoll, insofern sie den persönlichen Umgang ausdrücken und ihm dienen, es geht nicht um periphere Berührungen, sondern innere Gemeinsamkeit." ["... nicht anders als über die Seele des anderen" Andrej Bely und Pawel Florenski. Der Briefwechsel. Texte. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1994, S. 60-61]

Am 23. März wird Florenski, der sich in seiner Predigt "Schrei des Blutes" in der Kirche der Geistlichen Akademie gegen die Hinrichtung des Revolutionärs Leutnant Pjotr Schmidt ausspricht, verhaftet und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, aber auf Fürsprache des Schriftstellers Grigori Ratschinski (1859-1939) Ostern wieder entlassen. 
Im Herbst Anschluß an die auf Initiative Sergej Bulgakows gegründete "Religiös-Philosophische Gesellschaft zum Gedenken an Wladimir Solowjow", der u.a. Andrej Bely, Nikolai Berdjajew, Wladimir Ern, Wjatscheslaw Iwanow, Valentin Swenzizki und Fürst Jewgeni Trubezkoi (1863-1920) angehören.
In Moskau erscheint Rudolph Sohms "Kirchenrecht" Band I in der Übersetzung von Florenski und Alexej Petrowski und der Aufsatz "Über Wachstumstypen" im "Theologischen Boten". 
Beginn des Briefwechsels mit dem Mathematiker Nikolai Lusin (1883-1950).

1907

In Sergijew Posad erscheint Florenskis Gedichtband "Im ewigen Azur". Florenski arbeitet an dem namensphilosophischen Buch "Sakramentale Umbenennung".

Pawel Florenski (links), 1907

 

 

 

 

 

 

 

1908

Tod des Vaters am 22. Januar. 
Tod des Starez Isidor. Im Laufe des Jahres entsteht die Lebensbeschreibung des Starez "Das Salz der Erde", die in Fortsetzungen in der Zeitschrift "Der Christ" (1908/09) erscheint.

Pawel Florenski, um 1908


 

 

 

 

 

 

Eine Zeitlang verkehrt Florenski im "Turm" von Wjatscheslaw Iwanow, wo er mit Maximilian Woloschin (1877-1932) und Alexander Skrjabin (1879-1915) bekannt wird. Briefwechsel Florenskis mit Wjatscheslaw Iwanow.

Pawel Florenski (rechts), links Wladimir Ern, um 1908

 

 

 

Abschluß der Geistlichen Akademie mit der Kandidatenarbeit "Über die religiöse Wahrheit", die zur Grundlage der Magisterdissertation von 1912 und seines Buches "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" von 1914 wird. Für die von Jeltschaninow herausgegebene "Geschichte der Religion" (Moskau 1909) verfaßt Florenski zusammen mit dem Herausgeber den Artikel "Orthodoxie". 
Im August zieht Florenski in die Petropawlowsker Straße in Sergijew Posad. 

1908-1918

Nach zwei Probevorlesungen "Die allgemeinmenschlichen Wurzeln des Idealismus" und "Die kosmologischen Antinomien Immanuel Kants" (beide 1909 als Sonderdrucke aus dem "Theologischen Boten" in Sergijew Posad erschienen) beginnt Florenski am 23. September 1908 in der Moskauer Geistlichen Akademie seine Tätigkeit als Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie. Vorlesungen zur antiken Philosophie (besonders Platos), zur Philosophie Kants und zur Philosophie des Kults und der Kultur. Als Grundvoraussetzung für die Vorlesung bezeichnet Florenski "das Interesse am Kleinen, an den Einzelheiten, an den Feinheiten, an den feinsten Zügen, welche die zu untersuchende Erscheinung in ihrer lebendigen Individualität und nicht nur 'im allgemeinen', im Schema beschreiben." [zitiert nach: Michael Silberer, Die Trinitätsidee im Werk von Pavel A. Florenskij. Versuch einer systematischen Darstellung in Begegnung mit Thomas von Aquin (= Das östliche Christentum. Neue Folge, Bd. 36), Würzburg 1984, S. 17-18] 

'Pawel Florenski, 1909


 

 

 

 

 

 

"Grenzen der Gnoseologie. Die Grundantinomie der Erkenntnistheorie" erscheint im "Theologischen Boten". Die Zeitschrift druckt auch laufend Florenskis Gutachten der Kandidatenarbeiten seiner Studenten.

1909-10

Jahre einer schweren seelischen Krise: Um Priester zu werden, muß Florenski entweder Mönch sein oder heiraten.

Pawel Florenski (mitte), um 1909

 

 

 

 

 

 

 

1910

Ehe mit der Rjasaner Bauerntochter Anna Michailowna Giazintowa (1889-1973). Mit seiner Frau Umzug in die Schtatnaja Straße in Sergijew Posad. Aus der Ehe gehen fünf Kinder hervor. 

Pawel Florenski (rechts) mit seiner Frau Anna und ihrem Bruder Wassili Giazintow, 1911


 

 

 

 

 

 

Beziehung zu dem Ethnologen Alexej Wetuchow (1869-1941?). Briefwechsel.

1911

Durch den Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie Bischof Feodor wird Florenski am 23. April zum Diakon und einen Tag später zum Priester geweiht.
Ihm wird die Kirche Mariä Verkündigung im Dorf Blagoweschtschenskoje, zweieinhalb Kilometer von Sergijew Posad entfernt, zugeteilt. Sein Beichtvater Bischof Antoni sieht aber Florenskis Berufung nicht in der Pfarrtätigkeit, sondern im apologetischen Lehramt.
Im Juni Geburt seines Sohnes Wassili (gest. 1956).

Pawel Florenski, 1912

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski, 1912

 

 

 

 

 

 

 

1912-17

Redakteur der Zeitschrift der Geistlichen Akademie "Theologischer Bote". Als Autor ist er besonders durch editorische und biographische Beiträge vertreten. Enge Beziehungen zur Moskauer slawophilen Intelligenz in der "Religiös-Philosophischen Gesellschaft zum Gedenken an Wladimir Solowjow" und um den Verlag "Der Weg". Briefwechsel mit dem Philosophen Wladimir Koshewnikow (1852-1917) und mit Feodor Samarin (1858-1916), bei dessen Tod er eine Gedenkrede hält.

Pawel Florenski (vorn mitte) an der Geistlichen Akademie, Moskau, 1912

 

 

 

 

Pawel Florenski (vorn rechts) neben ihm Sergej Bulgakow, 1913

 

 

 

 

Pawel Florenski (rechts) und Michail Nowoselow, 1913

 

 

 

 

 

 

 

 

1912-21

Gottesdienst in der Maria Magdalena geweihten Hauskapelle der Barmherzigen Schwestern des Roten Kreuzes in Sergijew Posad.

1914

Mit der Verteidigung der Magisterdissertation "Über die geistliche Wahrheit. Versuch einer orthodoxen Theodizee" erhält Florenski den Grad eines Magisters der Theologie und die Berufung zum außerordentlichen Professor an die Geistliche Akademie. Er übernimmt den Lehrstuhl für Philosophie seines Vorgängers und Förderers Alexej Wwedenski (1861-1913). Über die Magisterdissertation kommt es zum Briefwechsel mit dem Philosophen Fürst Jewgeni Trubezkoi. 
Im Verlag "Der Weg" erscheint die erweiterte Fassung der Magisterdissertation, das theologische Hauptwerk Florenskis, "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit. Versuch einer orthodoxen Theodizee in 12 Briefen". Er habe hier, schreibt Florenski am 9. Februar, den Versuch unternommen, "den Geist der Mathematik zu philosophischen Zwecken einzusetzen". (Deutsch erscheint das Werk auszugsweise im "Östlichen Christentum" Band II Philosophie, herausgegeben von Hans Ehrenberg und Nicolai von Bubnoff in der C.H. Beck'schen Verlagsbuchhandlung, München 1925.) Für seine Magisterdissertation erhält Florenski den Preis der Moskauer Metropoliten Filaret und Makari.

1915

Im Januar/Februar an der Front als Regimentsgeistlicher in einem Sanitätszug. Tagebuchaufzeichnungen.
Im April Kauf eines Hauses in Sergijew Posad, Dworjanskaja Straße (später Pionerskaja). 
Die Vorlesungen "Der Sinn des Idealismus" und die Wjatscheslaw Iwanow gewidmete Abhandlung über die Mystik "Hielt er es nicht für einen Raub" (Phil. 2, 6-8) erscheinen im Druck. 
Im Dezember Geburt des Sohnes Kirill (gest. 1982).

Pawel Florenski mit seiner Frau und Sohn Wassili, Sergijew Posad, 1915

 

 

 

 

 

 

 

1916

Der Dichter Welimir Chlebnikow (1885-1922) besucht Florenski in Sergijew Posad. Gespräche über Chlebnikows "Gesetze der Zeit". 
Im Herbst beginnt Florenski mit der Niederschrift seiner Erinnerungen für seine Kinder, der Kapitel "Frühe Kindheit" und "Das Besondere". Seine Arbeit über den Führer der russischen Slawophilen im 19. Jahrhundert "Um Chomjakow. Kritische Bemerkungen" erscheint in Sergijew Posad. 
Florenski gehört in diesen Jahren zu dem 1907 von Michail Nowosjolow (1864-1938) und Feodor Samarin begründeten Moskauer "Kreis der nach christlicher Erleuchtung Suchenden", zu dem u.a. Sergej Bulgakow, Fürst Jewgeni Trubezkoi, Graf Juri Olsufjew (1878-1939) sowie der Rektor der Geistlichen Akademie, Bischof Feodor (Posdejewski), zählen.

Florenski verfaßt "Notizen zur Anthropologie":

"[1916. 18. XI. Sergijew Posad. Bei der Lektüre der 'Metaphysik' von Aristoteles]
1. Die Aufgabe einer philosophischen Anthropologie ist es, das menschliche Bewußtsein als ein Ganzes darzustellen. Das heißt, die Verbundenheit der Organe, Äußerungen und Bestimmungen des Menschen zu zeigen. In diesem Sinne, kann man sagen, ist es ihre Aufgabe, den Menschen zu deduzieren aus den Grundbestimmungen seines Wesens, aus seiner Idee. 
2. Viele Sinnesorgane werden gewöhnlich als etwas angesehen [Lücke im Manuskript] Der Platz jedes Organs muß herausgefunden werden, das heißt man muß die innere Notwendigkeit der Spezifik der verschiedenen Sinneswahrnehmungen zeigen, und zwar nicht im allgemeinen, sondern jeder Sinneswahrnehmung im besonderen. 
Welches ist der Platz jeder Sinneswahrnehmung in der Lebenstätigkeit des Menschen? Welches ist der Sinn jeder einzelnen? Warum ist eine jede unentbehrlich? Das heißt, was hat jede der Sinneswahrnehmungen, verglichen mit den übrigen, Neues zu geben? 
Das Wort. (Beispiel: Aristoteles in der 'Metaphysik' 1,1, 2 hält die Wahrnehmungen durch das Ohr für die Bedingung von Gedächtnis und die Wahrnehmungen durch das Auge für das, was die Unterschiede am besten in Erscheinung treten läßt...) 
3. Es 'nimmt unter den Wissenschaften immer diejenige die leitende Stellung ein und steht der dienenden vor, welche erkennt, um welches Zweckes willen alles einzelne zu verrichten ist'. (Aristoteles, Metaphysik, 1.2, 3; in Rosanows Übersetzung Seite 16). Den Zweck zu begreifen, dessentwegen alles im Menschen existiert, wird die Anthropologie ausmachen, denn der Zweck von allem im Menschen ist der Mensch. Dies ist dieselbe Aufgabe, die sich
auch Goethe stellt. 
4. 'Die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig aus dem Ganzen in die Teile strebend darstellen.' (Goethe, Erste Bekanntschaft mit Schiller, 1794). 'Konkrete Metaphysik' (Medtner, 151). Bilanz [ein Wort unleserlich], aus dem Ganzen in die Teile, wie Goethe schrieb. Einleitung für einen Sammelband von Einführungskursen in die Metaphysik: Dies ist kein System der Philosophie, sondern eine historische Einführung in das konkrete philosophische Denken, eine konkrete Metaphysik, ihre Konturen. Philosophische Anthropologie im Geiste Goethes." [Initial. Berliner Debatte, Berlin 1992, Nr. 6, S. 66]

Pawel Florenski, um 1917

 

 

 

 

 

 

 

 

1917

Besuch bei dem Maler Michail Nesterow (1862-1942) in seinem Atelier in Abramzewo. Im Mai malt Nesterow das Doppelporträt von Pawel Florenski und Sergej Bulgakow "Philosophen".

Michail Nesterow, Philosophen, 1917 [Pawel Florenski (links) und Sergej Bulgakow]

 

 

 

 

 

Das Buch "Die ersten Schritte der Philosophie" erscheint in Sergijew Posad. In der Widmung für Sergej Bulgakow heißt es u.a.: "Sieben Jahre der Erprobung unserer Freundschaft haben meine Verehrung und Liebe zu Ihrem geistigen Antlitz vertieft." [Florenski, Leben und Denken. Bd. I, S. 19] 
Tod des Klassenkameraden Wladimir Ern, auf den Florenski einen Nachruf schreibt.

