[...]
Nach der prägnanten Bestimmung des Apostels Johannes ist
die Sünde die Gesetzlosigkeit (h amaotia estin h anomia) (1. Joh. 3, 4).
[...]
H anomia bedeutet nicht: eine von den gesetzlosen
Handlungen, nicht die Gesetzlosigkeit überhaupt, sondern
die Gesetzlosigkeit, cat' exochn, die Gesetzlosigkeit, welche in erster
Linie diese Benennung verdient - das, was in sich das Prinzip
selbst der Gesetzlosigkeit trägt - die Gesetzlosigkeit in
der reinsten Gestalt und im vollständigsten Sinn - eine
Handlung, welche im höchsten Maße alles das in sich
vereinigt, weswegen die einzelnen gesetzlosen Handlungen als
gesetzlos bezeichnet werden - die Gesetzlosigkeit selbst,
oder - kurz gesagt - DIE GESETZLOSIGKEIT.
Der Apostel will nicht von einem der Merkmale der Sünde
reden, nicht an ihrer Peripherie bleiben, sondern versenkt sich
in ihr tiefstes Inneres, in ihr metaphysisches Wesen. Daher ist
die von ihm der Sünde gegebene Bestimmung eine Bestimmung
in der ontologischen Tiefe, nicht aber metaphorisch oder
akzidentiell. Es wäre durchaus irrtümlich, sie im
Rahmen des Gesetzes zu verstehen. Die Sünde ist
Gesetzlosigkeit, ist Verdrehung des Gesetzes, d.h. jener ORDNUNG,
welche der Kreatur von dem HERRN gegeben ist, jenes inneren Aufbaus
der ganzen Schöpfung, wodurch sie lebendig ist, jener inneren
ORGANISATION der Kreatur, die ihr von Gott verliehen ist, jener
WEISHEIT, in welcher der Sinn der Welt ist. Außerhalb
des Gesetzes ist die Sünde nichts, hat nur scheinbaren Bestand,
denn - ich erlaube mir hier die Worte des Apostels, obwohl vielleicht
in einer etwas freien Deutung zu gebrauchen - "durch das
Gesetz wird die Sünde erkannt".
Wenn es kein Geborenwerden gibt, so gibt es auch kein Töten,
wenn kein Sein ist, so ist auch kein Nichtsein; wenn kein Leben
ist, so ist auch kein Tod. Wenn kein Licht ist, so ist auch keine
Finsternis, denn durch das Licht wird die Finsternis offenbar.
Die Sünde ist ein Parasit der Heiligkeit und existiert deshalb,
weil die Heiligkeit von ihr noch nicht endgültig abgetrennt
wurde - weil der Weizen und die Spreu einstweilen noch zusammen
wachsen.
Indem die Sünde, wie jede parasitische Existenz, ihren Wirt
zerstört, unterwühlt sie zugleich sich selbst. Sie
richtet sich auf sich selbst, zehrt an sich selbst, denn alles,
was keine Erniedrigung will, verfällt der Vernichtung.
Gott, der niemandem Böses wünscht, hat niemals jemanden
vernichtet; stets haben die Bösen sich selber zugrunde gerichtet:
Gott hat "zerstreuet, die hoffärtig sind" durch
gar nichts anderes als durch "ihres Herzens Sinn"
(Luk. 1, 51), oder, genauer gesagt, durch die Überlegung
(dianoia), denn der Verstand
(dianoia) ist im Gegensatz
zu der Vernunft eine Manifestation der Selbstheit.
[...]
Indem sie nur sich selbst in ihrem "hier"
und "jetzt" will, verschließt sich die
böse Selbstbejahung ungastfreundlich vor allem, was nicht
sie selbst ist; aber, indem sie nach Selbst-Vergottung strebt,
bleibt sie nicht einmal sich selbst gleich, zerfällt, zersetzt
und zersplittert sich im inneren Kampf. Dieser Gedanke von der
zersplitternden Wirkung des Bösen ist von Platon unter der
durchsichtigen Hülle des Mythos vom "Androgyn"
zum Ausdruck gebracht worden.
[...]
