pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

zweiter brief:

der zweifel

[...]
Die Wahrheit ist "intuitiv-diskursiv".
Die Wahrheit ist eine beweisbare, d.h. diskursive Intuition. Um diskursiv zu sein, darf die Intuition nicht blind, dumpf begrenzt sein, sondern muß sich in die Unendlichkeit erstrecken - sozusagen eine sprechende, vernünftige Intuition sein. Um intuitiv zu sein, darf die Diskursion nicht ins Unendliche gehen, darf nicht nur möglich, sondern muß wirklich, aktuell sein.
Die diskursive Intuition muß die synthetisierte, unendliche Reihe ihrer Begründungen enthalten; die intuitive Diskursion muß ihre ganze unendliche Reihe von Begründungen zu einer endlichen Größe, zur Einheit synthetisieren. Die diskursive Intuition ist eine bis zur Unendlichkeit differenzierte Intuition; die intuitive Diskursion ist eine bis zur Einheit integrierte Diskursion.
Wenn also die Wahrheit ist, so ist sie reale Vernünftigkeit und vernünftige Realität; sie ist endliche Unendlichkeit und unendliche Endlichkeit, oder - um mich mathematisch auszudrücken - aktuelle Unendlichkeit, ein als totale Einheit, als einheitliches, in sich geschlossenes Subjekt gedachtes Unendliches. Aber als in sich vollendet enthält die Wahrheit die ganze Fülle der unendlichen Reihe ihrer Begründungen, die Tiefe ihrer Perspektive. Sie ist eine Sonne, welche sich selbst und das ganze Weltall mit ihren Strahlen erleuchtet. Ihr Abgrund ist ein Abgrund der Macht, nicht der Nichtigkeit. Die Wahrheit ist eine unbewegliche Bewegung und eine bewegliche Unbewegtheit. Sie ist Einheit des Entgegengesetzten. Sie ist - coincidentia oppositorum.
Wenn dem so ist, so kann die Skepsis in der Tat die Wahrheit nicht vernichten, und die Wahrheit ist wahrhaft "allmächtig"; sie gibt der Skepsis stets eine Rechtfertigung ihrer selbst, sie ist stets in der Lage, Rede und Antwort zu stehen. Auf jedes Warum wird eine Antwort erteilt, wobei alle diese Antworten nicht fragmentarisch gegeben werden, nicht in rein äußerlicher Verkettung miteinander, sondern zu einer vollkommenen, innerlich verschmolzenen Einheit verbunden. Die Wahrheit wird in dem Moment ihres Erfassens mit allen ihren Begründungen erkannt (auch wenn letztere von niemand - nirgends und niemals - für sich getrennt gedacht werden). Der Augenblick gibt die ganze Fülle des Wissens. [...]
Die Selbst-Beweisbarkeit und Selbst-Begründbarkeit des Subjekts der Wahrheit "Ich" ist die Beziehung zu "Er" durch "Du". Durch das "Du" wird das subjektive "Ich" zum objektiven "Er" und hat in letzterem seine Bestätigung, seine Gegenständlichkeit als "Ich". Das "Er" ist das offenbarte "Ich". Die Wahrheit schaut sich durch sich in sich. Aber jedes Moment dieses absoluten Aktes ist selbst absolut, selbst Wahrheit. Die Wahrheit ist die Anschauung ihrer selbst durch ein anderes in einem dritten: der Vater, der Sohn, der Geist. Das ist die metaphysische Definition des "Wesens" - ousia - des selbst beweisbaren Subjekts, das, wie ersichtlich, eine substantielle Beziehung ist. Das Subjekt der Wahrheit ist eine Beziehung der drei, aber eine Beziehung, die als Substanz erscheint, eine substantielle Beziehung. Das Subjekt der Wahrheit ist Beziehung der drei. Und da eine konkrete Beziehung überhaupt ein System von Akten der Lebenstätigkeit ist, im gegebenen Fall aber ein unendliches System von Akten, die zu einer Einheit synthetisiert sind, oder auch ein unendlicher einheitlicher Akt, so können wir behaupten, daß die ousia der Wahrheit ein unendlicher Akt der Drei in der Einheit ist. Wir werden später diesen unendlichen Akt des Lebens konkreter erklären.