Nach der Februarrevolution beginnt Florenski mit der Niederschrift seines Testaments "Meinen Kindern: Anna, Wassili und Kirill und Oletschka - für den Fall meines Todes", das er bis 1923 laufend ergänzt:

"[1917. 11. IV. Sergijew Posad]
1. Ich bitte Euch, meine Lieben, an demselben Tag, an dem Ihr mich zu Grabe tragt, das Hl. Abendmahl zu empfangen, und ist das durchaus nicht möglich, dann an einem der nächsten Tage. Und überhaupt bitte ich Euch, in der Zeit nach meinem Tode öfter zum Abendmahl zu gehen. 
2. Trauert nicht um mich und grämt Euch nach Möglichkeit nicht. Wenn Ihr froh und zuversichtlich seid, werde ich Ruhe finden. Meine Seele wird immer bei Euch sein, und wenn der Herr es erlaubt, werde ich häufig zu Euch kommen und Euch anschauen. Ihr aber vertraut auf den Herrn und Seine Allreine Mutter und trauert nicht. 
3. Das Wichtigste, worum ich Euch bitte, ist, daß Ihr stets des Herrn eingedenk seid und in Ihm lebt. Damit ist alles gesagt, was zu sagen ist. Das übrige sind entweder Einzelheiten oder zweitrangige Dinge. Dies jedoch dürft Ihr nie vergessen.
4. Vergeßt Euer Geschlecht nicht, Eure Vergangenheit, lernt Eure Großväter und Urgroßväter kennen, sorgt für die Bewahrung ihres Gedächtnisses. 
[1917. 8. V.] Bemüht Euch, möglichst alles über die Vergangenheit unseres Geschlechts, der Familie aufzuschreiben, über das Haus, seine Einrichtung, seine Gegenstände, seine Bücher usw. Bemüht Euch, Porträts, Autographen, Briefe, gedruckte und handschriftliche Arbeiten all derer zu sammeln, die mit unserer Familie, unserem Geschlecht in Beziehung gestanden haben, von Bekannten, Verwandten, Freunden. Möge die ganze Geschichte des Geschlechts in Eurem Hause bewahrt werden, und möge alles um Euch herum von Erinnerung gesättigt sein, so daß es nichts Totes, Dingliches, Undurchgeistigtes gibt. 
5. Haus, Bibliothek und Einrichtung verkauft nicht, es sei denn in äußerster Not. Vor allem möchte ich deshalb gern, daß das Haus lange in unserem Geschlechte bleibt, damit Ihr und Eure Kinder und Enkel unter der Obhut des Ehrw. Sergi lange, lange Sicherheit und festen Halt habt. 
[1917. 6. VII. Sergijew Posad]
6. Es ist meine Überzeugung, daß unser Geschlecht am Altar Gottes vertreten sein muß. Mein Gefühl sagt mir, tausend Göttliche Ermahnungen und tausend feindlich lauernde Augen lenken unser Geschlecht auf ein Ziel hin - nicht zu weichen von dem uns zugewiesenen Platz am Altar des Herrn. Eine Abkehr von diesem Platz, die Flucht vor dem Altar wird unserem Haus ein schweres Schicksal auferlegen. Ich denke, das Schwere, das unser Geschlecht durchgemacht hat, vom Großvater angefangen, ist die Folge der Abkehr vom Altar des Herrn. Möge in jeder Generation wenigstens einer Priester sein, am besten einer wie ich es bin, das heißt ein Priester für sich, ein Priester des Gottesdienstes, der sein eigenes Handwerk hat! Bedenkt das, meine Söhne! 
7. Ich denke, daß die Aufgaben unseres Geschlechts nicht im Praktischen, nicht im Administrativen liegen, sondern im Kontemplativen, im Denken, in der Organisation des geistigen Lebens auf dem Gebiet der Kultur und der Bildung. Strebt danach, Euch in diese Aufgaben unseres Geschlechts hineinzudenken, Euch ihrer unmittelbaren Erfüllung nicht zu entziehen und nach Möglichkeit die uns anvertraute Arbeit mit Festigkeit zu tun. 
8. Strebt nicht nach Macht, Reichtum, Einfluß... Das ist uns nicht eigen; in geringem Maße kommt es von selbst, in dem Maße, in dem es nötig ist. Andernfalls wird Euer Leben öde und bedrückend sein." [Pawel Florenski, Meinen Kindern. Erinnerungen an eine Jugend im Kaukasus. Deutsch von Fritz und Sieglinde Mierau, Stuttgart 1993, S. 345-347]

Pawel Florenski (vorn mitte) mit seiner Familie, Sergijew Posad, 1917

 

 

 

 

In einem Brief vom 30. Juli an die Gutsbesitzerin in Abramzewo, Alexandra Mamontowa, schreibt Florenski:

"Alles, was um uns herum vorgeht, ist natürlich quälend für uns. Aber ich glaube und hoffe, daß der Nihilismus, wenn er sich erschöpft hat, seine Nichtigkeit erweisen, allen übersein und Haß gegen sich herausfordern wird und dann, nach dem Untergang all dieser Scheußlichkeit, die Herzen und Hirne nicht mehr wie früher lau und furchtsam sein, sondern sich ausgehungert der russischen Idee, der Idee Rußlands, der heiligen Rus zuwenden werden. [...] 
Ich bin überzeugt, daß das Schlimmste noch bevorsteht und nicht hinter uns liegt, daß die Krise noch nicht vorüber ist, aber ich glaube daran, daß die Krise die russische Atmosphäre reinigen wird, ja sogar die Atmosphäre der ganzen Welt, die eigentlich schon seit dem XVII. Jahrhundert verdorben ist.
Dann wird ,Abramzewo' und wird Ihr Abramzewo gewürdigt werden; dann wird man jeden noch so kleinen Balken des Aksakowschen Hauses, jedes Bild, jede Tradition in Abramzewo und bei den Abramzewoern hüten. Sie müssen sich um das alles um der Zukunft Rußlands willen kümmern, gegen alle Hetze und alles Geschrei. [...] Ich will das Schlimmste aussprechen. Sollte Abramzewo physisch vernichtet werden, dann ist trotz dieses ungeheuren Verbrechens der Vernichtung für das russische Volk noch nicht alles verloren, wenn die Idee von Abramzewo lebendig bleibt." [Florenski, Leben und Denken. Bd. I, S. 255-256]

Pawel Florenski (vorn mitte) mit den Sängern der Maria Magdalena geweihten Hauskapelle der Barmherzigen Schwestern des Roten Kreuzes, Sergijew Posad, 1917

 

 

 

Ende Oktober, Anfang November skizziert Florenski ein umfangreiches Vorhaben, das u.a. den Titel "Erste Entwürfe einer konkreten Metaphysik" trägt und später "An den Wasserscheiden des Denkens" benannt ist. Zu den frühesten Texten gehört offenbar "Makrokosmos und Mikrokosmos"; die erste zusammenhängende Niederschrift als Teilmanuskript einer Vorlesungsreihe trägt das Datum 21.9.1917:

"In den Anschauungen der Renaissancezeit begegnet die Parallele zwischen Makro- und Mikrokosmos durchaus häufig. So wird in der 'Geheimen Philosophie' des Agrippa von Nettesheim folgende Überlegung angestellt: 'Als das vollkommene Ebenbild ist der Mensch das schönste aller Werke Gottes, also ein Mikrokosmos, und enthält deshalb in sich alle Zahlen, Maße, Gewichte, Bewegungen und Elemente. Darum haben die Alten ehemals die Zahlen mit den Fingern bezeichnet und in den Teilen des menschlichen Körpers selbst haben sie alle Zahlen, Maße, Proportionen und Harmonien gefunden. Vom menschlichen Körper haben sie abgeleitet und nach dem Maße des Körpers hergestellt alle Tempel, Häuser, Theater, ja auch Schiffe, Maschinen und andere künstliche Bauten jeglicher Art, wie auch alle ihre Teile und Glieder.'" [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1988, Nr. 12, S. 41-42. Übersetzt von Jörg Milbradt]

1918

Im Januar/Februar die autobiographische Skizze "Ungeordnete Notizen über meinen Vater Alexander Iwanowitsch Florenski". 
Im Februar Geburt der Tochter Olga. 
Mai 1918 bis 1922 Ausarbeitung seiner "Philosophie des Kults" und Vorlesungen dazu. 
Pläne zur Veröffentlichung des Gesamtwerks in neunzehn Bänden. 
Im Oktober geht das Kloster (Lawra) in das Eigentum des Volksbildungskommissariats über. Florenski schlägt vor, die Struktur des Klosters und seiner Umgebung zu erhalten und es zu einem "lebendigen Museum" zu machen, das außer Sergijew Posad auch das nahegelegene Abramzewo und Muranowo umfaßt: "Die ganze Eigenart dieses verschwindenden Lebens, dieser Insel des XIV.-XVII. Jahrhunderts, muß vom Staat mit nicht weniger Sorgfalt bewahrt werden wie in den Wäldern von Belowesh die letzten Auerochsen." [Voprosy istorii estestvoznanija i techniki, Moskau 1990, Nr. 2, S. 142]

1918-20

Wissenschaftlicher Sekretär der Kommission zum Schutze der Kunstschätze und Altertümer des Dreifaltigkeits-Sergi-Klosters. Theoretische Arbeiten zur altrussischen Kunst:

"Das Dreifaltigkeits-Sergi-Kloster und Rußland", über dessen geistigen Ort Florenski schreibt:"Hier begegnet uns nicht nur Ästhetik, sondern das Gefühl für Geschichte, das Empfinden der Volksseele, die Wahrnehmung der russischen Staatlichkeit als Ganzes und der schwer erklärbare, aber unbeugsame Gedanke: daß hier in der Lawra, besonders hier, obwohl unverständlich wie, im ideellen Sinne die öffentliche Meinung entsteht, hier wird das Urteil der Geschichte geboren, hier wird absolutes Gericht über alle Seiten des russischen Volkslebens gehalten. Das gerade bildet die umfassende, lebendige Einheit der Lawra als Mikrokosmos und Mikrogeschichte, im gewissen Sinne als Konzept des Wesens unserer Heimat, das gibt der Lawra den Charakter eines Noumenon. Spürbarer als irgendwo sonst schlägt hier der Puls der Geschichte, hier führen die Nervenstränge zusammen, hier macht sich Rußland in seinem ganzen Wesen bemerkbar." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1988, Nr. 1, S. 6. Übersetzt von Jörg Milbradt]

Weiter entstehen: "Die Gebetsikonen des hl. Sergi", "Himmlische Zeichen", "Die umgekehrte Perspektive" und "Der Kultakt als Synthese der Künste" - darin heißt es:

"Ich denke mir die Lawra als eine Art Versuchsstation und Laboratorium zum Studium der wichtigsten Probleme der modernen Ästhetik, in manchem ähnlich etwa dem heutigen Athen. Dann vollzöge sich die theoretische Erörterung der mit der Sakralkunst verbundenen Fragen nicht isoliert von der praktischen Beschäftigung mit ebendieser Kunst, sondern unmittelbar im Angesicht der ästhetischen Erscheinung, an der das theoretische Räsonnement sich kontrollieren und nähren kann." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1988, Nr. 9, S. 36. Übersetzt von Jörg Milbradt]

1918-21

Florenski sammelt Material für eine Biographie über Bischof Antoni (Florensow).

 

1919-1924

Nach Schließung der Moskauer Geistlichen Akademie 1918 setzt Florenski seine Vorlesungen auf Bitten des Bischofs Feodor inoffiziell fort. Seiner Bitte vom September 1924, auf Grund von Meinungsverschiedenheiten mit der neuen Kirchenleitung ihn von seinem Lehramt zu entbinden, scheint nicht stattgegeben worden zu sein.

1919

Am 23. Januar (5. Februar n. n. Kal.) stirbt der Schriftsteller und Philosoph Wassili Rosanow (geb. 1856) in Sergijew Posad. Florenski hat sich in den letzten Monaten um Rosanow gekümmert, sie schätzten sich gegenseitig sehr und standen seit 1909 im Briefwechsel. Bei aller Nähe hat Florenski aber den Unterschied zwischen Rosanow und sich selbst betont. Am 26. Oktober 1915 schrieb er im Zusammenhang mit seinen genealogischen Forschungen in einem Brief an Rosanow:

"Ja, lieber Wassili Wassiljewitsch, unsere Ähnlichkeit reicht in große Tiefen, das, worin wir voneinander abweichen, ist aber nicht weniger tiefgehend. Unsere Ähnlichkeit: Die schneidend schmerzhafte Liebe zum Konkreten, zum Blutvollen und, genau gesagt, zur Wurzel - zur Wurzel der Persönlichkeit, der Geschichte, des Seins, des Wissens. Ich denke, diese Liebe ist ein Erbteil Kostromas, denn es gibt in ganz Rußland und vielleicht auf der ganzen Welt niemand, der seinem Geschmack, seiner Beschaffenheit, der Organisation seiner Seele nach wurzelhafter wäre als die Leute aus Kostroma, besonders aus dem Gebiet jenseits der Wolga. Von da kommt die organische Abneigung gegen alles, was wurzellos ist, was die Wurzeln zerfrißt, was nicht aus der Wurzel wachsen will, sondern 'aus sich selbst'. Aber da liegt nun auch die Verschiedenheit. Sie, der Sie sich in der Literatur 'wie zu Hause' fühlen, sprechen alles aus, was in der Seele aufblitzt, während ich mich nirgends zu Hause fühlen will, außer in dem vertrauten dunklen Wiegen-Grab, in der vertrauten Erde, und meinen Schmerz und meine Freude an ihrem höchsten Punkt nur der Mutter Erde sage. Ich glaube, daß diese Sehnsucht nach dem Schoß auch von Kostroma kommt: Die Leute von Kostroma sind verschlossen und zeigen ihre Seele keinem." [Pawel Florenski, Leben und Denken. Band II. Herausgegeben von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1996, S. 18]

Vorträge in der "Allrussischen Assoziation der Ingenieure" und der "Russischen Gesellschaft der Elektrotechniker" u.a. über "Das Prinzip der Diskontinuität".