Die Selbst-Behauptung der Persönlichkeit, ihre Stellung
gegen Gott - ist der Quell der Zerstückelung, des Zerfalls
der Persönlichkeit, der Verarmung ihres inneren Lebens,
und nur die Liebe führt sie bis zu einem gewissen Grade
zur Einheit zurück. Aber wenn die schon teilweise zerfallene
Persönlichkeit sich wiederum nicht zufrieden gibt und selber
Gott werden will - "wie die Götter" -, dann trifft
sie unvermeidlich immer wieder eine neue Zerstückelung,
immer wieder ein neuer Zerfall. Das ist der ontologische Sinn
des Mythos. Und sehen wir denn nicht, wie unter unseren Augen
- bald unter dem lauten Vorwand der "Differenziation"
und "Spezialisation", bald auf Grund der nackten Begierde
nach Unordnung und Anarchie -, sehen wir denn nicht, wie die
Gesellschaft und die Persönlichkeit bis in ihre verborgensten
Tiefen hinein zerstückelt und zerstäubt werden, indem
sie ohne Gott leben, sich unabhängig von Gott einrichten,
sich wider Gott selbstbestimmen wollen. Der Wahnsinn selbst -
diese Desintegration der Persönlichkeit -ist er denn nicht
in seinem Wesen die Folge einer tiefen geistigen Entartung unseres
ganzen Lebens? Haben denn die wachsende Neurasthenie und andere
"Nerven"-Krankheiten zu ihrer wahren Ursache nicht
das Streben der Menschheit und der Menschen, nach ihrer eigenen
Art zu leben, und nicht in Gott, zu leben ohne göttliches
Gesetz, in der Anomie! Die Leugnung Gottes führte
und führt stets zum Wahnsinn, denn eben Gott ist
die WURZEL der Vernunft. Wer ist es, der "in seinem Herzen
sprach", d.h. nicht nur in Worten, sondern in seiner Seele
selbst mit seinem ganzen Wesen: "Es ist kein Gott"?
- "Der Tor" (Ps. 14, 2; 53, 2), denn die wesenhafte
Leugnung Gottes und der Wahnsinn - sind ein und dasselbe, sind
verbunden und unzertrennlich -, eine Erscheinung, welche künstlerisch
und in ihrer Entwicklung von Tolstoj und Dostojewski dargestellt
ist.
Ohne Liebe - für die Liebe bedarf es aber vor allem der
Göttlichen Liebe - zerfällt die Persönlichkeit
in psychologische Elemente und Momente. Die Göttliche Liebe
ist das Band der Persönlichkeit.
[...]
Die Sünde ist das Moment der Disharmonie und des Zerfalles
des geistigen Lebens. Die Seele verliert ihre substantielle
Einheit, verliert das Bewußtsein ihrer schöpferischen
Natur, verliert sich in dem chaotischen Wirbel ihrer eigenen
Zustände, hört auf, deren Substanz zu sein. Das Ich
erstickt in der "gedanklichen Sintflut" der Leidenschaften.
Nicht umsonst ist das rätselhafte und verführerische
Lächeln aller Personen auf den Gemälden des Leonardo
da Vinci, welches den Skeptizismus, den Abfall von Gott und den
Starrsinn des menschlichen "ich weiß" zum Ausdruck
bringt, in Wahrheit ein Lächeln der Verlorenheit: sich selber
haben sie verloren, und das ist besonders anschaulich bei der
"Gioconda". Eigentlich ist es ein Lächeln der
Sünde, der Versuchung und der Verführung - ein buhlerisches
und verderbtes Lächeln, welches nichts Positives
ausdrückt (eben darin liegt seine Rätselhaftigkeit!),
es sei denn eine innere Bestürzung, einen inneren Aufruhr
des Geistes, aber - auch eine Verstocktheit. Ja, in der Sünde
entgleitet die Seele sich selber, verliert sich selbst:
nicht umsonst charakterisiert die Sprache die letzte Stufe des
Falles einer Frau als "Verlorensein". Es ist
aber unzweifelhaft, daß es nicht nur "verlorene
Frauen" d.h. solche, die in sich sich selbst, ihr gottähnliches
Schaffen des Lebens verloren haben, sondern auch "verlorene
Männer" gibt; überhaupt ist die sündhafte
Seele - die "verlorene Seele", und zwar nicht nur für
andere verloren, sondern auch für sich selbst, weil sie
sich nicht bewahrt hat. Und wenn die zeitgenössische Psychologie
immerfort wiederholt, daß sie keine Seele kenne als Substanz,
so läßt das nur den sittlichen Zustand der Psychologen
selbst in einem sehr üblen Lichte erscheinen, welche in
ihrer Mehrzahl offenbar "verlorene Männer" sind.
Dann ist es allerdings so, daß nicht "ich tue",
sondern "mit mir wird getan", nicht "ich
lebe", sondern "mit mir geschieht".
In dem Maße des Erlöschens der schöpferischen
Kraft, der Selbsttätigkeit und der Freiheit im Bewußtsein,
wird die ganze Persönlichkeit durch mechanische Prozesse
im Organismus verdrängt und, indem sie die Folgen der eigenen
Schwäche nach außen projiziert, belebt sie die umgebende
Welt. [...] Der ganze Organismus - wie der leibliche, so auch
der seelische - verwandelt sich aus einem einheitlichen und wohlgeordneten
Werkzeug, aus einem Organ der Persönlichkeit in eine
zufällige Kolonie, in einen zusammengeratenen Haufen einander
nicht entsprechender und selbsttätiger Mechanismen. Kurz,
alles erscheint frei in mir und außer mir - alles
außer mir selber.
