pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

siebenter brief:

die sünde

[...]
Nach der prägnanten Bestimmung des Apostels Johannes ist die Sünde die Gesetzlosigkeit (
h amaotia estin h anomia) (1. Joh. 3, 4).
[...]
H anomia bedeutet nicht: eine von den gesetzlosen Handlungen, nicht die Gesetzlosigkeit überhaupt, sondern die Gesetzlosigkeit, cat' exochn, die Gesetzlosigkeit, welche in erster Linie diese Benennung verdient - das, was in sich das Prinzip selbst der Gesetzlosigkeit trägt - die Gesetzlosigkeit in der reinsten Gestalt und im vollständigsten Sinn - eine Handlung, welche im höchsten Maße alles das in sich vereinigt, weswegen die einzelnen gesetzlosen Handlungen als gesetzlos bezeichnet werden - die Gesetzlosigkeit selbst, oder - kurz gesagt - DIE GESETZLOSIGKEIT.
Der Apostel will nicht von einem der Merkmale der Sünde reden, nicht an ihrer Peripherie bleiben, sondern versenkt sich in ihr tiefstes Inneres, in ihr metaphysisches Wesen. Daher ist die von ihm der Sünde gegebene Bestimmung eine Bestimmung in der ontologischen Tiefe, nicht aber metaphorisch oder akzidentiell. Es wäre durchaus irrtümlich, sie im Rahmen des Gesetzes zu verstehen. Die Sünde ist Gesetzlosigkeit, ist Verdrehung des Gesetzes, d.h. jener ORDNUNG, welche der Kreatur von dem HERRN gegeben ist, jenes inneren Aufbaus der ganzen Schöpfung, wodurch sie lebendig ist, jener inneren ORGANISATION der Kreatur, die ihr von Gott verliehen ist, jener WEISHEIT, in welcher der Sinn der Welt ist. Außerhalb des Gesetzes ist die Sünde nichts, hat nur scheinbaren Bestand, denn - ich erlaube mir hier die Worte des Apostels, obwohl vielleicht in einer etwas freien Deutung zu gebrauchen - "durch das Gesetz wird die Sünde erkannt".
Wenn es kein Geborenwerden gibt, so gibt es auch kein Töten, wenn kein Sein ist, so ist auch kein Nichtsein; wenn kein Leben ist, so ist auch kein Tod. Wenn kein Licht ist, so ist auch keine Finsternis, denn durch das Licht wird die Finsternis offenbar. Die Sünde ist ein Parasit der Heiligkeit und existiert deshalb, weil die Heiligkeit von ihr noch nicht endgültig abgetrennt wurde - weil der Weizen und die Spreu einstweilen noch zusammen wachsen.
Indem die Sünde, wie jede parasitische Existenz, ihren Wirt zerstört, unterwühlt sie zugleich sich selbst. Sie richtet sich auf sich selbst, zehrt an sich selbst, denn alles, was keine Erniedrigung will, verfällt der Vernichtung. Gott, der niemandem Böses wünscht, hat niemals jemanden vernichtet; stets haben die Bösen sich selber zugrunde gerichtet: Gott hat "zerstreuet, die hoffärtig sind" durch gar nichts anderes als durch "ihres Herzens Sinn" (Luk. 1, 51), oder, genauer gesagt, durch die Überlegung (
dianoia), denn der Verstand (dianoia) ist im Gegensatz zu der Vernunft eine Manifestation der Selbstheit.
[...]
Indem sie nur sich selbst in ihrem "hier" und "jetzt" will, verschließt sich die böse Selbstbejahung ungastfreundlich vor allem, was nicht sie selbst ist; aber, indem sie nach Selbst-Vergottung strebt, bleibt sie nicht einmal sich selbst gleich, zerfällt, zersetzt und zersplittert sich im inneren Kampf. Dieser Gedanke von der zersplitternden Wirkung des Bösen ist von Platon unter der durchsichtigen Hülle des Mythos vom "Androgyn" zum Ausdruck gebracht worden.
[...]