1919-21

Unterricht in Physik, Geometrie, Mathematik, Astronomie und Geschichte der materiellen Kultur am Volksbildungsinstitut in Sergijew Posad. Die Vorlesungen zur Mathematik sollen in einer "Enzyklopädie der Mathematik" zusammengefaßt werden. Dazu gehört die geplante Arbeit "Die Zahl als Form", aus der nur der erste Teil "Die pythagoräischen Zahlen" bekannt geworden ist. 1921/22 wird "Die Zahl als Form" zum Druck vorbereitet; für das Titelblatt macht Wladimir Faworski (1886-1964) einen Holzschnitt; das Buch erscheint nicht. 
Sein Verhältnis zur Mathematik schon als Schüler schildert Florenski in seinem "Curriculum vitae":

"In eben diesen Jugendjahren festigte sich die Grundüberzeugung, daß alle möglichen Seinsgesetze schon in der reinen Mathematik enthalten seien als der ersten konkreten und deshalb brauchbaren Selbstmanifestation der Denkprinzipien - das, was man mathematischen Idealismus nennen könnte. Und in Verbindung mit dieser Überzeugung zeigte sich das Bedürfnis, mir eine philosophische Weltanschauung aufzubauen, welche sich auf die vertieften Grundlagen mathematischer Erkenntnis stützt." [zitiert nach: Silberer, Trinitätsidee, S. 6-7]

Zu seinem Werdegang als Mathematiker notiert Florenski in einer Eintragung in Iwan Shegalkins Buch "Transfinite Zahlen" (Moskau 1907):

"In Universitätskreisen, zumindest in Moskauer, bin ich es gewesen, der als erster von transfiniten Zahlen und von Mengen gesprochen hat. Diese Fragen waren damals allen ohne Ausnahme ganz fremd, es ging nicht darum, ob man Cantors Arbeiten anerkannte oder nicht, man kannte sie nicht. Meine Beschäftigung mit diesen Fragen erschien zu Beginn wie Narretei und unnützes Spiel mit halbtheologischen Abstraktionen. Das erste, was an der Moskauer Universität darüber gesagt wurde, stammte von mir. Ich hielt in der Religiös-Philosophischen Studentengesellschaft und in dem Mathematischen Studentenzirkel Vorträge über transfinite Zahlen und über Mengen; im Mathematischen Zirkel waren auch mehrere Professoren anwesend. Das war im Jahre ..., ich war damals Student des ... Studienjahres. Ich habe dann einen populären Aufsatz zu diesem Thema unter der Überschrift 'Über Symbole der Unendlichkeit' veröffentlicht, und zwar fand er Aufnahme im 'Neuen Weg'. In der Folge erlebte ich, wie man sich den tranfiniten Zahlen zuwandte, endlich gab es dazu eine ganze Dissertation von I. I. Shegalkin. Da ich mich also für den Initiator des Studiums der transfiniten Zahlen in der russischen Wissenschaft halte, hätte ich meiner Meinung nach wenigstens eine flüchtige Erwähnung in der diesen Fragen gewidmeten Spezialdissertation und den Bibliographien verdient; man hat aus meinem Aufsatz mehrfach geschöpft (vgl. z.B. die 'Mathematische Bildung'), ohne meinen Namen mit einem Wort zu erwähnen. Priester P. Florenski 8.2.1920 Sergijew Posad" [Florenski, Leben und Denken. Bd. I, S. 135]

1920

Florenski wird zu einem Vortrag über das Kloster ins Kommissariat für Volksbildungswesen bestellt. 
Im Mai/Juli schreibt Florenski weiter an seinen Erinnerungen.
Arbeit mit dem Ultramikroskop am Histologischen Institut der Moskauer Universität. Leitung der Forschungen zur Anwendung des Kunstharzes Carbolit in der Elektrotechnik in der Moskauer Fabrik "Carbolit".

1921-24

Forschungsarbeit im Rahmen der von Leo Trotzki geleiteten Hauptverwaltung der Elektroindustrie beim Obersten Volkswirtschaftsrat der RSFSR auf den Gebieten Hochspannungstechnik, Nichtleiter, Transformatoren. 
Florenski erhält auf Vorschlag des Grafikers und späteren Rektors Wladimir Faworski an den Staatlichen Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten (WCHuTeMas) in Moskau einen Lehrstuhl für Raumanalyse im Kunstwerk. 
Von Florenskis geplantem Buch "Analyse der Räumlichkeit und der Zeit in Werken der bildenden Kunst", das auf seinen Vorlesungen basiert, werden nur Teile bekannt, darunter "Das Gesetz der Illusion". 
Ende 1923 treten die Vertreter der "Produktionskunst", u.a. Ossip Brik, Alexander Rodtschenko, Ljubow Popowa, Georgi und Wladimir Stenberg in Wladimir Majakowskis Zeitschrift "LEF" (= Linke Kunstfront) gegen Florenski auf.

1921

Vorlesungen an der Geistlichen Akademie im Moskauer Petrowski-Kloster über den "Kulturgeschichtlichen Ort und Voraussetzungen des christlichen Weltverständnisses".
Mitarbeit in der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Rußlands. Spezialisierung auf elektrische Felder und Isolatoren. Teilnahme am 8. Kongreß für Elektrotechnik, auf dem der Plan zur Elektrifizierung Rußlands erörtert wird (GOELRO-Plan). 
Im Oktober Geburt des Sohnes Michail (gest. 1961).

1922

Das Buch "Imaginäre Größen in der Geometrie", 1902 begonnen, wird abgeschlossen und erscheint im Druck. Das Buch erregt Aufmerksamkeit; zu seinen Bewunderern zählen Maximilian Woloschin, Ossip Mandelstam, Wsewolod Iwanow, Maxim Gorki, Michail Prischwin, Jewgeni Samjatin und Michail Bulgakow sowie der Philosoph Alexej Lossew; bei der Kritik stößt besonders das Schlußkapitel über das Weltbild in Dantes "Göttlicher Komödie", das Florenski mit Hilfe der Relativitätstheorie rehabilitiert, auf Widerspruch und wird schließlich Anlaß zu seiner Verfolgung. In einem Brief "An die Politabteilung" vom 13. September 1922 wendet sich Florenski gegen Streichungen im Schlußkapitel:

"Bei der Ausarbeitung einer monistischen Weltanschauung, der Ideologie eines konkreten tätigen Verhältnisses zur Welt war und bin ich dem Spiritualismus, dem abstrakten Idealismus und der abstrakten Metaphysik prinzipiell feind. Seit je war ich der Meinung, die Weltanschauung müsse feste, lebendig konkrete Wurzeln haben und in einer lebendigen Verkörperung in der Technik, in der Kunst usw. gipfeln. Insbesondere vertrete ich eine nichteuklidische Geometrie mit dem Ziel technischer Anwendung in der Elektrotechnik (meine große Arbeit über Räume und elektrische Felder wird in Kürze veröffentlicht werden). In Anbetracht dessen darf die zur Rede stehende Passage meiner Broschüre nicht losgelöst interpretiert, sondern muß im Zusammenhang mit dem gesamten Buch über die imaginären Größen und meinen wissenschaftlichen Arbeiten überhaupt gesehen werden, die in Kürze in den technischen Sammelbänden der Hauptverwaltung für Elektroindustrie erscheinen (die Theorie der imaginären Größen ist physikalisch und folglich technisch anwendbar)." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 204]

Der Verlag "Pomorje" kündigt Florenskis Buch "An den Wasserscheiden des Denkens (Grundzüge einer konkreten Metaphysik)" an, mit folgendem Aufbau der ersten Lieferungen:


1 Auf dem Makowez. 
2 Wege und Mittelpunkte. 
3 Die umgekehrte Perspektive. 
4 Denken und Sprache: Wissenschaft als symbolische Beschreibung; Dialektik; Die Antinomie der Sprache; Der Terminus; Die Struktur des Wortes; Die Magie des Wortes; Namensverehrung als philosophische Voraussetzung.

II 
5 Die Verkörperung der Form (Tätigkeit und Werkzeug): Homo faber; Die Fortsetzung unserer Sinne; Organprojektion; Traumsymbolik; Raum des Leibes und mystische Anatomie; Wirtschaft; Makrokosmos und Mikrokosmos.

III 
6 Form und Organisation: Der Begriff der Form; Das Ganze; Divina sectio; Der Goldene Schnitt; Das Ganze in der Zeit; Organisation der Zeit; Entwicklungszyklen; Signatura rerum; Die Formel der Form.

Weitere Lieferungen sollen die folgenden Gegenstände behandeln: 
7 Der Geschlechtername (Geschichte, Genealogie, Vererbung). 
8 Der Sinn des Idealismus (Metaphysik der Geschlechterfolge und des Antlitzes). 
9 Die allgemeinmenschlichen Wurzeln des Idealismus (Die Philosophie der Völker). 
10 Die Metaphysik des Namens im Lichte der Geschichte. 
11 Name und Persönlichkeit. 
12 Über die Orientierung in der Philosophie (Philosophie und Lebensgefühl): Mechanistisches Weltverständnis; Kabbala; Okkultismus; Christentum. 
13 Erde und Himmel (Philosophie, Astrologie, Naturkunde). 
14 Das Schaffen von Symbolen und das Gesetz der Stetigkeit. 
Als einziger Text des geplanten Buches erscheint im Almanach "Phönix", Bd. I: "Symbolische Beschreibung".

Abschluß der Arbeit "Die Ikonostase" als Teil der "Philosophie des Kults":

"Hinsichtlich der geistigen Welt sucht die stets lebendige und schöpferische Kirche keineswegs, die alten Formen als solche zu verteidigen, sie bringt sie auch nicht in Gegensatz zu den neuen Formen als solchen. Das kirchliche Kunstverständnis war, ist und wird eines sein - Realismus. Das bedeutet: die Kirche, 'die Säule und Grundfeste der Wahrheit', fordert nur eines - die Wahrheit. Ob es Wahrheit in alten oder in neuen Formen ist, danach fragt die Kirche nicht, sie fordert stets nur die Beglaubigung, daß etwas wahr ist, und wenn die Beglaubigung vorliegt, so segnet sie es und verleibt es ihrer Schatzkammer der Wahrheit ein - wenn nicht, weist sie es zurück." [Pavel Florenskij, Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland. Übersetzung und Einführung von Ulrich Werner, Stuttgart 1988, S. 89]

Florenski wird Mitglied der literarisch-künstlerischen Vereinigung "Makowez". In der Zeitschrift "Makowez", die in ihrem Programmartikel "Unser Prolog" vom Ende der analytischen Kunst spricht, erscheint Florenskis Aufsatz "Himmlische Zeichen. Gedanken über die Symbolik der Farben", dessen Einleitung sich auf Goethes Farbenlehre stützt, und "Der Kultakt als Synthese der Künste". Zu den Schriftstellern, die in "Makowez" veröffentlichen, gehören Welimir Chlebnikow und Boris Pasternak. 
Im November Niederschrift der Einleitung zum "Symbolarium" und des ersten und einzigen Beitrages "Der Punkt". Die Arbeit an diesem Wörterbuch der Symbole war von Florenski, Alexander Larionow und einigen jungen Philologen vor Jahresfrist in Angriff genommen worden. Larionow lädt u.a. den in Berlin lebenden Maler Wassili Masjutin zur Mitarbeit ein.

1923

Angesichts der Einführung neuer Vor- und Familiennamen und der massenhaften Umbenennung von Fabriken, Straßen und Städten gewinnt Florenskis Buch "Namen", das er zwischen 1923 und 1926 diktiert und das ein umfangreiches Kapitel über den Namen Pawel (Paul) enthält, besondere Bedeutung. Florenski hatte sich schon 1906/07 mit der Philosophie des Namens beschäftigt und war im Zusammenhang mit dem Athos-Streit um den Namen Gottes 1912/13 darauf zurückgekommen, vgl. "Über den Namen Gottes" und "Namensverehrung als philosophische Voraussetzung". 
Florenski schreibt einen Nachruf auf den Priester Alexej Metschow (1859-1923), in dem die christliche Freiheit im Mittelpunkt steht.
Fortsetzung der Autobiographie mit den Teilen "Hafen und Boulevard", "Natur", "Religion", "Wissenschaft"; das Kapitel "Zusammenbruch" folgt dann 1924/25.