Der neurasthenische Halb-Verlust der Realität des schöpferischen
Ichs ist ebenfalls eine Art des Mangels an geistiger Nüchternheit,
und es ist schwer, sich von der Überzeugung loszumachen,
daß sein Grund in der "Ungeordnetheit" der Persönlichkeit
liegt. Indem der Mensch sein Verhältnis zu Gott verdirbt,
verdirbt er eben dadurch sein sittliches, dann aber sogar auch
sein leibliches Leben. So kannten die Heiden Gott durch die Betrachtung
seiner Werke. Aber "dieweil sie wußten, daß
ein Gott ist und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch
ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und
ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich
für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und
haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes
in ein Bild gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel
und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere. Darum
hat sie auch Gott dahingegeben in ihrer Herzen Gelüste,
in Unreinigkeit zu schänden ihre eigenen Leiber und
sich selbst, sie, die Gottes Wahrheit haben verwandelt in die
Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr
denn dem Schöpfer." (Röm. 1, 21-25) Die
Folge davon war - wie der Apostel weiter sagt - eine Verkehrung
der natürlichen Ordnung des leiblichen Lebens und die Verderbnis
des gemeinschaftlichen. Die giftigen Prinzipien der Unordnung,
der Anarchie und der Zügellosigkeit durchtränkten die
Gesellschaft in allen ihren Lebenstätigkeiten (Röm.
1, 26-32).
In dem Maße des Erdig-werdens der Seele geht ihre Freiheit
verloren; langsam, aber unabänderlich zerfrißt der
Krebs der sündhaften Wunde das Herz. Die Sünden umdrängen
das Herz, umgeben es in dichter Reihe, lassen mich nicht zu ihm
vordringen, verlegen dem erfrischenden Lüftchen der Gnade
den Zugang. Die Seele quält sich und ruft: "Von allem
Umdrängen erlöse mich!", aber das Herz
hat sich wie mit einer festen Rinde umhüllt.
Ja, es ist lebendig, aber - hinter seinen Mauern, und man kann
es nicht erreichen. Ich selbst weiß nur theoretisch, daß
es existiert, aber ich vermag nicht, an es heranzutreten. Und
der heilige Kirchen-Gottesdienst gleitet über diesen Stahlpanzer
hin, ihn nur wenig ritzend; er eilt vorbei an der Aufmerksamkeit,
die unfähig ist, sich auf sich selbst zu konzentrieren.
Bisweilen tritt eine Art von Geistesabwesenheit ein - an den
bedeutsamsten Stellen verhehlt der Feind die kostbarsten Worte.
Man fragt sich: "Ist denn dieses - d.h. das Evangelium
usw. - schon vorbei?" und man antwortet nur mit dem Verstande
auf Grund einer Erwägung nach dem Fortgang des Gottesdienstes:
"Ja". Umgekehrt dringen sündhafte Wünsche,
selbst die unfaßlichsten Ungereimtheiten, urplötzlich
in die sich zersetzende Persönlichkeit ein, so grell, als
wären es Lichtflecke im Gehirn - und werden zu Taten noch
vor jedem Entschluß. Unter dem Hauch der Gedanken erhebt
sich bei der sündhaften Persönlichkeit nur "ihrer
Seele dunkle Flamme" (Euripides). Wie in der Erzählung
"Herakles am Scheidewege", so muß man auch in
allen anderen Entwicklungen des Themas von den "beiden Wegen"
als grundlegend erkennen die Idee von der Gestaltung seiner Seele
und seines Leibes durch den Menschen, von der Prägung
seiner selbst durch das Werk, von der Läuterung des ganzen
Organismus durch die Aufmerksamkeit auf sich selbst.
Eine solche der feuchten Sinnlichkeit bare, "ausgetrocknete"
Seele, d.h. die weiseste Seele ("die trockene Seele ist
die weiseste" - hat ein Denker im Altertum gesagt), eine
solche verdichtete Persönlichkeit, ein solcher wohlgestalteter
Mensch wird der feuchten Seele, der lockeren, unharmonischen;
"müßig-chaotischen" (nach einem Worte Dostojewskis)
Persönlichkeit gegenübergestellt.
Was aber ist diese "Wohlgestaltetheit"? Sie bedeutet,
daß in der Persönlichkeit alles am rechten Platz,
alles "wohlgeordnet" (cata taxin) ist.