Die Selbst-Behauptung der Persönlichkeit, ihre Stellung gegen Gott - ist der Quell der Zerstückelung, des Zerfalls der Persönlichkeit, der Verarmung ihres inneren Lebens, und nur die Liebe führt sie bis zu einem gewissen Grade zur Einheit zurück. Aber wenn die schon teilweise zerfallene Persönlichkeit sich wiederum nicht zufrieden gibt und selber Gott werden will - "wie die Götter" -, dann trifft sie unvermeidlich immer wieder eine neue Zerstückelung, immer wieder ein neuer Zerfall. Das ist der ontologische Sinn des Mythos. Und sehen wir denn nicht, wie unter unseren Augen - bald unter dem lauten Vorwand der "Differenziation" und "Spezialisation", bald auf Grund der nackten Begierde nach Unordnung und Anarchie -, sehen wir denn nicht, wie die Gesellschaft und die Persönlichkeit bis in ihre verborgensten Tiefen hinein zerstückelt und zerstäubt werden, indem sie ohne Gott leben, sich unabhängig von Gott einrichten, sich wider Gott selbstbestimmen wollen. Der Wahnsinn selbst - diese Desintegration der Persönlichkeit -ist er denn nicht in seinem Wesen die Folge einer tiefen geistigen Entartung unseres ganzen Lebens? Haben denn die wachsende Neurasthenie und andere "Nerven"-Krankheiten zu ihrer wahren Ursache nicht das Streben der Menschheit und der Menschen, nach ihrer eigenen Art zu leben, und nicht in Gott, zu leben ohne göttliches Gesetz, in der Anomie! Die Leugnung Gottes führte und führt stets zum Wahnsinn, denn eben Gott ist die WURZEL der Vernunft. Wer ist es, der "in seinem Herzen sprach", d.h. nicht nur in Worten, sondern in seiner Seele selbst mit seinem ganzen Wesen: "Es ist kein Gott"? - "Der Tor" (Ps. 14, 2; 53, 2), denn die wesenhafte Leugnung Gottes und der Wahnsinn - sind ein und dasselbe, sind verbunden und unzertrennlich -, eine Erscheinung, welche künstlerisch und in ihrer Entwicklung von Tolstoj und Dostojewski dargestellt ist.
Ohne Liebe - für die Liebe bedarf es aber vor allem der Göttlichen Liebe - zerfällt die Persönlichkeit in psychologische Elemente und Momente. Die Göttliche Liebe ist das Band der Persönlichkeit.
[...]
Die Sünde ist das Moment der Disharmonie und des Zerfalles des geistigen Lebens. Die Seele verliert ihre substantielle Einheit, verliert das Bewußtsein ihrer schöpferischen Natur, verliert sich in dem chaotischen Wirbel ihrer eigenen Zustände, hört auf, deren Substanz zu sein. Das Ich erstickt in der "gedanklichen Sintflut" der Leidenschaften. Nicht umsonst ist das rätselhafte und verführerische Lächeln aller Personen auf den Gemälden des Leonardo da Vinci, welches den Skeptizismus, den Abfall von Gott und den Starrsinn des menschlichen "ich weiß" zum Ausdruck bringt, in Wahrheit ein Lächeln der Verlorenheit: sich selber haben sie verloren, und das ist besonders anschaulich bei der "Gioconda". Eigentlich ist es ein Lächeln der Sünde, der Versuchung und der Verführung - ein buhlerisches und verderbtes Lächeln, welches nichts Positives ausdrückt (eben darin liegt seine Rätselhaftigkeit!), es sei denn eine innere Bestürzung, einen inneren Aufruhr des Geistes, aber - auch eine Verstocktheit. Ja, in der Sünde entgleitet die Seele sich selber, verliert sich selbst: nicht umsonst charakterisiert die Sprache die letzte Stufe des Falles einer Frau als "Verlorensein". Es ist aber unzweifelhaft, daß es nicht nur "verlorene Frauen" d.h. solche, die in sich sich selbst, ihr gottähnliches Schaffen des Lebens verloren haben, sondern auch "verlorene Männer" gibt; überhaupt ist die sündhafte Seele - die "verlorene Seele", und zwar nicht nur für andere verloren, sondern auch für sich selbst, weil sie sich nicht bewahrt hat. Und wenn die zeitgenössische Psychologie immerfort wiederholt, daß sie keine Seele kenne als Substanz, so läßt das nur den sittlichen Zustand der Psychologen selbst in einem sehr üblen Lichte erscheinen, welche in ihrer Mehrzahl offenbar "verlorene Männer" sind. Dann ist es allerdings so, daß nicht "ich tue", sondern "mit mir wird getan", nicht "ich lebe", sondern "mit mir geschieht".