1924

In der englischen Zeitschrift "The Pilgrim" (4/1924) erscheint Florenskis Aufsatz "Christentum und Kultur". Florenski versucht hier, die Thesen seines ehemaligen Universitätslehrers Lew Lopatin "zur Grundlage eines Weltbunds zur Wiedergeburt des Christentums zu machen":

"Wenn ich der Aufrichtigkeit eines wie immer festgeschriebenen Christus-Bekenntnisses vertraue, sind damit auch Möglichkeit und Notwendigkeit gegenseitiger Anerkennung und Gemeinschaft gegeben, denn jedes konkrete Leben entfaltet sich, wie aus einer Knospe, von daher und allein von daher. Alles übrige hängt hingegen vom Klima und vom Boden ab, auf dem der Same des Glaubens gedeiht. Pluralität und Unterschiede wird es zwangsläufig geben. Einmal auf Grund der unterschiedlichen geistigen Reife: Einige Konfessionen mögen noch nicht zu bestimmten Manifestationen des religiösen Lebens herangereift sein und sich noch von Milch statt von fester Speise (vgl. Hebr. 5, 12) nähren. 
Man sollte sich nicht selbst betrügen und solche Unterschiede des geistigen und kulturellen Alters, die auch innerhalb einer Konfession, einer Familie sogar, und unter Gleichgesinnten vorkommen, nicht unbeachtet lassen. Sie sprechen keineswegs gegen die Möglichkeit einer gegenseitigen Anerkennung..." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1990, Nr. 11, S. 14. Übersetzt von Jörg Milbradt]

Beginn der Arbeit im Moskauer "Vereinigten Komitee für elektrotechnische Normen und Regeln". Die Monographie "Nichtleiter und ihre technische Anwendung" erscheint. 
Im Oktober Geburt der Tochter Maria-Tinatin. 
Florenski schreibt einen Text "Über das Puppentheater der Jefimows". Den Bildhauer Iwan Jefimow und seine Frau, die Malerin Nina Simonowitsch-Jefimowa, die Florenski mehrfach malte und die Aufzeichnungen über ihre gemeinsamen Gespräche hinterließ, hat Florenski während seiner Lehrtätigkeit an der Moskauer Kunsthochschule kennengelernt. 
Wladimir Komarowski malt drei Porträts von Florenski. 
Tiefe Krise. Aufzeichnungen in dem Heft "Krise mit zweiundvierzig".

1925-1933

Florenski ist Leiter der Abteilung für Materialkunde am Staatlichen Forschungsinstitut für Elektrotechnik und fährt im Sommer 1925 in den Kaukasus, um die Möglichkeiten zur Herstellung von Schmelzbasalt als Isolierstoff zu prüfen.

Pawel Florenski, um 1925

 

 

 

 

 

 

 

1925

In der Zeitschrift "Elektrifizierung" erscheint der Artikel "Die Weltenergievorräte".

1926

Festvortrag zum 50. Jahrestag der Erfindung der Glühbirne durch Pawel Jablotschkow.

Pawel Florenski mit seiner Tochter Maria-Tinatin, Sergijew Posad, 1926

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski mit seinen Kindern Michail und Olga, Sergijew Posad, 1926

 

 

 

Pawel Florenski (2. v. l.) mit seiner Familie, Sergijew Posad, 1926

 

 

 

 

 

 

 

 

1927-33

Redakteur der "Technischen Enzyklopädie", Verfasser von 134 Lexikonartikeln in den Bänden 1-23.

1927-36

Briefwechsel mit dem Geochemiker und Philosophen Wladimir Wernadski (1863-1945), der schon 1921 durch das Buch "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" auf Florenski aufmerksam geworden ist. Florenski interessiert sich für Wernadskis Arbeiten über Kristallographie und Mineralogie im Hinblick auf seine eigenen Forschungen zur elektrotechnischen Materialkunde. Parallele Überlegungen zur Noosphäre (Wernadski) und Pneumatosphäre (Florenski).

1927

Florenskis "Autorreferat" von 1924 erscheint stark gekürzt in der Enzyklopädie des Russischen Bibliographischen Instituts "Granat", Bd. 44:

"Seine Lebensaufgabe versteht F. als Wegbereitung einer künftigen ganzheitlichen Weltanschauung. Für das Grundgesetz der Welt hält F. das Prinzip der Thermodynamik - das Gesetz der Entropie, der allgemeinen Nivellierung (Chaos). Der Welt entgegen steht das Gesetz der Ektropie (Logos). Kultur ist der Kampf mit der Nivellierung der Welt - dem Tod. Kultur (von 'Kult') ist ein organisch zusammenhängendes System von Mitteln zur Verwirklichung und Offenbarung eines Wertes, der als unbedingt angenommen wird und daher als Gegenstand des Glaubens dient. Der Glaube bestimmt den Kult, der Kult das Weltverständnis, aus dem weiter die Kultur folgt. Die allgemeine Weltgesetzmäßigkeit ist als funktionale Abhängigkeit zu verstehen, diskontinuierlich hinsichtlich der Verbindungen und diskret hinsichtlich der Realität als solcher. Diese Diskontinuität und Vereinzelung in der Welt führt zur pythagoräischen Behauptung der Zahl als Form und zu dem Versuch, die 'Ideen' Platos als Urbilder zu erklären." [Enciklopediceskij slovar', Band 44, Moskau 1927, Sp. 143-144]

Über sein Verhältnis zur Politik schreibt Florenski zur gleichen Zeit:

"Zu Fragen der Politik habe ich so gut wie nichts zu sagen. Entsprechend meiner Veranlagung, der Art meiner Beschäftigungen und der aus der Geschichte gewonnenen Überzeugung, daß sich die historischen Ereignisse ganz und gar nicht so entwickeln, wie die daran Beteiligten das vorsehen, sondern nach bis heute ungeklärten Gesetzen gesellschaftlicher Dynamik, habe ich mich stets von der Politik ferngehalten und darüber hinaus die Ansicht vertreten, daß es für die Gesellschaft schädlich ist, wenn sich Männer der Wissenschaft, die berufen sind, leidenschaftslose Experten zu sein, in den politischen Kampf einmischen. Niemals im Leben habe ich einer politischen Partei angehört." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1990, Nr. 10, S. 39. Übersetzt von Jörg Milbradt]

1928

Im Mai Verhaftung mit anderen Geistlichen und Gläubigen in Sergijew Posad. Florenski wird vorgeworfen, unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Arbeit religiöse Propaganda betrieben zu haben, als Beweis dient das Buch von Florenski und Juri Olsufjew über den russischen Graveur des 15. Jahrhunderts Amwrosi. 
Florenski wird in das Butyrka-Gefängnis eingeliefert und im Juli nach Nishni Nowgorod verbannt, wo er im Radiolaboratorium arbeitet und weitere Artikel für die "Technische Enzyklopädie" redigiert, die ihm nachgeschickt werden.

Pawel Florenski in der Verbannung, Nishi Nowgorod, 1928

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski in der Verbannung, Nishi Nowgorod, 1928

 

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski, Nishi Nowgorod, 1928

 

 

 

 

 

 

 

Mit Hilfe des Politischen Roten Kreuzes, dessen Vorsitzende Maxim Gorkis erste Frau Jekaterina Peschkowa ist, kann Florenski im September nach Moskau zurückkehren. Nach seiner Rückkehr ist er weiterhin Leiter der Abteilung Materialkunde am gleichen Institut.

Pawel Florenski (4. v. r.) mit Mitarbeitern im Laboratorium für Materialkunde, Moskau, 1928

 

 

 


Sein Buch "Carbolit. Seine Herstellung und Eigenschaften" erscheint. Im Vorwort heißt es:

"Es gehört zur Gruppe der organischen Stoffe, mit denen die Industrie in einen offenen Wettbewerb mit der Natur tritt und die in diesem Sinne als Zeichen einer neuen, einer synthetischen Epoche im Verhältnis zur Welt angesehen werden können. Das frühere Verhältnis kam in der Reinigung, in der Trennung, in der Analyse zum Ausdruck. Das neue Verhältnis gibt sich nicht mit den fertigen Produkten zufrieden, sondern stellt sie durch künstliche Verbindungen her, indem sie den Prozeß auf vorher festgelegte Ziele hinlenkt. Drei Reiche der Natur - das Tierreich in Gestalt seiner Erdölprodukte, das Pflanzenreich in Gestalt seiner Steinkohlenprodukte und der trockenen Holzdestillation und schließlich das Mineralreich in Gestalt verschiedener Salze und anorganischer Verbindungen - müssen vereint werden, damit der feste Körper Carbolit entsteht, der gleichzeitig an die Festigkeit des Holzes, die Haltbarkeit des Kautschuks, an Harz und Knochen erinnert, aber sie alle durch die harmonische Verbindung ihrer technischen Eigenschaften übertrifft." [Michael Hagemeister, P. A. Florenskij und seine Schrift "Mnimosti v geometrii". In: P. A. Florenskij, Mnimosti v geometrii. Moskva 1922. Nachdruck nebst einer einführenden Studie von Michael Hagemeister (= Specimina Philologiae Slavicae, Supplementband 14), München 1985, S. 40]

 

Pawel Florenski (hinten mitte), Umgebung von Sergijew Posad, 1928

 

 

 

 

Pawel Florenski mit seiner Familie, Umgebung von Sergijew Posad, um 1929

 

 

 

 

1929

Teilnahme an Konferenzen über Isolierstoffe, Graphit, Glimmer.

1930

Florenski wird zum stellvertretenden Direktor für Wissenschaft am Allunionsinstitut für Elektrotechnik ernannt und leitet außer der Abteilung Materialkunde die Abteilungen Vakuum-, Röntgen-, Meß- und Lichttechnik.

1931

Auf Grund eines postum in Paris veröffentlichten Vortragsmanuskriptes, das nicht Florenskis Namen trägt, aber seinen Gedankengängen nahekommt, wird vermutet, daß er im Januar in einem kleinen Kreis über Alexander Blok gesprochen hat. 
Reise zu den Lagerstätten Mariupol (Graphit), Kertsch (Eisenerz), Tiflis und Tschiatura (Mangan).

1932

Florenski wird Mitglied der Kommission zur Standardisierung der wissenschaftlich-technischen Bezeichnungen, Fachtermini und Symbole beim Rat für Arbeit und Verteidigung der UdSSR. Vertrag mit der Verlagsabteilung der Luftstreitkräfte der Roten Armee über das Buch "Elektrotechnische Materialkunde", das zu Florenskis Lebzeiten nicht erschienen ist. 
Der Aufsatz "Die Physik im Dienste der Mathematik" erscheint, der 1933 als äußerer Anlaß seiner Verhaftung und Verurteilung dient. Dort schreibt Florenski:

"Den Mathematikern wird nichts anderes übrigbleiben, als offen das Telepathische ihrer Erkenntnis zu bekunden oder aber ebenso offen zuzugeben, daß ihr Wissen ein vermitteltes sei und damit in die Mathematik etwas als legitim einzuführen, dessen sie sich immer auf illegitime Weise bedient haben - die intuitive Wahrnehmung der verschiedenen Wirkkräfte der Natur und der ihnen innewohnenden Eigenschaften. Dann wird die mathematische Axiomatik von Grund auf umgestaltet werden müssen. Eine verhältnismäßig geringfügige Verschiebung auf das Physikalisch-Intuitive mathematischer Kenntnisse hin (ich meine die beiden Relativitätsprinzipien) hat zu unüberblickbaren Folgen geführt. Bis in welche Tiefen wird das mathematische Denken umgestaltet werden müssen, wenn man sich einmal das Bedingte und Scholastische des heutigen mathematischen Formalismus klargemacht und begriffen hat, daß die Mathematik vom Leben ausgeht, von ihm gespeist wird und ihm dient. [...] Wie oben dargelegt, stützt sich die Mathematik wesentlich auf die Intuition, und zwar nicht auf eine vereinzelte, bresthafte und eingeschmuggelte Intuition, das zugestandene Minimum an Leben, sondern auf die ganze Fülle des Lebens." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 237, 238]

 

Pawel Florenski mit seiner Frau und Sohn Michail, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

Pawel Florenski mit seiner Frau, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

Pawel Florenski mit seiner Frau und Sohn Michail, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski, Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

 

Pawel Florenski, Umgebung von Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

 

 

 

 

Pawel Florenski, Umgebung von Sagorsk (Sergijew Posad), 1932

 

 

 

 

1933-1937

Am 25. Februar 1933 wird Florenski in seiner Moskauer Dienstwohnung von der Geheimpolizei GPU verhaftet. Die Anklage lautet auf "Konterrevolutionäre Agitation und Propaganda sowie organisierte konterrevolutionäre Tätigkeit". Ziel dieser Tätigkeit, angeblich in einer "Partei der Wiedergeburt Rußlands": Bildung einer sich auf die orthodoxe Kirche stützenden republikanischen Regierung und die Union zwischen katholischer und orthodoxer Kirche.