Das ist, trotz ihrer Nüchternheit, die genaueste Antwort.
"Alles in der Persönlichkeit ist an seinem Platz",
"alles in ihr ist wohlgeordnet - das bedeutet: alle ihre
Lebenstätigkeiten vollziehen sich nach Göttlichem:
Gesetz, das ihr gegeben wurde - nicht anders; das bedeutet, daß
sie selbst, ein Mikrokosmos, in der Welt - dem Makrokosmos -
eben jene Stelle einnimmt, welche ihr von Ewigkeit her bestimmt
ist -, von der ihr vorgeschriebenen Bahn nicht abspringt, welche
sie am raschesten zum Reiche Gottes führt. In dein "geordneten
Werden von allem" besteht die Schönheit der Kreatur,
ihre Güte und Wahrheit. Umgekehrt ist die Abweichung von
dieser Ordnung - die Mißgestaltigkeit, das Böse und
die Lüge. Alles ist schön und gut und wahr,
aber - wenn es "nach der Ordnung" ist; alles
ist mißgestaltig, böse und lügenhaft - wenn es
eigenmächtig, eigenwillig, "nach eigener
Art" ist. Sünde ist, was "nach eigener Art"
ist, und Satan ist - das "nach eigener Art".
Die Sünde besteht in dem Nicht-heraustreten-wollen aus der
Selbstidentität, aus der Identität "Ich = Ich",
oder, genauer, "Ich!". Die Selbstbehauptung, die Behauptung
seiner selbst, ohne seine Beziehung zum anderen
- d.h. zu Gott und zur ganzen Kreatur -, das Eigen-Beharren im
Nichtheraustreten aus sich selber ist eben die Ursünde oder
die Wurzel aller Sünden. Alle besonderen Sünden sind
nur Spielarten, nur Manifestationen des Eigenbeharrens der Selbstheit.
Anders gesagt, die Sünde ist jene Kraft der Selbsterhaltung,
als der Erhaltung seines Ich, welche die Persönlichkeit
zum "Selbst-Götzen", zum Götzen seiner
selbst macht, das Ich durch das Ich und nicht durch Gott "erklärt",
das Ich auf das Ich und nicht auf Gott gründet. Die Sünde
ist jener wurzelhafte Trieb des Ich, durch welchen es sich in
seiner Besonderheit, in seiner Abgeschiedenheit behauptet und
aus sich selbst den einzigen Punkt der Realität macht. Die
Sünde ist dasjenige, was vor dem Ich die ganze Realität
verbirgt, denn die Realität schauen, das bedeutet
eben aus sich heraustreten und sein Ich in das Nicht-Ich, in
das andere, in das Geschaute übertragen - d.h. liebgewinnen.
Die Sünde ist somit jene Scheidewand, die das Ich zwischen
sich und die Realität setzt - das Umhüllen des Herzens
mit einer Rinde. Die Sünde ist das Undurchsichtige
- die Finsternis - der Nebel - das Dunkel; daher heißt
es auch: "Die Finsternis hat seine Augen verblendet"
(1. Joh. 2, 11), und es gibt noch eine große Zahl
anderer Redewendungen der Schrift, in denen das "Dunkel"
als Synonym der "Sünde" gebraucht wird.
Die Sünde in ihrer unvermischten, extremen Entwicklung,
d.h. das Gehenna - das ist das Dunkel, die
Undurchdringlichkeit für das Licht, die Finsternis,
ocotoV. Denn das Licht ist das In-Erscheinung-Treten der
Realität; das Dunkel aber umgekehrt die Abgeschiedenheit,
die Zerstückelung der Realität - die Unmöglichkeit
gegenseitigen Erscheinens, die Unsichtbarkeit des einen für
den anderen. Die Bezeichnung Hades selbst deutet auf ein
solches höllisches Zerrissensein der Realität, auf
die Isolierung der Realität, auf den Solipsismus
hin, denn dort spricht jeder: "Solus ipse sum! [...] Der
Hades (AidhV) - das ist jener Ort,
jener Zustand, wo es keine Sichtbarkeit gibt, welcher
der "Sichtbarkeit" beraubt ist, welcher unsichtbar
ist, und in dem man nichts sieht. Der Hades (AidhV) ist das Ohne-Sicht; wie Platon sagt: "en Aidou, to aeideV
de legw
- im Hades, ich meine das Unsichtbare", oder, wie es von
Plutarch bestimmt wird, "to aeideV cai aoraton, das Gestaltlose und Unsichtbare"; und Homer
spricht von der "nebligen Finsternis" des Hades (upo zofon heroenta).