In dem Maße des Erlöschens der schöpferischen Kraft, der Selbsttätigkeit und der Freiheit im Bewußtsein, wird die ganze Persönlichkeit durch mechanische Prozesse im Organismus verdrängt und, indem sie die Folgen der eigenen Schwäche nach außen projiziert, belebt sie die umgebende Welt. [...] Der ganze Organismus - wie der leibliche, so auch der seelische - verwandelt sich aus einem einheitlichen und wohlgeordneten Werkzeug, aus einem Organ der Persönlichkeit in eine zufällige Kolonie, in einen zusammengeratenen Haufen einander nicht entsprechender und selbsttätiger Mechanismen. Kurz, alles erscheint frei in mir und außer mir - alles außer mir selber.
Der neurasthenische Halb-Verlust der Realität des schöpferischen Ichs ist ebenfalls eine Art des Mangels an geistiger Nüchternheit, und es ist schwer, sich von der Überzeugung loszumachen, daß sein Grund in der "Ungeordnetheit" der Persönlichkeit liegt. Indem der Mensch sein Verhältnis zu Gott verdirbt, verdirbt er eben dadurch sein sittliches, dann aber sogar auch sein leibliches Leben. So kannten die Heiden Gott durch die Betrachtung seiner Werke. Aber "dieweil sie wußten, daß ein Gott ist und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere. Darum hat sie auch Gott dahingegeben in ihrer Herzen Gelüste, in Unreinigkeit zu schänden ihre eigenen Leiber und sich selbst, sie, die Gottes Wahrheit haben verwandelt in die Lüge und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr denn dem Schöpfer." (Röm. 1, 21-25) Die Folge davon war - wie der Apostel weiter sagt - eine Verkehrung der natürlichen Ordnung des leiblichen Lebens und die Verderbnis des gemeinschaftlichen. Die giftigen Prinzipien der Unordnung, der Anarchie und der Zügellosigkeit durchtränkten die Gesellschaft in allen ihren Lebenstätigkeiten (Röm. 1, 26-32).
In dem Maße des Erdig-werdens der Seele geht ihre Freiheit verloren; langsam, aber unabänderlich zerfrißt der Krebs der sündhaften Wunde das Herz. Die Sünden umdrängen das Herz, umgeben es in dichter Reihe, lassen mich nicht zu ihm vordringen, verlegen dem erfrischenden Lüftchen der Gnade den Zugang. Die Seele quält sich und ruft: "Von allem Umdrängen erlöse mich!", aber das Herz hat sich wie mit einer festen Rinde umhüllt.
Ja, es ist lebendig, aber - hinter seinen Mauern, und man kann es nicht erreichen. Ich selbst weiß nur theoretisch, daß es existiert, aber ich vermag nicht, an es heranzutreten. Und der heilige Kirchen-Gottesdienst gleitet über diesen Stahlpanzer hin, ihn nur wenig ritzend; er eilt vorbei an der Aufmerksamkeit, die unfähig ist, sich auf sich selbst zu konzentrieren.
Bisweilen tritt eine Art von Geistesabwesenheit ein - an den bedeutsamsten Stellen verhehlt der Feind die kostbarsten Worte. Man fragt sich: "Ist denn dieses - d.h. das Evangelium usw. - schon vorbei?" und man antwortet nur mit dem Verstande auf Grund einer Erwägung nach dem Fortgang des Gottesdienstes: "Ja". Umgekehrt dringen sündhafte Wünsche, selbst die unfaßlichsten Ungereimtheiten, urplötzlich in die sich zersetzende Persönlichkeit ein, so grell, als wären es Lichtflecke im Gehirn - und werden zu Taten noch vor jedem Entschluß. Unter dem Hauch der Gedanken erhebt sich bei der sündhaften Persönlichkeit nur "ihrer Seele dunkle Flamme" (Euripides). Wie in der Erzählung "Herakles am Scheidewege", so muß man auch in allen anderen Entwicklungen des Themas von den "beiden Wegen" als grundlegend erkennen die Idee von der Gestaltung seiner Seele und seines Leibes durch den Menschen, von der Prägung seiner selbst durch das Werk, von der Läuterung des ganzen Organismus durch die Aufmerksamkeit auf sich selbst.