Pawel Florenski nach seiner Verhaftung, Moskau, 27. Februar1933

 

 

 


Am 26. März beendet Florenski in der Untersuchungshaft ein etwa fünfzig Seiten langes Traktat mit dem Titel "Mutmaßlicher Staatsaufbau in der Zukunft"; man erwartete ein Schuldbekenntnis, die Abhandlung ist jedoch so abgefaßt, daß Florenskis wahre Meinung über diesen Gegenstand immer wieder zum Ausdruck kommt. Florenski entwirft in seiner Schrift, einer etatistischen, antiindividualistischen Sozialutopie, die in der autoritären Utopietradition von Platons "Politeia" und Campanellas "Sonnenstaat" steht, eine neue ganzheitliche Kultur. Der ideale "Staat der Zukunft" wird eine perfekt organisierte und kontrollierte, nach Außen abgeschottete totalitäre Diktatur sein. Er wird von seinen Untertanen Ergebenheit, Unterordnung und den Dienst am "Ganzen" fordern und dafür sorgen, daß die Bestrebungen und Bedürfnisse des "neuen Menschen" mit denen der Gesamtheit übereinstimmen. Individuelle Grund- und Menschenrechte werden damit obsolet. An der Spitze des Staates wird ein Führer stehen, den Florenski als genialen und charismatischen, nur sich selbst verantwortlichen Willensmenschen zeichnet:

"Als Surrogat einer solchen Persönlichkeit, als Zwischenstufe der Geschichte, erscheinen Akteure vom Schlage Mussolinis, Hitlers u.a. Historisch ist ihr Erscheinen zweckmäßig, da es den Massen die demokratische Denkungsart sowie die Vorurteile über Parteien, Parlamente und ähnliches abgewöhnt und ihnen einen Vorgeschmack davon gibt, wieviel der Wille bewirken kann. Doch besitzen diese Gestalten noch kein echtes Schöpfertum, und es scheint, als seien sie nur die ersten Versuche der Menschheit, den Helden hervorzubringen. Die künftige Ordnung unseres Landes erwartet denjenigen, der über Willen und Intuition verfügt und sich nicht scheuen würde, offen die Fesseln der Repräsentation, des Parteiensystems, des Wahlrechts usw. zu zerbrechen, und der sich ganz dem Ziel, das ihn anzieht, widmen würde. Alle Rechte auf die Herrschaft, [...] ob sie auf Wahlen oder auf Ernennung beruhen, sind alter Plunder, der ins Krematorium gehört. Zur Schaffung der neuen Ordnung, die eine neue Periode der Geschichte und eine ihr entsprechende neue Kultur eröffnen soll, gibt es nur ein Recht ­ die Kraft des Genies, die Kraft, diese Ordnung zu errichten. Dieses Recht ist allerdings nicht menschlichen Ursprungs und verdient deshalb göttlich genannt zu werden. Und wie auch immer sich dieser Schöpfer der Kultur nennen mag ­ Diktator, Lenker, Imperator oder sonstwie ­, wir werden ihn für einen wahren Selbstherrscher halten und uns ihm nicht aus Furcht unterwerfen, sondern in der zitternden Erkenntnis, daß wir es mit einem Wunder zu tun haben und der lebendigen Erscheinung der Schöpferkraft der Menscheit." [Literaturnaja ucheba, 3/1991, S. 98. Übersetzt von Michael Hagemeister]

Am 26. Juli wird Florenski zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Ostsibirien verurteilt. Anfang Dezember trifft er in dem Lager "Swobodny" an der Baikal-Amur-Magistrale ein und wird der Abteilung für wissenschaftliche Forschung zugeteilt.

1934

Überführung auf die Versuchsstation zur Erforschung des Eisbodens in Skoworodino im Amurgebiet. Arbeiten zu den mechanischen Eigenschaften und der elektrischen Leitfähigkeit des Dauerfrostbodens, die Eingang finden in das 1940 in Moskau erscheinende Buch "Das Bauen auf Dauerfrostboden" von Nikolai Bykow und Pawel Kapterew. Kapterew, ebenfalls seinerzeit Mitarbeiter in der Kommission zum Schutze der Kunstschätze und Altertümer des Dreifaltigkeits-Sergi-Klosters, wurde mit Florenski zusammen verbannt. Florenskis Name wird in dem Buch nicht genannt. Vorträge über den Dauerfrostboden.

Pawel Florenski (links) und Pawel Kapterew, Skoworodino, 1934

 

 

 

Als Florenski im Frühjahr 1934 erfährt, daß seine Bücher, Fotosammlungen, Exzerpte und Manuskripte beschlagnahmt wurden, schreibt er an die Lagerleitung: "Die Vernichtung der Ergebnisse meiner Lebensarbeit ist für mich weit schlimmer als der physische Tod." [Stimme der Orthodoxie, Berlin 1990, Nr. 12, S. 30. Übersetzt von Jörg Milbradt]
Florenski sammelt Material zu einem orotschisch-russischen Wörterbuch und beginnt das Poem über die Orotschen, "Oró".
Im Juli/August Besuch seiner Frau und seiner Kinder Olga, Michail und Maria-Tinatin. Den Vorschlag der Tschechoslowakei, ihn durch Verhandlungen freizubekommen und seine Ausreise zu bewirken, lehnt Florenski mit Berufung auf den Apostel Paulus (Phil. 4, 11) ab. Noch während des Besuchs der Familie kommt Florenski auf die Isolierstation. Nach vierzehntägiger Isolierhaft am 1. September Überführung in das Lager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer, wo er in der zweiten Oktoberhälfte eintrifft. 
In der Jodfabrik des Lagers Forschungen zur Gewinnung von Jod und Agar-Agar aus Meeresalgen. Über zehn Patente.

1935-36

Vorträge über Mathematik und Physik (Atomkern) sowie zur Technologie und Chemie der Wasserpflanzen. 
Fortsetzung der Korrespondenz mit Wernadski, der ihm seine Arbeiten schickt, u.a. seine Monographie über das Wasser. Die Korrespondenz geht über Florenskis Familie, sein Sohn Kirill ist ab 1935 Laborant bei Wernadski. 

1934-37

Kurz nach seiner Ankunft auf den Solowki-Inseln schreibt Florenski am 5. November 1934 an seine Frau Anna:

"Meine liebe Annulja, gestern erhielt ich Dein Telegramm, es hat mich sehr traurig gemacht. Du verstehst gar nicht, was Du da schreibst, Solowki, das ist nicht die BAM, ich konnte mich nicht entschließen, Dir mit einem Telegramm zu antworten, weil ich fürchtete, dadurch das Recht auf einen Brief zu verlieren. In klimatischer Hinsicht ist hier, mit dem Fernen Osten verglichen, auch alles umgekehrt: Es ist feucht, verhältnismäßig warm (heute war das erste Eis auf den Pfützen), es weht ein durchdringender Wind, deshalb ist einem kälter als bei strengem Frost, der Himmel ist fast immer grau, bewölkt, bedeckt, eine ziemlich einförmige Natur. Der Wald ist allerdings nicht so übel, aber ich habe ihn bisher nur einmal gesehen, bei Erdarbeiten, es war eine freudige Begegnung. Überall liegen Granitblöcke und anderes kristallines Gestein aus der Eiszeit. Felsgestein sieht man nicht, der Boden ist sandig. Mein Handtuch im Zimmer wird nie trocken, und es ist mir auch in mehreren Tagen nicht gelungen, die gewaschenen Sachen zu trocknen. Überhaupt ist alles eintönig, traurig, unansehnlich, besonders nach dem Fernen Osten. Das Weiße Meer ist schmutziggrau und sieht gar nicht nach Meer aus. Es gibt viele Seen, ich glaube 450. Im Sommer sind sie vielleicht nicht so übel, aber jetzt sind sie alle grau und erfreuen das Auge nicht. 
Den Gedanken an einen Besuch mußt Du Dir aus dem Kopf schlagen, das ist ganz unmöglich, aber selbst wenn es möglich wäre, wäre ich als erster dagegen, aus mehreren Gründen: Allein die Fahrt über das Weiße Meer wäre eine Katastrophe für Dich, Du würdest sie nicht aushalten, wo Dir schon in der Straßenbahn schlecht wird. - Jetzt zum Praktischen. Sachen und Geld bitte nicht schicken, nur das, worum ich selber bitte. Schickt mir also: 
1. Eine Brille, konkav 6,0 OD und OS, am besten eine ovale (meine Ersatzbrille hat man mir gestohlen, und die, die ich aufhabe, ist halb kaputt und zu schwach). Vielleicht findet sich unter meinen Sachen, wenn Ihr sie schon habt, eine passende. 
2. Fingerhandschuhe. Oder Fausthandschuhe, am besten aber Fingerhandschuhe. 3 Ledergürtel, 2 schmale und einen breiteren, letzteren nicht unbedingt. 
3. Eine Zigarettenspitze, die billigste, die Ihr bekommt, aber nicht zu kurz. 
4. Billige Papirossy und Machorka, etwas Zigarettenpapier. 
5. Weißes Schreibpapier und 2-3 Hefte. 
6. Einige Schreibfedern. 
7. Verschiedene Sorten Ersatzkaffee. 
8. Zwiebeln. 
9. Irgendwelches Fett, z.B. Sonnenblumenöl oder so etwas ähnliches, hier besteht großer Mangel an Fett. 
10. Irgendwelche Stiefel oder Schuhe, am besten hohe Schuhe, nicht allzu neu, ganz einfach, aber solide. Wenn sie mir zu groß sein sollten, das macht nichts, dann wickle ich mir etwas um die Füße. 
[1934. 7. XI.] Ich sitze jetzt im Büro und habe Telefondienst. Ich will schnell mitteilen, daß ich gestern umgezogen bin in ein neues Zimmer, das viel kleiner, viel wärmer und viel angenehmer ist als das vorige. 
Zu den Oktoberfeiern hatte man hier eine kleine Ausstellung mit den örtlichen Produkten gemacht, vor allem mit Gemüsen und Feldfrüchten. Ungeachtet des Breitengrads zieht man hier Hackfrüchte von beachtlicher Größe, Kartoffeln, Kohlrüben, Turnips [Weiße Rüben, Stoppelrüben (Brassica rapa)], Futterrüben; Mohrrüben und Rote Rüben sind kleiner und schlechter. Kohl, auch Blumenkohl, ist sehr gut. An Getreidearten sind vertreten: Hafer, Roggen, Weizen. Gerade gestern arbeitete ich auf einem Meliorationsfeld: Das Torfmoor an der Stelle eines ehemaligen Sumpfwaldes wird in Ackerland umgewandelt, dazu mußten die Wurzeln und Stämme aus dem Torfboden herausgeholt und gestapelt werden. Gestern fiel der erste Schnee, und es sah etwas freundlicher aus, wenn der Himmel auch hoffnungslos grau ist. 
Vor langem bin ich schon zu dem Schluß gekommen, daß sich all unsere Wünsche im Leben verwirklichen, aber sie verwirklichen sich mit viel zu großer Verspätung und auf eine nicht wiederzuerkennende karikaturhafte Weise. Die letzten Jahre wünschte ich mir ein Leben Wand an Wand mit einem Laboratorium - das ist eingetroffen, aber in Skoworodino. Ich wollte mich mit Bodenfragen beschäftigen, das ist ebenfalls eingetroffen - dort. Ich habe früher davon geträumt, in einem Kloster zu leben - ich lebe in einem Kloster, aber auf den Solowki-Inseln. In meiner Kindheit hatte ich die Vorstellung, auf einer Insel zu leben, Ebbe und Flut zu beobachten und mit Algen zu tun zu haben. Nun bin ich auf einer Insel, hier herrscht Ebbe und Flut, und ich werde vielleicht bald mit Algen zu tun bekommen. Die Wünsche gehen aber so in Erfüllung, daß du sie nicht wiedererkennst, und erst, wenn sie schon lange vergangen sind. Ich küsse Dich innig, meine liebe Annulja, verzage nicht, sei guten Mutes. P. Florenski." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 243-245]

In dem Brief Nr. 58 [die Briefe an seine Familie numeriert Florenski, der letzte bekannte Brief vom 18./19. Juni 1937 trägt die Nummer 103] vom 23.-25. April 1936 schreibt Florenski an seine Mutter über die Richtung seines wissenschaftlichen Interesses:

"Äußerlich geht einstweilen alles glatt, das heißt ich bin soweit gesund und munter, arbeite, lebe unter erträglichen Bedingungen, bin von erträglichen Menschen umgeben. Du schreibst, ich nähme an den heutigen Arbeiten zur Physik keinen Anteil. Das kommt nicht nur daher, daß ich nicht in Moskau bin. Der Geist der modernen Physik, dieses extreme Abstrahieren von der konkreten Erscheinung, das Ersetzen der physikalischen Gestalt durch analytische Formeln, ist mir fremd. Ich lebe ganz und gar aus einem goethisch-faradayschen Weltempfinden und Weltverständnis. Die heutige Physik ist die Quintessenz bürgerlichen Denkens, ich verstehe eigentlich nicht, warum man sich im Lande der Sowjets damit beschäftigt. Die Physik der Zukunft muß andere Wege gehen, sich der konkreten Gestalt zuwenden. Sie muß ihre Grundpositionen überprüfen, sie darf nicht bei einem deutlich veralteten Denken Anleihen machen. Nein, auch in Moskau würde ich mich an den Arbeiten, den heutigen Arbeiten zur Physik nicht beteiligen, sondern mich mit Kosmophysik befassen, mit den Grundprinzipien der Struktur der Materie, so wie sie in der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist und nicht, wie man sie aus formalen Prämissen abstrakt konstruiert. Näher an die Wirklichkeit, näher an das Leben der Welt - das ist meine Richtung. Nicht ohne Ursache bin ich damals in die elektrotechnische Materialkunde gegangen. Ich küsse Dich noch einmal, liebe Mamotschka." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 302]