Kurz: die Sünde ist das, was die Begründung
und folglich die Erklärung, d.h. die Vernünftigkeit
unmöglich macht. Auf der Jagd nach dem sündhaften Rationalismus
verliert das Bewußtsein die dem ganzen Sein zukommende
Rationalität. Wegen des Vernünftelns
hört es auf, vernünftig zu schauen. Die Sünde
selbst ist etwas völlig Verstandesmäßiges, völlig
nach Maßgabe des Verstandes, der Verstand im Verstande,
die Teufelei, denn der Teufel-Mephistopheles ist die nackte Verstandesmäßigkeit.
Aber eben weil sie in erster Linie verstandesmäßig
ist, macht sie die ganze Schöpfung und Gott selber sinnlos,
indem sie ihm die perspektivische Tiefe der Begründung nimmt
und ihn ans dem Boden des Absoluten herausreißt, alles
in einer Ebene verteilt, alles flach und abgeschmackt werden
läßt. Denn was ist die Abgeschmacktheit anderes als
die Neigung, alles was sichtbar ist, von seinen Wurzeln loszureißen,
es als selbstgenugsam und folglich unvernünftig, d.h. als
töricht zu betrachten.
Der Teufel-Mephistopheles, dieser reine Verstand, ist auch die
reine Abgeschmacktheit, weil er die Dummheit allein sieht. Die
Sünde ist aber das Prinzip der Unvernunft, das Prinzip der
Unbegreiflichkeit und des dumpfen, ausweglosen Stehenbleibens
der Kontemplation. Sie - die nach den Gesängen der hl. Kirche
"schmeichlerisch-weise" - verlockt in die scheinbare
Weisheit und zieht von der echten ab.
[...]
Welches ist denn der wahre Weg, der in der Schrift als "schmaler
Weg, der zum Leben führt", bezeichnet wird (Matth.
7, 14), als "Weg des Friedens" (Luk. 1, 79), als "Weg
der Seligkeit" (Apg. 16, 17), als "Weg des Herrn",
als "Weg der Wahrheit" (2. Petr. 2, 2), als "rechter
Weg" (2. Petr. 2, 15)? - Das ist die Keuschheit.
[...]
Die Scham zeigt an, was - obwohl rechtmäßig und von
Gott gegeben - verborgen bleiben soll, und was enthüllt
werden darf. Wenn aber die Schamhaftigkeit fehlt, dann erscheint
die Schamlosigkeit und der Zynismus - die Enthüllung des
Verborgenen und die Verhüllung dessen, was offenbar sein
sollte. Das Zerren, alles dessen in den Bereich des Bewußtseins,
das im Halbdunkel der unterbewußten Sphäre
sein sollte, oder, was dasselbe ist, das Herabsteigen des Bewußtseins
in die geheimnisvolle Dämmerung der Wurzeln des Seins, das
Ausspähen der elterlichen Nacktheit, wie es Ham getan hat
- das ist jene Verrenkung des Seelenlebens, welche als sittliche
Verderbtheit bezeichnet wird.
Hier erhält nun Gestalt und gleichsam Persönlichkeit
die naturgemäß gestalt- und persönlichkeitslose
Seite unseres Wesens, denn sie ist - gattungsmäßiges
Leben, obwohl sie in der Person vor sich geht. Indem sie
eine gespensterhafte Ähnlichkeit mit der Persönlichkeit
erhält, wird diese gattungsmäßige Unterlage der
Persönlichkeit selbständig, und die wahre Persönlichkeit
zerfällt. Die gattungsmäßige Sphäre sondert
sich aus der Persönlichkeit aus und hört auf, da sie
nur das Aussehen der Persönlichkeit hat, sich den
Vorschriften des Geistes unterzuordnen - wird unvernünftig
und unsinnig; und indem die Persönlichkeit selbst aus ihrem
Bestand die gattungsmäßige Grundlage, d.h. ihre Wurzel
verliert, büßt sie das Bewußtsein der Realität
ein und wird zu einer Gestalt nicht der realen Grundlage des
Lebens, sondern - der Leere und Nichtigkeit, d.h. zu einer leeren
und gähnenden Larve; und da sie nichts Wirkliches
hinter sich hat, erfaßt sie sich selbst als lügen-
und schauspielerhaft Die blinde sinnliche Begierde und die ziellose
Verlogenheit - das ist es, was von der Persönlichkeit nach
ihrer Entartung übrig bleibt. In diesem Sinn ist die Verderbtheit
Entzweiung, und das tiefsinnige Symbol einer solchen Entzweiung
ist die im Westen und Osten häufig vorkommende Darstellung
Satans mit einem zweiten Gesicht an Stelle der Schamteile,
oder aber, wie bei den Isographen, welche den Sinn der Darstellung
nicht völlig erfaßt haben - an Stelle des Bauches.