Eine solche der feuchten Sinnlichkeit bare, "ausgetrocknete" Seele, d.h. die weiseste Seele ("die trockene Seele ist die weiseste" - hat ein Denker im Altertum gesagt), eine solche verdichtete Persönlichkeit, ein solcher wohlgestalteter Mensch wird der feuchten Seele, der lockeren, unharmonischen; "müßig-chaotischen" (nach einem Worte Dostojewskis) Persönlichkeit gegenübergestellt.
Was aber ist diese "Wohlgestaltetheit"? Sie bedeutet, daß in der Persönlichkeit alles am rechten Platz, alles "wohlgeordnet" (
cata taxin) ist.
Das ist, trotz ihrer Nüchternheit, die genaueste Antwort. "Alles in der Persönlichkeit ist an seinem Platz", "alles in ihr ist wohlgeordnet - das bedeutet: alle ihre Lebenstätigkeiten vollziehen sich nach Göttlichem: Gesetz, das ihr gegeben wurde - nicht anders; das bedeutet, daß sie selbst, ein Mikrokosmos, in der Welt - dem Makrokosmos - eben jene Stelle einnimmt, welche ihr von Ewigkeit her bestimmt ist -, von der ihr vorgeschriebenen Bahn nicht abspringt, welche sie am raschesten zum Reiche Gottes führt. In dein "geordneten Werden von allem" besteht die Schönheit der Kreatur, ihre Güte und Wahrheit. Umgekehrt ist die Abweichung von dieser Ordnung - die Mißgestaltigkeit, das Böse und die Lüge. Alles ist schön und gut und wahr, aber - wenn es "nach der Ordnung" ist; alles ist mißgestaltig, böse und lügenhaft - wenn es eigenmächtig, eigenwillig, "nach eigener Art" ist. Sünde ist, was "nach eigener Art" ist, und Satan ist - das "nach eigener Art".
Die Sünde besteht in dem Nicht-heraustreten-wollen aus der Selbstidentität, aus der Identität "Ich = Ich", oder, genauer, "Ich!". Die Selbstbehauptung, die Behauptung seiner selbst, ohne seine Beziehung zum anderen - d.h. zu Gott und zur ganzen Kreatur -, das Eigen-Beharren im Nichtheraustreten aus sich selber ist eben die Ursünde oder die Wurzel aller Sünden. Alle besonderen Sünden sind nur Spielarten, nur Manifestationen des Eigenbeharrens der Selbstheit. Anders gesagt, die Sünde ist jene Kraft der Selbsterhaltung, als der Erhaltung seines Ich, welche die Persönlichkeit zum "Selbst-Götzen", zum Götzen seiner selbst macht, das Ich durch das Ich und nicht durch Gott "erklärt", das Ich auf das Ich und nicht auf Gott gründet. Die Sünde ist jener wurzelhafte Trieb des Ich, durch welchen es sich in seiner Besonderheit, in seiner Abgeschiedenheit behauptet und aus sich selbst den einzigen Punkt der Realität macht. Die Sünde ist dasjenige, was vor dem Ich die ganze Realität verbirgt, denn die Realität schauen, das bedeutet eben aus sich heraustreten und sein Ich in das Nicht-Ich, in das andere, in das Geschaute übertragen - d.h. liebgewinnen. Die Sünde ist somit jene Scheidewand, die das Ich zwischen sich und die Realität setzt - das Umhüllen des Herzens mit einer Rinde. Die Sünde ist das Undurchsichtige - die Finsternis - der Nebel - das Dunkel; daher heißt es auch: "Die Finsternis hat seine Augen verblendet" (1. Joh. 2, 11), und es gibt noch eine große Zahl anderer Redewendungen der Schrift, in denen das "Dunkel" als Synonym der "Sünde" gebraucht wird. Die Sünde in ihrer unvermischten, extremen Entwicklung, d.h. das Gehenna - das ist das Dunkel, die Undurchdringlichkeit für das Licht, die Finsternis, ocotoV. Denn das Licht ist das In-Erscheinung-Treten der Realität; das Dunkel aber umgekehrt die Abgeschiedenheit, die Zerstückelung der Realität - die Unmöglichkeit gegenseitigen Erscheinens, die Unsichtbarkeit des einen für den anderen. Die Bezeichnung Hades selbst deutet auf ein solches höllisches Zerrissensein der Realität, auf die Isolierung der Realität, auf den Solipsismus hin, denn dort spricht jeder: "Solus ipse sum! [...] Der Hades (
AidhV) - das ist jener Ort, jener Zustand, wo es keine Sichtbarkeit gibt, welcher der "Sichtbarkeit" beraubt ist, welcher unsichtbar ist, und in dem man nichts sieht. Der Hades (AidhV) ist das Ohne-Sicht; wie Platon sagt: "en Aidou, to aeideV de legw - im Hades, ich meine das Unsichtbare", oder, wie es von Plutarch bestimmt wird, "to aeideV cai aoraton, das Gestaltlose und Unsichtbare"; und Homer spricht von der "nebligen Finsternis" des Hades (upo zofon heroenta).