Aber was ist ein jeder dieser "drei" in seiner Beziehung zum unendlichen Substanzakt?
Realiter ist er nicht das, was das ganze Subjekt ist, und wiederum realiter ist er doch eben dasselbe wie auch das ganze Subjekt. Mit Rücksicht auf die Notwendigkeit weiterer Erörterungen wollen wir ihn - als "nicht das" - "Hypostase" nennen, während wir schon früher den Terminus "Wesen" - ousia - zu dessen Bezeichnung als "dasselbe" festgestellt haben.
Die Wahrheit ist also eine Wesenheit in drei Hypostasen. Nicht drei Wesenheiten, sondern eine; nicht eine Hypostase, sondern drei. Indessen, bei alledem ist Hypostase und Wesenheit ein und dasselbe. Indem ich mich etwas ungenau ausdrücke, möchte ich sagen: "Die Hypostase ist die absolute Persönlichkeit." Doch fragt es sich: "Worin besteht die Persönlichkeit, wenn nicht in der Wesenheit?" Und weiter: "Kann die Wesenheit anders gegeben werden als in der Persönlichkeit?" Gewiß, und dennoch wird durch alles Vorhergehende festgestellt, daß nicht eine Hypostase, sondern drei sind, obwohl die Wesenheit konkret eine ist. Und daher besteht numerisch, der Zahl nach, ein Subjekt der Wahrheit und nicht drei.
[...]
Man wird mich fragen: "Warum gibt es eben gerade drei Hypostasen?" Ich spreche von der Zahl "drei" als einer der Wahrheit immanenten, von ihr innerlich unabtrennbaren. Es kann nicht weniger als drei geben, denn nur drei Hypostasen machen einander von Ewigkeit zu dem, was sie von Ewigkeit sind. Nur in der Einheit der drei erhält jede Hypostase eine absolute Bestätigung, welche sie als solche festsetzt. Außerhalb der drei gibt es keine, gibt es kein Subjekt der Wahrheit. Und mehr als drei? Ja, es kann auch mehr als drei geben durch die Aufnahme neuer Hypostasen in den Schoß des Dreifaltigen Lebens. Indessen sind diese neuen Hypostasen schon nicht mehr Glieder, durch die das Subjekt der Wahrheit erhalten wird, und erscheinen daher nicht als innerlich notwendig für seine Absolutheit; es sind bedingte Hypostasen, welche im Subjekt der Wahrheit sein oder auch nicht sein können. Daher kann man sie nicht als Hypostasen im eigentlichen Sinne bezeichnen, sondern tut besser, ihnen den Namen vergotteter Persönlichkeiten beizulegen. Es ist aber außerdem noch eine Seite vorhanden, welche von uns bisher nicht berücksichtigt wurde; wir werden sie später mit Sorgfalt erwägen und möchten einstweilen nur folgendes bemerken: In der absoluten Einheit der drei gibt es keine "Ordnung", keine Aufeinanderfolge. In den drei Hypostasen ist eine jede unmittelbar neben jeder anderen, und die Beziehung zweier kann nur durch die dritte vermittelt sein. Eine Priorität ist unter ihnen absolut undenkbar, aber jede vierte Hypostase trägt in die Beziehung der drei ersten zu sich diese oder jene Ordnung hinein und setzt demnach die Hypostasen in eine ungleiche Tätigkeit zu sich selber als der vierten Hypostase. Hieraus ist ersichtlich, daß mit der vierten Hypostase eine vollkommen neue Wesenheit beginnt, während die ersten drei eines Wesens waren.
Anders gesagt, kann die Dreifaltigkeit ohne die vierte Hypostase sein, während die vierte keine Selbständigkeit haben kann. Das ist der allgemeine Sinn der dreieinigen Zahl.

 

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff]

 

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