Die psychologische Analyse der hierher gehörigen Erlebnisse
finden wir in einigen literarischen Werken.
Wenn die Scham ein Kompaß des Bewußtseins und ein
Richtlot der Persönlichkeit ist, so ist die Schamlosigkeit
- ein Anzeichen ihrer "Verderbtheit" und ein
Merkmal der Zersetzung der Seele. Was aber ist diese Zersetzung?
[...] Es ist eine Spaltung des Gedankens, eine Doppelherzigkeit,
ein Doppel-Denken, eine Zwiespältigkeit, der Mangel an Festigkeit
in Einem; kurz: es ist die Zersetzung der Persönlichkeit,
schon vor dem Gehenna, ihre dicotomia (Matth. 24, 51
= Luk. 12, 46). "Ein Mensch mit sich doppelnden Gedanken"
fühlt schon hier, in diesem Leben, das Feuer des Gehenna.
Als ein der Keuschheit entgegengesetzter Zustand macht die sittliche
Verderbnis den Menschen unkeusch, d.h. nimmt dem Verstande seine
Ganzheit, seine Einheit und stürzt ihn in den Zustand einer
qualvollen Unbeständigkeit.
Die Sünde ist in sich schwankend. Die Einheit der Unreinheit
ist scheinbar, und das Trügerische dieser falschen Einheit
offenbart sich, sobald sie gezwungen wird, sich dem Guten Auge
in Auge gegenüberzustellen. Das Unreine ist Eines, solange
das Reine nicht vorhanden ist, aber durch die bloße Annäherung
des Reinen wird die Maske der Einheit von ihm fortgerissen. Dieser
Zerfall des Unreinen und diese Selbstzersetzung der "ekelerregenden
Kraft" ist anschaulich geschildert in der Erzählung
von der Heilung des gadarenischen Besessenen, welcher von dem
unsauberen Geist besessen war. Es genügt, die Aufmerksamkeit
darauf zu lenken, wie der Singular der unsauberen Macht sich
mit einem Schlage in den Plural verwandelt, sobald Jesus der
Herr sie nach ihrem Namen, d.h. nach ihrem verborgenen
Wesen fragt.
[...]
Das ist die schwankende, feuchte und faulende Natur der Sünde.
Wenn aber das die Natur der Sünde ist - die ihr entgegengesetzte
aber - die Sammlung und die Festigkeit der Seele in der Keuschheit
-, so erhebt sich unwillkürlich die Frage nach dem Wesen
dieser Keuschheit, welche bisher nur umschrieben wurde.
Die Frage nach dem Wesen der Keuschheit zerfällt wiederum
in zwei Fragen, nämlich
erstens, was ist diese geistige Keuschheit im Bewußtsein
des Menschen selbst, d.h. als Erlebnis, und
zweitens, wie ist die Keuschheit in der Ebene der Ontologie,
d.h. als Objekt des Gedankens, zu verstehen.
Auf die erste dieser Fragen ist das Wort "SELIGKEIT"
die Antwort, auf die zweite die Redewendung "EWIGES ANGEDENKEN".
In den Sinn dieser Antworten wollen wir tiefer eindringen.
Wir betrachten zunächst die Keuschheit als inneres Erlebnis
der keuschen Seele, d.h. als Seligkeit. Worin besteht
die "Seligkeit"? Was ist der Selige?
[...]
Die Seligkeit als das Ausruhen von dem rastlos gierigen und niemals
befriedigten Wollen, als In-sich-Geschlossenheit und Sammlung
der Seele für das ewige Leben in Gott - kurz als allgewaltiges
und daher ewig verwirklichtes Gebot an sich selbst: "màchar"
[ossetischer Ausdruck] (verzehre dich nicht selbst) - das ist
die Aufgabe der Asketik. Nur wenn man sich im Erdenleben abgeklärt,
die Gedanken in ein höheres Schauen verwandelt und das Irdische
zum Symbol des Himmlischen gemacht hat, kann man die Seligkeit
erlangen (s. Offenb. Joh. 21, 27; 22, 14-15).
[...]
Das keusche Leben ist die Ganzheit und Unverdorbenheit des menschlichen
Wesens. So ist seine Bestimmung als eines "an sich"
Seienden. "Für sich" ist es die Seligkeit
eines befriedeten und sich bescheidenden, d.h. von der Grenzenlosigkeit
des Wünschens auf ein Maß gebrachten, durch das Maß
gezügelten und verschönten Herzens. Aber - die letzte
Frage - was ist denn diese Keuschheit "für den anderen"
und namentlich "für den Anderen"? Was ist
sie als ein Moment des Göttlichen Lebens? - Sie ist - "Gottes
Angedenken", Sein "ewiges Angedenken".