Kurz: die Sünde ist das, was die Begründung und folglich die Erklärung, d.h. die Vernünftigkeit unmöglich macht. Auf der Jagd nach dem sündhaften Rationalismus verliert das Bewußtsein die dem ganzen Sein zukommende Rationalität. Wegen des Vernünftelns hört es auf, vernünftig zu schauen. Die Sünde selbst ist etwas völlig Verstandesmäßiges, völlig nach Maßgabe des Verstandes, der Verstand im Verstande, die Teufelei, denn der Teufel-Mephistopheles ist die nackte Verstandesmäßigkeit.
Aber eben weil sie in erster Linie verstandesmäßig ist, macht sie die ganze Schöpfung und Gott selber sinnlos, indem sie ihm die perspektivische Tiefe der Begründung nimmt und ihn ans dem Boden des Absoluten herausreißt, alles in einer Ebene verteilt, alles flach und abgeschmackt werden läßt. Denn was ist die Abgeschmacktheit anderes als die Neigung, alles was sichtbar ist, von seinen Wurzeln loszureißen, es als selbstgenugsam und folglich unvernünftig, d.h. als töricht zu betrachten.
Der Teufel-Mephistopheles, dieser reine Verstand, ist auch die reine Abgeschmacktheit, weil er die Dummheit allein sieht. Die Sünde ist aber das Prinzip der Unvernunft, das Prinzip der Unbegreiflichkeit und des dumpfen, ausweglosen Stehenbleibens der Kontemplation. Sie - die nach den Gesängen der hl. Kirche "schmeichlerisch-weise" - verlockt in die scheinbare Weisheit und zieht von der echten ab.
[...]
Welches ist denn der wahre Weg, der in der Schrift als "schmaler Weg, der zum Leben führt", bezeichnet wird (Matth. 7, 14), als "Weg des Friedens" (Luk. 1, 79), als "Weg der Seligkeit" (Apg. 16, 17), als "Weg des Herrn", als "Weg der Wahrheit" (2. Petr. 2, 2), als "rechter Weg" (2. Petr. 2, 15)? - Das ist die Keuschheit.
[...]
Die Scham zeigt an, was - obwohl rechtmäßig und von Gott gegeben - verborgen bleiben soll, und was enthüllt werden darf. Wenn aber die Schamhaftigkeit fehlt, dann erscheint die Schamlosigkeit und der Zynismus - die Enthüllung des Verborgenen und die Verhüllung dessen, was offenbar sein sollte. Das Zerren, alles dessen in den Bereich des Bewußtseins, das im Halbdunkel der unterbewußten Sphäre sein sollte, oder, was dasselbe ist, das Herabsteigen des Bewußtseins in die geheimnisvolle Dämmerung der Wurzeln des Seins, das Ausspähen der elterlichen Nacktheit, wie es Ham getan hat - das ist jene Verrenkung des Seelenlebens, welche als sittliche Verderbtheit bezeichnet wird.
