pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

vorwort

An den Leser

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Kirchlichkeit - das ist die Bezeichnung für jene Zufluchtsstätte, wo die Unruhe des Herzens sich legt, die Anmaßung des Verstandes gebändigt wird und ein großer Friede sich auf die Vernunft niedersenkt. Zwar vermag niemand zu definieren, was Kirchlichkeit ist, und natürlich wird auch in Zukunft niemand dazu imstande sein. Alle, die das versuchen, widerlegen einander und verneinen gegenseitig die Formel der Kirchlichkeit. Gerade diese Undefinierbarkeit der Kirchlichkeit, ihre Unerfaßbarkeit durch logische Begriffe, ihre Unaussagbarkeit beweist, daß die Kirchlichkeit Leben ist, ein besonderes, neues, den Menschen gegebenes Leben, jedoch, wie alles Leben, dem Verstande unzugänglich. Die Meinungsverschiedenheiten bei der Definition der Kirchlichkeit, die Möglichkeit vieler Begriffsbestimmungen, in denen von verschiedenen Seiten versucht wird, in Worten festzustellen, was Kirchlichkeit ist, diese Buntheit unvollständiger und immer ungenügender Wortformeln für die Kirchlichkeit bestätigen ihrerseits empirisch, was der Apostel schon gesagt hat; ist doch die Kirche der Leib Christi, "die Fülle (
to plhxwma) des alles in allem Erfüllenden" (Eph. 1, 23). Wie kann also diese Fülle des göttlichen Lebens in den engen Sarg einer logischen Begriffsbestimmung eingebettet werden? Es wäre lächerlich zu meinen, daß diese Unmöglichkeit etwas wider das Bestehen der Kirchlichkeit beweisen könnte. Im Gegenteil wird letzteres dadurch weit eher begründet. Insofern die Kirchlichkeit früher ist als ihre einzelnen Manifestationen, insofern sie jenes göttlich-menschliche Element ist, aus dem sich in dem geschichtlichen Gang der kirchlichen Menschheit die Rangfolgen der Sakramente, die Formulierungen der Dogmen, die kanonischen Regeln und zum Teil sogar die fließende und zeitliche Ordnung des kirchlichen Lebens sozusagen verdichten und herauskristallisieren - insofern bezieht sich vornehmlich auf diese Fülle die Prophezeiung des Apostels: "Es muß auch Meinungsverschiedenheiten unter euch geben" (1. Kor., 11, 19) - Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung der Kirchlichkeit. Nichtsdestoweniger nimmt ein jeder, welcher nicht aus der Kirche flieht, schon durch sein Leben das einheitliche Element der Kirchlichkeit in sich auf und weiß, daß es eine Kirchlichkeit gibt und was sie ist.
Dort, wo das geistige Leben fehlt, ist etwas Äußeres zur Sicherung der Kirchlichkeit notwendig. Ein besonderes Amt, der Papst, oder eine Gesamtheit, ein System von Ämtern, die Hierarchie - das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für den Katholiken. Eine bestimmte konfessionelle Formel, das Symbol oder ein System von Formeln, der Text der Schrift - das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für den Protestanten. Letzten Endes ist hier wie dort entscheidend der Begriff - der kirchlich-juristische bei den Katholiken, der kirchlich-wissenschaftliche bei den Protestanten -. Aber dadurch, daß er zum obersten Kriterium wird, macht der Begriff jede Äußerung des Lebens überflüssig. Und mehr noch als das: weil kein Leben mit dem Begriff kommensurabel sein kann, so vollzieht sich alle Bewegung des Lebens unvermeidlich jenseits der vom Begriff bezeichneten Grenzen und erscheint dadurch schädlich; unduldbar. Für den Katholizismus (natürlich meine ich sowohl den Katholizismus wie den Protestantismus in ihrem Grundprinzip) ist jede selbständige Äußerung des Lebens unkanonisch, für den Protestantismus ist sie unwissenschaftlich. Hier wie dort wird das Leben durch den Begriff beschnitten, von vornherein im Namen des Begriffes abgelehnt. Wenn man dem Katholizismus gewöhnlich die Freiheit abstreitet und sie dem Protestantismus entschieden zuschreibt, so ist beides gleich ungerecht. Auch der Katholizismus anerkennt die Freiheit, aber ... eine vorher festgelegte; jedoch alles was außerhalb dieser Grenze liegt, ist ungesetzlich. Und auch der Protestantismus anerkennt den Zwang, aber ... ebenfalls nur außerhalb der vorher bezeichneten Grenzen des Rationalismus; alles, was außerhalb ihrer liegt, ist unwissenschaftlich. Wenn man in dem Katholizismus den Fanatismus einer kanonischen Denkart erblicken kann, so in dem Protestantismus den nicht geringeren Fanatismus der Wissenschaftlichkeit.
Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirchlichkeit - ich wiederhole es - ist der beste Beweis ihrer Lebendigkeit. Natürlich sind wir nicht imstande, ein kirchliches Amt anzugeben, von welchem wir sagen könnten, daß es in sich die Kirchlichkeit vereinige; wozu dienten dann auch alle übrigen Ämter und Betätigungen der Kirche! Auch können wir keine Formel und kein Buch angeben, das das kirchliche Leben in seiner ganzen Fülle erfaßt; wenn es aber ein solches Buch oder eine solche Formel gäbe, wozu wären dann alle andern Bücher, Formeln und Betätigungen der Kirche! Es gibt keinen Begriff der Kirchlichkeit, aber es gibt die Kirchlichkeit selbst, und für jedes lebendige Glied der Kirche ist das kirchliche Leben das bestimmteste und greifbarste, was er kennt. Aber das kirchliche Leben läßt sich nur lebensmäßig aneignen und erfassen - nicht durch Abstraktion und verstandesmäßig. Wenn es sich als notwendig erwiese, es in irgendwelchen Begriffen auszudrücken, so wären nicht juristische und archäologische, sondern biologische und ästhetische Begriffe am passendsten. Was ist Kirchlichkeit? Sie ist ein neues Leben, ein Leben im Geiste. Welches ist das Kriterium der Echtheit dieses Lebens? Die Schönheit. Ja, es gibt eine besondere geistige Schönheit, und, obwohl für logische Formeln unerfaßbar, ist sie zugleich der einzige sichere Weg zur Bestimmung dessen, was orthodox ist und was nicht. Die Kenner dieser Schönheit sind die geistigen Ältesten [die geistig führenden Christen], die Meister der "Kunst um der Kunst willen", wie die heiligen Väter die Asketik bezeichnen. Die geistigen Ältesten haben eine große Fähigkeit erlangt in der Erkenntnis der wahren Beschaffenheit des geistigen Lebens. Die orthodoxe Sinnes- und Wesensart kann wohl empfunden, aber nicht zergliedert werden; die Orthodoxie wird aufgezeigt, aber nicht bewiesen. Daher gibt es für jeden, der die Orthodoxie erfassen will, nur einen Weg - die direkte orthodoxe Erfahrung. Es wird erzählt, daß man gegenwärtig im Ausland das Schwimmen an Geräten erlernt - auf dem Boden liegend. Gerade so kann man katholisch oder protestantisch werden nach Büchern, ohne auch nur im geringsten mit dem Leben in Berührung zu kommen - im eigenen Arbeitszimmer. Um aber orthodox zu werden, muß man in das Element der Orthodoxie selbst untertauchen, anfangen orthodox zu leben - einen anderen Weg gibt es nicht.

 

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff]

 

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