"Wenn wir rückwärts in die Vergangenheit blicken"
- sagt ein Denker - "begegnen wir an ihrem Ende der Finsternis
und strengen uns vergeblich an, in jener Finsternis den Erinnerungen
ähnliche Formen zu unterscheiden. Alsdann erfahren wir jene
Kraftlosigkeit des erschöpften Denkens, welche wir als Vergessen
bezeichnen. Das Nichtsein offenbart sich unmittelbar in der Form
des Vergessens, durch weiche es verneint wird." Der Strom
der Zeit trägt alles mit sich fort, und zwar deshalb,
weil in dieser Welt nichts eine feste Wurzel hat, nichts innere
Festigkeit besitzt. [...] Es gibt nur ein Bleibendes -
'AlhJeia. Die Wahrheit
('AlhJeia) ist die Unvergeßlichkeit,
welche von den Strömen der Zeit nicht fortgespült wird,
sie ist eine Feste, welche von dem ätzenden Tod nicht zerfressen
wird, sie ist das wesenhafteste Wesen, in welchem auch nicht
im geringsten ein Nichtsein ist. In Ihm, dem Unvergänglichen,
findet das vergängliche Sein dieser Welt einen Hort; von
Ihm, dem Beharrenden, erhält es die keusche Beharrlichkeit.
Gott gewährt den Sieg über die Zeit, und dieser Sieg
ist das "Gedenken" durch Gott, der die Unvergeßlichkeit
ist: Er Selbst ist über der Zeit und kann alles der Ewigkeit
teilhaftig werden lassen. Wie? Indem Er seiner gedenkt.
[...]
Was aber ist das Gedächtnis? Schon dessen psychologische
Definition als "angeborener Fähigkeit des Vorstellens"
kennzeichnet ungeachtet ihrer Abstraktheit seine wesentliche
Verbindung mit den Prozessen des Denkens überhaupt. Anderseits
macht auch die Erkenntnistheorie durch den Begriff der transzendentalen
Apperzeption zugleich mit allen in ihr enthaltenen Akten der
Apprehension, Reproduktion und Rekognition, das Gedächtnis
zu der fundamentalen Erkenntnisfunktion der Vernunft. Die gleiche
Überzeugung bringt auch Platon zum Ausdruck, indem er sie
in mythische Bilder einkleidet. "Die Mutter der Musen"
- d.h. der Arten des geistigen Schaffens - "ist das Gedächtnis
(mnhmh)", sagt
er in einem Jugend-Dialog; das Wissen ist "Erinnerung
(anamnhsiV) der transzendenten
Welt", verkündet er im reifen Alter.
Wenn also nach Kant das transzendentale Gedächtnis die Grundlage
des Wissens ist, so ist nach Platon das transzendente Gedächtnis
das Fundament des Wissens. Und wenn wir ferner darauf achten,
daß das "Transzendentale" bei Kant eine
offenkundig transzendente Bedeutung hat, und das "Transzendente"
bei Platon eine Auslegung als "Transzendentales" erhalten
kann, so wird kein Zweifel sein an der Verwandtschaft der Gedanken
der beiden größten Repräsentanten der Philosophie.
Man muß dem noch die Anschauungen des bedeutendsten und
einflußreichsten Repräsentanten der zeitgenössischen
Philosophie, Henri Bergson, für welchen das Gedächtnis
wieder jene Tätigkeit ist, mit der wir "in das Reich
des Geistes" eintreten, und die das geistige Wesen zu einem
sich seiner selbst bewußten macht, d.h. zu dem, was es
an sich selber ist, beifügen. Und dann werden wir dem zustimmen,
daß die ganze Erkenntnistheorie letzten Endes eine Theorie
des Gedächtnisses ist.
Uns interessiert aber eigentlich das ontologische Moment des
Gedächtnisses. Was ist es denn als Tätigkeit der Seele?
Es ist ein Schaffen im Denken und, wir können noch mehr
sagen, das einzige Schaffen, welches dem Denken eigen ist, denn
die Phantasie ist ja, wie bekannt, nur eine Art des Gedächtnisses,
und die Voraussicht des Zukünftigen ist ebenfalls nicht
mehr als Gedächtnis. Das Gedächtnis ist die Tätigkeit
der denkenden Aneignung, d.h. die schöpferische Neugestaltung
aus Vorstellungen dessen, was sich der mystischen Erfahrung in
der Ewigkeit offenbart, oder, anders gesagt, die Schöpfung
der Symbole der Ewigkeit in der Zeit. Wir "erinnern"
uns gar nicht an die psychologischen Momente, sondern
an die mystischen, denn die psychologischen sind eben
deshalb psychologisch, weil sie in der Zeit vor sich gehen und
mit der Zeit unwiederbringlich verfließen. Das psychologische
Moment zu "wiederholen" ist geradeso unmöglich,
wie es unmöglich ist, die Zeit zu wiederholen" mit
der es kontinuierlich verbunden ist: das Leben des psychologischen
Elementes ist seinem Wesen nach ein einmomentiges Leben. Aber
man kann die über der Zeit stehende und schon einmal erlebte
mystische Realität wieder berühren, welche einer
jetzt schon verflossenen Vorstellung zugrunde liegt und einer
anderen, kommenden und der ersten durch die Einheit des mystischen
Inhalts verwandten, zugrunde liegen wird. Das Gedächtnis
hat immer eine transzendentale Bedeutung, und in ihm muß
uns unser über-zeitliches Wesen zum Bewußtsein kommen.