Hier erhält nun Gestalt und gleichsam Persönlichkeit die naturgemäß gestalt- und persönlichkeitslose Seite unseres Wesens, denn sie ist - gattungsmäßiges Leben, obwohl sie in der Person vor sich geht. Indem sie eine gespensterhafte Ähnlichkeit mit der Persönlichkeit erhält, wird diese gattungsmäßige Unterlage der Persönlichkeit selbständig, und die wahre Persönlichkeit zerfällt. Die gattungsmäßige Sphäre sondert sich aus der Persönlichkeit aus und hört auf, da sie nur das Aussehen der Persönlichkeit hat, sich den Vorschriften des Geistes unterzuordnen - wird unvernünftig und unsinnig; und indem die Persönlichkeit selbst aus ihrem Bestand die gattungsmäßige Grundlage, d.h. ihre Wurzel verliert, büßt sie das Bewußtsein der Realität ein und wird zu einer Gestalt nicht der realen Grundlage des Lebens, sondern - der Leere und Nichtigkeit, d.h. zu einer leeren und gähnenden Larve; und da sie nichts Wirkliches hinter sich hat, erfaßt sie sich selbst als lügen- und schauspielerhaft Die blinde sinnliche Begierde und die ziellose Verlogenheit - das ist es, was von der Persönlichkeit nach ihrer Entartung übrig bleibt. In diesem Sinn ist die Verderbtheit Entzweiung, und das tiefsinnige Symbol einer solchen Entzweiung ist die im Westen und Osten häufig vorkommende Darstellung Satans mit einem zweiten Gesicht an Stelle der Schamteile, oder aber, wie bei den Isographen, welche den Sinn der Darstellung nicht völlig erfaßt haben - an Stelle des Bauches. Die psychologische Analyse der hierher gehörigen Erlebnisse finden wir in einigen literarischen Werken.
Wenn die Scham ein Kompaß des Bewußtseins und ein Richtlot der Persönlichkeit ist, so ist die Schamlosigkeit - ein Anzeichen ihrer "Verderbtheit" und ein Merkmal der Zersetzung der Seele. Was aber ist diese Zersetzung? [...] Es ist eine Spaltung des Gedankens, eine Doppelherzigkeit, ein Doppel-Denken, eine Zwiespältigkeit, der Mangel an Festigkeit in Einem; kurz: es ist die Zersetzung der Persönlichkeit, schon vor dem Gehenna, ihre dicotomia (Matth. 24, 51 = Luk. 12, 46). "Ein Mensch mit sich doppelnden Gedanken" fühlt schon hier, in diesem Leben, das Feuer des Gehenna. Als ein der Keuschheit entgegengesetzter Zustand macht die sittliche Verderbnis den Menschen unkeusch, d.h. nimmt dem Verstande seine Ganzheit, seine Einheit und stürzt ihn in den Zustand einer qualvollen Unbeständigkeit.
Die Sünde ist in sich schwankend. Die Einheit der Unreinheit ist scheinbar, und das Trügerische dieser falschen Einheit offenbart sich, sobald sie gezwungen wird, sich dem Guten Auge in Auge gegenüberzustellen. Das Unreine ist Eines, solange das Reine nicht vorhanden ist, aber durch die bloße Annäherung des Reinen wird die Maske der Einheit von ihm fortgerissen. Dieser Zerfall des Unreinen und diese Selbstzersetzung der "ekelerregenden Kraft" ist anschaulich geschildert in der Erzählung von der Heilung des gadarenischen Besessenen, welcher von dem unsauberen Geist besessen war. Es genügt, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie der Singular der unsauberen Macht sich mit einem Schlage in den Plural verwandelt, sobald Jesus der Herr sie nach ihrem Namen, d.h. nach ihrem verborgenen Wesen fragt.
[...]
Das ist die schwankende, feuchte und faulende Natur der Sünde. Wenn aber das die Natur der Sünde ist - die ihr entgegengesetzte aber - die Sammlung und die Festigkeit der Seele in der Keuschheit -, so erhebt sich unwillkürlich die Frage nach dem Wesen dieser Keuschheit, welche bisher nur umschrieben wurde. Die Frage nach dem Wesen der Keuschheit zerfällt wiederum in zwei Fragen, nämlich
erstens, was ist diese geistige Keuschheit im Bewußtsein des Menschen selbst, d.h. als Erlebnis, und
zweitens, wie ist die Keuschheit in der Ebene der Ontologie, d.h. als Objekt des Gedankens, zu verstehen.
Auf die erste dieser Fragen ist das Wort "SELIGKEIT" die Antwort, auf die zweite die Redewendung "EWIGES ANGEDENKEN". In den Sinn dieser Antworten wollen wir tiefer eindringen.