Erste Seite eines Briefes von Pawel Florenski vom 20./21. September 1936 an seine Familie aus dem Lager auf den Solowki-Inseln

 

 

 

 

 

 

Wie Florenski bei aller Konzentration auf die ihm im Lager übertragenen Aufgaben immer nur die Sorge um seine Familie erfüllte, lesen wir in dem Brief Nr. 86 vom 4. Dezember 1936 bis 6. Januar 1937 an seine Frau Anna, seinen Sohn Michail, seine Töchter Maria-Tinatin und Olga:

"[Solovki, 3.-4. I. 1937] Liebe Annulja, 
ich wollte Euch in der Nacht schreiben, am Beginn des ersten Tages des neuen Jahres, aber es ist mir nicht gelungen. Doch habe ich besonders intensiv an Euch gedacht und war froh bei dem Gedanken, daß Ihr Euch zu dieser Zeit zusammengefunden hattet. Ich habe Deinen [Brief] Nr. 36 vom 21. Dezember erhalten, und zwar schnell - am 30. Dezember. Ich werde nun in der Reihenfolge Deines Briefes antworten. 
Daß Dir die Zeichnungen auf Wachspapier gefallen, haben sie nicht verdient. Das sind doch nur Kopien aus einem Buch, und noch dazu sehr schlechte, da ich keine gute Feder habe und man außerdem auf Wachspapier keine feine Linie ziehen kann. Die Zeichnungen auf Papier sind dagegen nach der Natur, und es scheint, daß es solche Zeichnungen bislang überhaupt nicht gegeben hat; außerdem sind sie exakt, da alles nach genauer Abmessung und im Maßstab erscheint. Ich schicke Dir 4 Tafeln zum Studium der Alge Polysiphonia urceolata, forma roseola; Gobi nannte diese Alge Polysiphonia pulvinata. Unansehnlich und klein, besitzt sie jedoch eine höchst bemerkenswerte Struktur (sie besteht aus einzelnen, in Bündeln zusammengewachsenen und in ein gemeinsames Futteral eingeschlossenen kleinen Siphon-Röhrchen, deren Wände mit rotem Pigment bedeckt sind) und vor allem ein hohes Alter: sie reicht bis ins Präkambrium zurück, d.h. auf den Beginn der Entstehung des Lebens und der Bildung der gegenwärtigen Erdrinde.

Zeichnungen (Polysiphonia urceolata) von Pawel Florenski in einem Brief an seine Familie aus dem Lager auf den Solowki-Inseln, 1936/37

 

 

 

 

Außerdem schicke ich Dir 2 Skizzen von Flechten auf Kuzovy [Gruppe kleiner Inseln zwischen Solovki und dem karelischen Festland]. Flechten (das Schwarze und Grüne sind die Flechten, das Blaßrote und Graue ist das bloße Gestein) wachsen zyklisch, in konzentrischen Auswüchsen, offenbar sind das ihre Jahresringe, wenn sich in einer günstigen Saison massive Abschnitte des Thallus [Vegetationskörper der niederen Pflanzen, besonders der Algen, Pilze und Flechten] entwickeln. Ich habe es nicht mehr geschafft, das aufzuzeichnen, doch habe ich einen Fall von 7 konzentrischen Kreisen beobachtet, sie waren freilich nicht immer vollständig. Ich weiß nicht, ob eine solche Beobachtung bereits von jemand anderem gemacht worden ist, doch sage ich, daß an anderen Orten diese Kreisförmigkeit nur andeutungsweise und undeutlich vorkommt, nur auf Kuzovy, dort allerdings überall, habe ich sie deutlich ausgebildet gesehen. Ich weiß nicht, ob meine Zeichnungen irgendeinen Wert haben, doch wenn ich sie mache, denke ich die ganze Zeit an Euch, und für Euch mache ich sie.


 

Zeichnungen (Corallina officinalis) von Pawel Florenski in einem Brief an seine Familie aus dem Lager auf den Solowki-Inseln, 1936/37

Du fragst, was Alginat ist. In den Braunalgen (Laminaria, Fucus und einigen anderen) ist sowohl frei als auch in Form von Kalziumsalz eine sonst nirgends vorkommende organische Säure enthalten, genannt die algine, d.h. die in Algen vorkommende, oder einfach das Algin. Die Salze dieser Säure heißen Alginate unter Hinzufügung der Bezeichnung für das Metall, mit dem die Säure verbunden ist. Was Algin chemisch ist, wurde bisher noch nicht festgestellt, doch wird behauptet und es gibt Anzeichen dafür, daß es sich um eine komplizierte Form von Mannuronsäure handelt. Aber das wird Dir nichts sagen. Algin ist weder in Wasser löslich (es quillt darin) noch in anderen Lösungsmitteln, doch löst es sich in einer Soda- oder Alkalilösung, wobei es sich chemisch in Natrium- oder Kaliumalginat verwandelt. Beim Hinzugießen von Mineralsäure verliert die Alginsäure ihr Metall und sondert sich in Form von kleinen halbdurchsichtigen Klümpchen ab - ganz wie eine Meduse. Das geschieht, wenn man dem Natrium- oder Kaliumalginat die Salze von Schwer- oder Erdalkalimetallen (Chrom, Mg) zuführt: dann bilden sich ihre nichtlöslichen, quellenden, gallertartigen Alginate. Auf dieser Umwandlung basiert eine Reihe von Anwendungen des Natriumalginats: Man trägt es in Form einer Lösung auf, verwandelt es danach in Algin oder unlösliches Alginat, und beim Eintrocknen entsteht ein elastischer, unlöslicher, durchsichtiger und nichtentzündlicher Film. Hier z.B. das Papier, auf dem die Ahnfeltia gezeichnet ist in Form eines kleinen Busches oder die Rhizoide [Wurzelähnliche Haftorgane der Algen] der Laminaria, wurde von mir aus Filterpapier hergestellt durch Tränken mit Natriumalginat und Behandlung mit Säure: das ergab eine in Wasser unlösliche Imprägnierung. Und sie genügt. 
Du schreibst über den Kleinen [Florenskis Enkel Pavel Vasil'evic, geb. 7. Juni 1936] und über meinen Vater. Mir scheint aus verschiedenen Gründen, daß er immer in Sorge war, sowohl als ich klein war, wie auch gegen Ende seines Lebens - in einer unüberwindbaren Sorge um Mama und um uns, und die Versuche, ihn zu beruhigen, riefen starke Gereiztheit hervor. Es war ein krankhafter Zustand, teilweise verursacht durch physische Krankheit, vielleicht aber verschärfte sich diese auch durch die seelische Unruhe. Doch wollen wir keinen Blick in eine Zukunft werfen, die niemand kennt. Möge der Kleine gedeihen, umgeben von Liebe und Zärtlichkeit, möge er zivilisiert aufwachsen und keine Sorge kennen. Unsere Aufgabe aber ist es, Sorgen und Unruhen auf uns zu nehmen. Denn die Lebensaufgabe besteht nicht darin, ohne Unruhen sein Leben zu verbringen, sondern darin, würdig zu leben und kein Nichtsnutz und Ballast für sein Land zu sein. Wenn man in eine stürmische Phase des geschichtlichen Lebens seines Landes oder gar der ganzen Welt gerät, wenn Weltprobleme entschieden werden, so ist das natürlich schwer, erfordert Anstrengungen und Leiden, doch muß man sich gerade hier als Mensch erweisen und seine Würde zeigen. Nun gab es auch friedliche und ruhige Perioden. Aber hat die Mehrheit diese Jahre der Ruhe genutzt? Natürlich nicht, man hat sich mit Kartenspiel beschäftigt, mit Intrigen, mit leerem Geschwätz, und man hat sehr wenig getan, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Waren jene Menschen zufrieden? Nein, sie quälten sich vor Langeweile, es zog sie irgendwohin, je sie rechneten sogar selbstherrlich mit dem Leben ab. Wenn ich zurückblicke und mein Leben betrachte (in meinem Alter ist das besonders angezeigt), so sehe ich nicht, worin ich mein Leben wesentlich ändern sollte, müßte ich unter denselben Bedingungen noch einmal beginnen. Natürlich weiß ich hinter mir viele einzelne Irrtümer, Fehler und Leidenschaften, doch haben sie mich nicht von der Grundrichtung abgelenkt, und ich mache mir deswegen keine Vorwürfe. Ich hätte weit mehr geben können, als ich gegeben habe, und meine Kräfte sind bis auf den heutigen Tag nicht erschöpft, doch die Menschheit und die Gesellschaft sind nicht so, daß sie von mir das Allerwertvollste annehmen könnten. Ich wurde zur Unzeit geboren, und wenn man über Schuld spricht, so liegt darin meine Schuld. Vielleicht hätten meine Möglichkeiten in 150 Jahren besser genutzt werden können. Doch wenn ich das geschichtliche Umfeld meines Lebens in Betracht ziehe, so empfinde ich im wesentlichen keine Gewissensbisse über mein Leben. Eher umgekehrt. Ich bereue (wenngleich diese Reue nicht in die Tiefe geht), daß ich, da ich mich ganz der Pflicht hingab, mich nicht genügend für mich selbst verausgabt habe - mit 'für mich selbst' meine ich Euch, die ich als einen Teil meiner selbst empfinde, - ich konnte Euch nicht erfreuen und erheitern, den Kindern gab ich nicht alles, was ich ihnen hätte geben wollen. 
Zu Tika. Ich bin überzeugt, daß ihre geringen Erfolge keineswegs aus einem Mangel an Fähigkeiten rühren, sondern aus Verwirrung, mangelndem Selbstvertrauen und Schüchternheit wie auch aus einer unzureichenden physischen Entwicklung. Man muß sie ermutigen, ihr helfen, daß sie fest auf eigenen Beinen steht, sich mit ihr unterhalten, ihr vorlesen und sie selbst zum Lesen bringen; soll sie lesen, was ihr gefällt, auch wenn es nicht erstklassig ist, wenn sie sich nur ans Lesen gewöhnt. Man muß ihre Kenntnisse auflockern und, um dies zu erreichen, sie dazu bringen, sie in verschiedenen Kombinationen zu verbinden, und sei es mit Hilfe der Phantasie. So soll sie z.B. von einer ausgedachten Reise erzählen oder schwierige Fälle auf verschiedenen Gebieten lösen. 
Zu Mik. Er ist in einem Übergangsalter, das nie einfach, bei Sensibilität und Begabtheit jedoch besonders schwierig ist. Ich zweifle kein bißchen daran, daß Mik Dir Freude machen und daß er ausgeglichener werden wird. Jetzt aber sollte man ihm nicht zuviel Freiheit lassen, sondern ihn mit Strenge behandeln und einfach warten, geduldig und hoffnungsvoll. Es drängt ihn aus dem Haus, denn er sucht Eindrücke. Versucht ihm welche zu geben. Vasja und Kira sollen ihm beibringen, sich in naturwissenschaftlichen Sammlungen auszukennen, irgendwelche Beobachtungen anzustellen und Experimente durchzuführen, Notizen und Zeichnungen anzufertigen, Material zu einer Sache zu sammeln, die ihm mehr oder weniger beschäftigt, z.B. über Photographie. Das wird ihm auch in der Zukunft nützen und weist eine Richtung in der Gegenwart. Bemühe Dich, daß zu Hause der Gebrauch einer Fremdsprache (wenn auch nur in einzelnen Sätzen) zur Gewohnheit wird, nur so läßt sich eine Sprache aneignen. Auch wenn das letztlich nur einzelne Worte sind und nicht ganz richtig: Wichtig ist es, den inneren Widerstand zu überwinden und die Sprache heimisch zu machen, die sonst nicht als etwas Anwendbares, sondern nur als Schulfach empfunden wird. Darin liegt das ganze Übel. Man soll sie gebrauchen, und sei es auch ungeschickt. - Bitte ihn, das Vögelchen für den kleinen Nikita anzumalen, dafür braucht er nicht mehr als eine Viertelstunde, und er kann das sofort machen.
Zu Dir. Ich schrieb keineswegs über Deine Unentbehrlichkeit in Küche und Haus (übrigens ist auch die wichtig), sondern darüber, daß die Kinder Dich brauchen als Quelle von Wärme, von Liebe, wie auch als Band für sie untereinander. Sie alle haben Dich sehr, sehr lieb, doch verhalten sie sich nach menschlicher Gewohnheit achtlos zu dem, was sie schon haben. Wo ist El. Vl. hergekommen? Über Natasa ärgerst Du Dich unnötigerweise. Es wäre schlecht, wenn sie alles verwerfen würde, was sie von ihrer Mutter mitbekommen hat, wer diese auch sein mag (ich kenne sie nicht und habe auch keine Vorstellung von ihr). Aber Natasa sollte etwas Besseres zu sehen bekommen, dann wird sie es sich auch aneignen. 
Ich küsse Dich, liebe Annulja, und küsse Dich noch einmal.