Es ist doch klar, daß, wenn wir von irgendeiner Vorstellung
als von einer Erinnerung, d.h. von etwas Vergangenem sprechen,
diese "Vergangenheit" uns gegeben ist, und eben
jetzt gegeben, in jener "Gegenwart", in der
wir sprechen. Anders gesagt, muß der vergangene Moment
der Zeit mir nicht nur als vergangener, sondern auch jetzt, als
gegenwärtiger, gegeben sein, d.h. die ganze Zeit
ist mir als ein gewisses "jetzt" gegeben, und daher
stehe ich, der ich auf die ganze mir zugleich gegebene
Zeit schaue - über der Zeit.
Das Gedächtnis ist ein symbolisches Schaffen. In die Vergangenheit
versetzt, werden diese Symbole in der Ebene der Empirie Erinnerungen
benannt; auf das Gegenwärtige bezogen, heißen sie
Phantasie; in die Zukunft verlegt, werden sie als Voraussicht
und Vorauswissen betrachtet. Aber das Vergangene, das Gegenwärtige
und das Zukünftige müssen, um in diesem Augenblick
der Ort für die Symbole des Mystischen zu sein, trotz ihrer
zeitlichen Verschiedenheit doch zugleich, d.h. unter dem Gesichtswinkel
der Ewigkeit, erlebt werden: in allen drei Richtungen des Gedächtnisses
stellt die Denktätigkeit die Ewigkeit in der Sprache der
Zeit dar; der Akt dieses Aussagens ist eben das Gedächtnis.
Indem das überzeitliche Subjekt des Erkennens mit dem ebenfalls
üherzeitlichen Objekt in Gemeinschaft tritt, entfaltet es
diese Gemeinschaft in der Zeit: das eben ist das Gedächtnis.
Somit ist das Gedächtnis - das schöpferische Prinzip
des Gedankens, d.h. der Gedanke im Gedanken, der Gedanke
im eigentlichsten Sinn. Dasjenige aber, was sich bei Gott
"Gedächtnis" nennt - verschmilzt vollkommen mit
dem Göttlichen Gedanken, weil in dem Göttlichen Bewußtsein
die Zeit mit der Ewigkeit, das Empirische mit dem Mystischen,
die Erfahrung mit dem Schaffen identisch sind. Das Denken Gottes
ist vollkommenes Schaffen, und Sein Schaffen ist Sein Gedächtnis.
Indem Gott gedenkt, denkt Er, und indem Er denkt - schafft Er.
[...]
Wir fragten, was die Sünde sei, und sie erwies sich als
Zerstörung und Entartung. Aber die Zerstörung kann
nur etwas Zeitliches sein; von dem Zerstörten genährt
muß die Zerstörung unvermeidlich versiegen, aufhören
und einhalten, wenn nichts mehr zu zerstören übrig
bleibt. Und das gleiche gilt von der Entartung. Was aber dann?
Wohin führt diese Grenze der Zerstörung? Was bedeutet
die vollständige Zerstörung der Keuschheit? Oder, anders
gesagt, was ist das Gehenna? - Das ist die Frage, welche sich
jetzt vor uns erhebt.
Weiter aber zeigen sich noch die Umrisse einer dieser ähnlichen
Frage. Wenn das Gehenna die oberste Grenze der Sünde ist,
wo ist dann ihre unterste Grenze, d.h. wo erlischt die Sünde
wiederum, diesmal aber wegen der Fülle der keuschen Festigkeit.
Anders ausgedrückt, wir müssen uns darüber klar
werden, was die Heiligkeit ist, und wie sie möglich sei.
Das Gehenna, als oberste Grenze der Sündhaftigkeit, und
die Heiligkeit als deren unterste Grenze, oder: das Gehenna,
als unterste Grenze der Geistlichkeit, und die Heiligkeit als
ihre oberste Grenze - das zu erörtern ist unsere nächste
Aufgabe.
[Übersetzung
Nikolai von Bubnoff]
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