[4. XII. 1936] Lieber Mik, 
gut, daß man in Zagorsk [Sergiev Posad, ca. 70 km nordöstlich von Moskau, hieß von 1930 bis 1991 Zagorsk] ein Haus des Pioniers gebaut hat und noch dazu prächtig und interessant dekoriert. Doch es ist traurig, daß sich Autos, Lastwagen und die übrigen Ursachen für Luftverschmutzung und Ruhestörung vermehrt haben. Vor meinen Augen verwandelt sich seit 1904, als ich zum ersten Mal an den Ort unseres Lebens kam, der stille, in wunderschöner Umgebung liegende Posad allmählich in den lärmigen Moskauer Vorort Zagorsk, und alles Liebenswerte, dessentwegen ich am Posad festhielt, entschwindet in die Erinnerung. Schon gibt es nicht mehr die einstigen Wälder, nicht die einstigen Pilze, nicht die einstigen Seen (so scheint es), nicht die einstigen ungestörten Vögel und Eichhörnchen, nicht den einstigen Reichtum an Fischen. Besonders scharf vollzog sich dieser Wandel seit dem Jahre 1914, als das Militär sich im Posad niederließ, die Fische dezimierte und die Vögel verscheuchte. Der Mensch ist ein Feind seiner selbst; wo er auftaucht, beginnt er die eigenen Existenzbedingungen zu zerstören: zu verschmutzen, verseuchen, vernichten. Doch leider war das seit Urzeiten so, und es braucht eine sehr hohe Kulturstufe, um dem Schadenstiftenden des menschlichen Tuns Einhalt zu gebieten. Schau bei uns selbst: keiner will hinter sich die Tür zumachen, obwohl es ihm selbst zu kalt wird. Keiner mag daran denken, daß er, wenn er (ohne Not!) Blumen, Bäume oder Vögel zerstört, sich selbst um all diese Schönheiten bringt. Keiner kümmert sich um die Sauberkeit - überall wirft man Papier, Blech, Glas, Lumpen hin - und dann ist einem der Anblick selbst zuwider. Die gleiche Einstellung herrscht auch gegenüber dem öffentlichen Eigentum und der öffentlichen Ordnung. Sich jetzt nur mühelos verschaffen, was man braucht oder sogar was man nicht braucht, die Folgen aber bedenkt keiner. Handele so, daß Dein Verhalten zur Regel für alle werden könnte. Wenn Du bedenkst, was folgen würde, wenn alle so handeln würden wie Du selbst, so wirst Du verstehen, daß die Gesellschaft allmählich zusammenbrechen und für alle, und also auch für Dich, ein unerträgliches Leben eintreten würde. Deshalb strebe danach, Dich so zu verhalten, daß Dein Verhalten, wenn es von jedem wiederholt würde, das Leben, wenn nicht vollkommen, so doch erträglich machen würde. 
[5. XII. 1936, 6. I. 1937] 
Wie Du siehst, mein Lieber, hat sich der Brief lange verzögert: teils aus Zeitmangel, teils, weil ich Euch Zeichnungen schicken wollte, diese aber lange nicht fertiggebracht habe. Heute abend denke ich besonders an Euch, um so mehr, als es auf Solovki jetzt unsagbar trostlos und tot ist. Das Meer beginnt an den Ufern zu gefrieren, und wahrscheinlich wird in diesen Tagen das letzte Schiff ankommen. Der richtige strenge Winter hat noch nicht begonnen. Die Temperatur schwankt um Null, manchmal ein paar Grade niedriger, manchmal etwas höher; es weht ein unangenehmer kalter Wind, der pfeifend und heulend durch die schlecht gekitteten Fenster einfällt und durch das Zimmer fährt; in den Zimmern ist es kalt; die Sonne ist nicht zu sehen, der ganze Himmel ist grau und unansehnlich. Es ist schwer zu glauben, daß jetzt Dezember ist, ja sogar schon Januar, und das am Polarkreis.
Dieser Winter erinnert mich an die Schwarzmeerküste, nur sind es einige Grade weniger, als ich von klein auf gewohnt bin. Allerdings dauert dort der Winter 1 bis 2 Monate, hier dagegen bis Juni ... Ich habe den Brief wieder unterbrochen: Ging mir den Anfang eines Kurses über Vektor- und Tensoranalysis anhören, der von einem Mathematiker gehalten wird, der hier aufgetaucht ist. Ging, und habe mich geärgert. Der Vortragende sagt wie ein Musterschüler eine auswendig gelernte Lektion auf. Doch wenn man die schnelle Abfolge der Begriffe hört, so kommt einem der Gedanke: Was für eine unnütze Wissenschaft ist doch die Mathematik, irgend etwas völlig Willkürliches, ohne jede Begründung und Zielsetzung. Gegen diese Richtung habe ich mein ganzes Leben lang gekämpft. Die Mathematik ist die wichtigste unter denjenigen Wissenschaften, die den Verstand bilden, indem sie vertieft, präzisiert und verallgemeinert und die ganze Weltsicht zu einem Ganzen verknüpft; sie erzieht und entwickelt, sie eröffnet einen philosophischen Zugang zur Natur. Doch bei uns stellt man sie als eine niemandem nötige, tote Disziplin dar und schreckt die Lernenden ab. Ja, nur die Lernenden? Ich vermute, daß auch die Lehrenden, die leichthin den Buchstaben der Mathematik beherrschen, den Sinn dieses Buchstabens nicht verstehen, ja nicht einmal erahnen. - Ich küsse Dich fest, lieber Mik. Vergiß Papa nicht.

Liebe Tika [Maria-Tinatin],
wenn dieser Brief ankommt, wirst Du wahrscheinlich schon aus Moskau zurück sein. Sicherlich sehnst Du Dich nach dem Haus, nach unserer lieben Mutti, nach dem Kleinen, nach allen und allem. - Sag Mama, daß hinsichtlich des Dauerfrostbodens N. I. [Nikolai Ivanovic Bykov, Leiter der Versuchsstation zur Erforschung des Dauerfrostbodens in Skovorodino] besser Bescheid weiß, soll sie verfahren, wie sie es für besser hält. 
Da ich gewöhnlich entweder Dir oder Mik von unseren faunistischen Ereignissen berichte, so teile ich diesmal mit, daß die hiesigen Ornithologen ganz aufgeregt sind, da sie kürzlich zwei auf Solovki getötete ungewöhnliche Vögel bekommen haben: ein amerikanisches Rebhuhn und noch einen Hühnervogel, der nur in den südrussischen Steppen vorkommt. Auf Solovki hat es solche Vögel nie gegeben. Man vermutet, daß sie von einem Wirbelwind erfaßt und in die oberen Schichten der Atmosphäre emporgehoben wurden, deren Strömungen sie dann nach Solovki getragen haben. Was unsere Füchse betrifft, so sind sie so zahm geworden, daß sie sich sogar streicheln lassen, und sie schnüren überall herum. - Ich sehne mich sehr nach meiner Tika und denke immer, was wir machen würden, wenn wir zusammen wären. Doch statt Papa ist jetzt sein kleiner Enkel da, mit dem Tika sich beschäftigen muß. Wie verlief Euer Neujahrsfest in der Schule und zu Hause? Schreib mir, was Du jetzt liest. Hat Dir Deine Deutschlehrerin gefallen? Paß auf der Straße auf, jetzt ist es auch in Zagorsk wegen der Autos gefährlich geworden, versuche die Hauptstraßen zu meiden. Schreib, ob Ihr mein Päckchen bekommen habt und ob darin etwas Interessantes für Dich war. Ich küsse fest mein liebes Töchterchen. Grüß die Großmutter, küsse den Kleinen, grüß An. F. und S. I. [Anna Federovna Chlebnikova und Sofija Ivanovna Ogneva, Freundinnen der Familie]

Liebe Olja, 
A. I. [Aleksej Ivanovic Archangel'skij, ein Schüler Florenskijs an der Moskauer Geistlichen Akademie] hat mir geschrieben, daß er Dich gesehen hat; wahrscheinlich hat er Dich zu sich gebeten, damit Du die Korrektur irgendeines Manuskripts für den Druck ausführst. Du hast mich nach meiner Meinung zu Deiner Beschäftigung mit Zuschneiden und Nähen, mit Deutsch, Botanik, noch etwas und Zeichnen gefragt. Natürlich, ein möglichst großes und vielseitiges Wissen und Können ist nützlich, ja auch notwendig. Doch sage ich, was ich schon oft gesagt habe: sei nicht gierig, mach zuerst das eine, mach es Dir zu eigen, zum Besitz, und dann geh weiter. Diese Gier kann dazu führen, daß nicht eine einzige Sache zu Ende gebracht wird, doch ist in jeder Angelegenheit das Zuendebringen alles, und etwas fast zu Ende zu bringen zählt genauso wenig, wie fast einen Zug zu erreichen, eben nur fast. Außerdem mußt Du Dich unbedingt ausruhen, sonst wird Dich die Arbeit nicht befriedigen und Du selbst wirst unfähig zu arbeiten. Also, suche dir das Nächstnotwendige heraus und setze das Übrige auf den Plan für später. Deutsch und Französisch sollte man freilich nicht vergessen. Und um nicht zu vergessen, bemühe Dich erstens, in diesen Sprachen zu lesen, selbst wenn es ganz wenig ist, so doch regelmäßig, und zweitens, einige Sätze in diesen Sprachen zu wechseln und vielleicht auch, Dich in ihnen zu unterhalten. Ist Natasa da, so sprich mit ihr, das wird auch ihr nützen. Zieh auch Tika und Mik hinzu - damit hilfst Du nicht nur ihnen, sondern bekommst auch selbst Übung. Wenn Anja [Anna Vasil'evna Giacintova (1922-1987), Nichte Florenskijs] da ist, zieh auch sie hinzu. Überhaupt, führ Worte und Sätze in fremden Sprachen in den Alltagsgebrauch ein, und sei es auch nur ein Spiel, ein Vergnügen, zum Spaß, doch soll es bei allen zur Gewohnheit werden. Lies möglichst oft laut, und seien es nur 10 Zeilen, und lies anderen vor, das ist sehr wichtig.
Wenn Freundinnen zu Dir kommen, so mach das auch mit ihnen. Wichtig ist es, eine Atmosphäre zu schaffen, nur in einer Atmosphäre läßt sich echte Übung gewinnen, nicht aber aus Lektionen und Lehrbüchern, die dem Alltagsleben fremd sind. Denk Dir Spiele mit fremden Wörtern und Sätzen aus, also z.B. für Wörter, die mit einem bestimmten Buchstaben beginnen. Doch das alles gilt nicht für das geregelte Lernen, beim Lernen konzentriere die Aufmerksamkeit auf ein Weniges, damit Du solche Kenntnisse erwirbst, mit denen Du über den Berg kommst und es dann leicht wird sich zu bewegen, weil Du Dich als Herr der Sache fühlst. Ich küsse Dich fest, liebe Olja. Das nächste Mal schreibe ich mehr." [Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft. Bd. VII, München 1993, S. 197-204. Übersetzt von Michael Hagemeister]

Am 13. Februar 1937 schreibt Florenski im Brief Nr. 91 an seine Frau Anna:

"Die Zeitung, die so voll ist von Puschkin, habe ich bekommen. Man könnte Befriedigung empfinden, wenn man die reine Tatsache der Aufmerksamkeit für Puschkin bedenkt. Für unser Land ist es nicht wichtig, was man über ihn sagt, sondern daß man überhaupt von ihm spricht; Puschkin wird schon für sich selber sprechen und alles Nötige sagen. Aber in die Befriedigung mischt sich Bitterkeit, eine unvernünftige Bitterkeit über das Schicksal Puschkins.
Ich kann mich davon nicht befreien. Und doch nenne ich sie unvernünftig, weil sich an Puschkin nur das Weltgesetz vollzieht, nach dem man die Propheten steinigt und ihnen, wenn sie besiegt sind, Grabmäler errichtet. Puschkin ist nicht der erste und nicht der letzte: Das Los der Größe ist Leiden, das Leiden an der äußeren Welt und das Leiden innen an sich selbst. So war es, so ist es und so wird es sein. Warum das so ist, ist völlig klar - es handelt sich um einen Phasenunterschied der Gesellschaft gegenüber der Größe, des Selbst gegenüber der eigenen Größe, um ein ungleiches, unverhältnismäßiges Wachstum, und Größe ist der Abstand zu den charakteristischen Mittelwerten der Gesellschaft und zu der eigenen Beschaffenheit, soweit sie von der Gesellschaft geprägt ist. Aber wir sind mit der Antwort auf die Frage 'warum?' nicht zufrieden und verlangen eine Antwort auf die Frage 'wozu?'. Es ist klar, die Welt ist so eingerichtet, daß man ihr nicht anders etwas geben kann, als indem man mit Leiden und Verfolgungen zahlt. Je uneigennütziger die Gabe, desto härter die Verfolgungen und desto grausamer die Leiden. Das ist das Gesetz des Lebens, sein Axiom. Im Inneren weiß man, daß das unabänderlich und allgemeingültig ist, aber wenn man mit der Wirklichkeit zusammenstößt, wird man in jedem einzelnen Fall immer wieder wie von etwas Unerwartetem und Neuem getroffen. Dabei weiß man, daß man nicht recht hat in seinem Wunsch, dieses Gesetz umzuwerfen und an seine Stelle die stille Hoffnung des Menschen treten zu lassen, seine Gabe der Menschheit darbringen zu können, eine Gabe, die nicht durch Denkmäler und Lobreden nach dem Tode noch durch Ehrungen oder Geld zu Lebzeiten entgolten wird. Im Gegenteil, für die Gabe muß die Größe mit ihrem Blut bezahlen. Die Gesellschaft scheut keine Anstrengung, zu verhindern, daß diese Gaben dargebracht werden. Und keiner der Großen hat je zu geben vermocht, wozu er fähig gewesen wäre - er ist daran mit Erfolg gehindert worden, von allen, von seiner ganzen Umgebung. Gelingt es nicht mit Gewalt und Verfolgung, dann schleichen sich Schmeichelei und Bestechung ein und versuchen, ihn zu verführen und zu verderben. Wem von den bedeutenderen russischen Dichtern ist es gut ergangen? Höchstens Shukowski, aber auch da werden jetzt Intrigen gegen ihn aufgedeckt bis hin zu dem Vorwurf, die russische Revolution angeführt zu haben. Die Philosophen sind in der gleichen Lage (unter Philosophen verstehe ich nicht die, die über Philosophen sprechen, sondern die selber philosophisch denken), das heißt, man verfolgt und behindert sie, man verbietet ihnen den Mund. Etwas heiterer ist das Schicksal der Gelehrten, aber nur solange sie mittelmäßig sind. Lomonossow, Mendelejew, Lobatschewski, ganz zu schweigen von den vielen Neuerern des Denkens, die die Gesellschaft sich nicht entwickeln ließ (Jablotschkow, Kulibin, Petrow u.a.) - keiner von ihnen erfuhr Unterstützung auf seinem Wege, nur Behinderung, alle wurden sie schikaniert und nach Kräften gebremst. Aufgeblüht sind immer nur die Mittelmäßigen, die Usurpatoren und die nach Größe Gierenden, sie sind aufgeblüht, weil sie das Große nach dem Geschmack und dem eigennützigen Kalkül der Gesellschaft ummodelten und fälschten. Kürzlich habe ich Edison beneidet. Wie er mit seiner Zeit und mit seinen Kräften haushielt, weil er über alle materiellen Voraussetzungen verfügte, vor allem über Selbständigkeit. Bei uns verstreicht die Zeit ungenützt, sie geht drauf für Nichtigkeiten und das bei einem enormen Kraftaufwand, weil man nichts so machen kann, wie man es für nötig hält." [Voprosy literatury, Moskau 1988, Nr. 1, S. 156-157]

Was Florenski am 21. März 1937 im Brief Nr. 95 an seinen Sohn Kirill schreibt, kann man als sein Vermächtnis ansehen:

"Ich möchte Dir etwas über meine Arbeiten schreiben oder genauer über ihren Sinn, ihr inneres Wesen, damit Du die Gedankengänge weiterverfolgen kannst, die auszuformen und zu Ende zu führen mir nicht vergönnt war, es gibt hier auch kein Ende, wenn ich sie aber wenigstens anderen hätte verständlich machen können. Was habe ich mein ganzes Leben gemacht? - Ich habe die Welt als ein Ganzes betrachtet, als einheitliches Bild und als Wirklichkeit, aber in jedem Augenblick oder genauer gesagt in jedem Abschnitt meines Lebens unter einem bestimmten Gesichtswinkel. Ich habe die Weltverhältnisse an einem Weltquerschnitt, in einer bestimmten Richtung, auf einer bestimmten Ebene untersucht und mich bemüht, die Struktur der Welt auf Grund dieses in dem jeweiligen Lebensabschnitt mich interessierenden Merkmals zu begreifen. Die Schnittflächen wechselten, aber keine ersetzte die andere, sondern fügte ihr etwas hinzu. Daher das unablässig Dialektische des Denkens (Wechsel der Betrachtungsebenen) bei beständiger Ausrichtung auf die Welt als Ganzes. 
Mein Suchen war zu abstrakt und zu allgemein. Konkret geht es darum, daß die Bedeutung des einen oder anderen chemischen Elements einer Verbindung, eines Typs von Verbindung, eines Typs von System, einer geometrischen Form, einer Textur, eines biologischen Typs, einer Formation usw. in allen Sphären der Natur erforscht wird, um das individuelle Antlitz dieses Moments der Natur als eines qualitativ besonderen und unersetzlichen zu erforschen. Entgegen dem groben Mechanizismus und dem feinen Mechanizismus, die die Qualität leugnen, wird die eigenartige qualitativ besondere Natur der einzelnen Momente, die in ihrer Bedeutung universal und in ihrem Wesen individuell sind, ans Licht gebracht. 'Was ist das Allgemeine? - Der einzelne Fall' (Goethe). Ich arbeite immer an Einzelfällen, beobachte aber an ihnen das Aufscheinen, das konkrete Hervortreten des Allgemeinen, das heißt betrachte das platonisch-aristotelische eîdos (Goethes Urphänomen). Mein Vater sprach zu mir von meiner Unfähigkeit zum abstrakten Denken und von meiner Abneigung gegen das einzelne Denken als solches: 'Deine Stärke liegt dort, wo sich das Konkrete mit dem Allgemeinen verbindet.' Das ist wahr. Und ich denke, daß Kirill seiner Geistesart nach diese Richtung des Denkens geerbt hat und in ihr weiter gehen kann. Ich weiß, man wirft mir Verzettelung vor. Das stimmt, aber nur scheinbar, denn von meiner frühen Kindheit an bis auf den heutigen Tag denke ich hartnäckig über ein und dasselbe nach, aber dieses Eine bedarf des Angangs von vielen Seiten. Vielleicht geht das über meine Kräfte, aber es ist keine Verzettelung, sondern ein ungeheuer arbeitsaufwendiges Unternehmen... Ehe ich nicht selber mit meinen eigenen Händen etwas gewogen, zerstoßen, Analysen und Berechnungen gemacht habe, verstehe ich eine Erscheinung nicht, ich kann zwar über sie sprechen und nachdenken, aber sie ist noch nicht mein eigen geworden. Auf diese konkrete 'Dreck'arbeit geht Zeit und Kraft drauf. Nicht daß ich es mir nicht erlauben könnte, an die Erscheinungen 'allgemein' und abstrakt heranzugehen, ich will es nicht. Niemand würde es vermutlich merken, wenn ich nicht so verführe, aber mich selber überkommt bei abstrakten Gedankengängen das Gefühl von Unlauterkeit und Scharlatanerie, als das empfinde ich auch die Mehrzahl der Verallgemeinerungen der anderen. Aber im Einzelnen und Konkreten muß das Allgemeine, Universale aufscheinen... Ich habe Dir das alles in der Hoffnung geschrieben, es könnte Dir vielleicht von Nutzen sein." [Hagemeister, P. A. Florenskij: Mnimosti, S. 25-26]

Im Brief Nr. 96 nimmt Florenski diesen Gedanken auf und schreibt am 23. März 1937 an seine Frau Anna:

"Was ich kann, würde ich gern den Kindern beibringen, meine eigene Tätigkeit ist mir nicht so wichtig und ich würde es vorziehen, mit meinen Gedanken ganz allein zu sein. Ich bin sogar nicht einmal sicher, ob die Zukunft sie annehmen wird, das heißt die Zukunft, wenn sie bis dahin vorgedrungen sein wird, hat dann ihre eigene Sprache und ihre eigene Verfahrensweise. Letzten Endes besinge ich die Freude des Denkens, wenn die Zukunft von einem anderen Ende her dazu gekommen sein wird, wird man sagen: 'Es stellt sich heraus, 1937 hat ein gewisser N. die gleichen Gedanken in einer altmodischen Sprache geäußert.'" [Moskovskij literator, Moskau, Nr. 5 vom 27.1.1989, S. 3]

Im Brief Nr. 99 schreibt er am 11. Mai 1937 an seine Frau Anna:

"Unsere Wasserpflanzenepopöe geht in diesen Tagen zu Ende, womit ich mich weiter beschäftigen werde, weiß ich nicht, vielleicht mit dem Wald, d.h. ich möchte die mathematische Analyse auf diesen Bereich anwenden. Das Ende der Beschäftigung mit den Algen war zu erwarten: In meinem Leben ist es immer so gewesen - wenn ich einen Gegenstand erst einmal beherrsche, muß ich ihn aus nicht von mir abhängigen Gründen aufgeben und etwas Neues beginnen, wieder von Grund auf, um Wege zu bahnen, die nicht ich gehen werde. Hierin liegt offenbar ein tiefer Sinn, wenn sich das im Laufe des Lebens immer wiederholt - eine Unterweisung in Uneigennützigkeit, aber es ist doch ermüdend. Wenn ich noch hundert Jahre zu leben hätte, so wäre ein solches Schicksal all der Unternehmungen nur nützlich, aber bei der Kürze des Lebens ist es nur reinigend, nicht nützlich. Übrigens heißt es im Koran: 'Dem Menschen widerfährt nichts, was nicht in den Himmeln geschrieben stünde.' Von mir steht offenbar geschrieben, daß ich Pionier zu sein habe, nicht mehr. Darein muß man sich fügen. Ich schreibe das nicht so sehr meinetwegen, als vielmehr wegen der Kinder: Die Lehren des Geschlechts muß man kennen und sich bewußt machen, damit man sein Leben nutzen und sich an das aller Wahrscheinlichkeit nach zu Erwartende anpassen kann. Mein Denken und Sorgen gilt ganz Euch, ich möchte gern die Erfahrung meines Lebens und Nachdenkens an Euch weitergeben." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 349]

Im Frühjahr 1937 wurde das Lager in ein Gefängnis mit verschärften Haftbedingungen umgewandelt. Über Florenskis Schicksal in dieser Zeit ist kaum etwas bekannt. Es gibt nur das Zeugnis eines Mitgefangenen, Alexander Faworski, der ihn im Oktober/November 1937 noch auf den Solowki-Inseln gesehen hat. In einem Brief an einen der Enkel Florenskis heißt es: "Ihr Großvater Florenski wurde auf den Solowki-Inseln sehr verehrt - ein genialer, demütiger, mutiger Philosoph, Mathematiker und Theologe. Mein Eindruck von Florenski und die Meinung aller Gefangenen, die sein Schicksal teilten, war eine hohe Geistigkeit, Wohlwollen gegenüber den Menschen, Reichtum der Seele. All das, was den Menschen adelt." [Florenski, Leben und Denken. Bd. II, S. 192]

1937

Am 25. November Verurteilung Pawel Florenskis zum Tode. 
Bis Ende 1989 galt als offizielles Todesdatum der 15. Dezember 1943. Noch 1939 war ein Ersuchen seiner Frau Anna um Straferlaß mit der Begründung abgewiesen worden, daß Florenski sein geistliches Amt bis zu seiner Verhaftung nicht niedergelegt hätte. 1940 schrieb Anna Florenskaja einen Brief an Stalin mit der Bitte um die Freilassung Florenskis - ob der Brief wirklich abgeschickt wurde, ist nicht sicher. Erst auf Anfrage der Familie vom Juni 1989 stellte das Standesamt des Moskauer Kalininbezirks am 24. November 1989 eine neue Sterbeurkunde aus: "Der Bürger Florenski, Pawel Alexandrowitsch verstarb am 8. Dezember 1937 im Alter von 55 Jahren. Todesursache: Erschießung. Sterbeort: Leningrader Gebiet." 
Rehabilitierung Florenskis. Am 5. Mai 1958 wird das Urteil vom 26. Juli 1933 durch das Moskauer Stadtgericht aufgehoben. Am 5. März 1959 erfolgt die Aufhebung des Urteils vom 25. November 1937 durch das Gebietsgericht Archangelsk. Seit 1958 steht Florenskis Name auf einem Denkmal im Garten der Geistlichen Akademie in Sergijew Posad.

Zu Florenskis letzten Nachrichten gehört dieser Brief vom Juni 1937:

"Die letzten Tage war ich zur Nachtwache eingeteilt, um die in unserer ehemaligen Jodfabrik hergestellten Erzeugnisse zu bewachen. Man könnte hier arbeiten (jetzt schreibe ich zum Beispiel Briefe), aber die verzweifelte Kälte in der toten Fabrik, die kahlen Wände und das Tosen des Windes, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben fährt, ermuntern nicht eben zum Arbeiten, und Du siehst an meiner Schrift, daß ich mit den steifen Fingern nicht einmal einen Brief zustande bringe. [...] 
Es ist schon sechs Uhr morgens. Über dem Bach fällt Schnee und ein wütender Sturm wirbelt den Schnee hoch. In den leeren Räumen hallt das Schlagen der zerbrochenen Lüftungsfenster, heulend bricht der Wind herein. Die schrillen Schreie der Möwen sind zu hören, und mit meinem ganzen Wesen empfinde ich die Nichtigkeit des Menschen, seiner Werke, seiner Anstrengungen." [Literaturnaja gazeta, Moskau, Nr. 48 vom 30.11.1988, S. 5]

 

Zusammengestellt von Sieglinde und Fritz Mierau

 

 

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