Wir betrachten zunächst die Keuschheit als inneres Erlebnis der keuschen Seele, d.h. als Seligkeit. Worin besteht die "Seligkeit"? Was ist der Selige?
[...]
Die Seligkeit als das Ausruhen von dem rastlos gierigen und niemals befriedigten Wollen, als In-sich-Geschlossenheit und Sammlung der Seele für das ewige Leben in Gott - kurz als allgewaltiges und daher ewig verwirklichtes Gebot an sich selbst: "màchar" [ossetischer Ausdruck] (verzehre dich nicht selbst) - das ist die Aufgabe der Asketik. Nur wenn man sich im Erdenleben abgeklärt, die Gedanken in ein höheres Schauen verwandelt und das Irdische zum Symbol des Himmlischen gemacht hat, kann man die Seligkeit erlangen (s. Offenb. Joh. 21, 27; 22, 14-15).
[...]
Das keusche Leben ist die Ganzheit und Unverdorbenheit des menschlichen Wesens. So ist seine Bestimmung als eines "an sich" Seienden. "Für sich" ist es die Seligkeit eines befriedeten und sich bescheidenden, d.h. von der Grenzenlosigkeit des Wünschens auf ein Maß gebrachten, durch das Maß gezügelten und verschönten Herzens. Aber - die letzte Frage - was ist denn diese Keuschheit "für den anderen" und namentlich "für den Anderen"? Was ist sie als ein Moment des Göttlichen Lebens? - Sie ist - "Gottes Angedenken", Sein "ewiges Angedenken". "Wenn wir rückwärts in die Vergangenheit blicken" - sagt ein Denker - "begegnen wir an ihrem Ende der Finsternis und strengen uns vergeblich an, in jener Finsternis den Erinnerungen ähnliche Formen zu unterscheiden. Alsdann erfahren wir jene Kraftlosigkeit des erschöpften Denkens, welche wir als Vergessen bezeichnen. Das Nichtsein offenbart sich unmittelbar in der Form des Vergessens, durch weiche es verneint wird." Der Strom der Zeit trägt alles mit sich fort, und zwar deshalb, weil in dieser Welt nichts eine feste Wurzel hat, nichts innere Festigkeit besitzt. [...] Es gibt nur ein Bleibendes - '
AlhJeia. Die Wahrheit ('AlhJeia) ist die Unvergeßlichkeit, welche von den Strömen der Zeit nicht fortgespült wird, sie ist eine Feste, welche von dem ätzenden Tod nicht zerfressen wird, sie ist das wesenhafteste Wesen, in welchem auch nicht im geringsten ein Nichtsein ist. In Ihm, dem Unvergänglichen, findet das vergängliche Sein dieser Welt einen Hort; von Ihm, dem Beharrenden, erhält es die keusche Beharrlichkeit. Gott gewährt den Sieg über die Zeit, und dieser Sieg ist das "Gedenken" durch Gott, der die Unvergeßlichkeit ist: Er Selbst ist über der Zeit und kann alles der Ewigkeit teilhaftig werden lassen. Wie? Indem Er seiner gedenkt.
[...]
Was aber ist das Gedächtnis? Schon dessen psychologische Definition als "angeborener Fähigkeit des Vorstellens" kennzeichnet ungeachtet ihrer Abstraktheit seine wesentliche Verbindung mit den Prozessen des Denkens überhaupt. Anderseits macht auch die Erkenntnistheorie durch den Begriff der transzendentalen Apperzeption zugleich mit allen in ihr enthaltenen Akten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition, das Gedächtnis zu der fundamentalen Erkenntnisfunktion der Vernunft. Die gleiche Überzeugung bringt auch Platon zum Ausdruck, indem er sie in mythische Bilder einkleidet. "Die Mutter der Musen" - d.h. der Arten des geistigen Schaffens - "ist das Gedächtnis (
mnhmh)", sagt er in einem Jugend-Dialog; das Wissen ist "Erinnerung (anamnhsiV) der transzendenten Welt", verkündet er im reifen Alter.
Wenn also nach Kant das transzendentale Gedächtnis die Grundlage des Wissens ist, so ist nach Platon das transzendente Gedächtnis das Fundament des Wissens. Und wenn wir ferner darauf achten, daß das "Transzendentale" bei Kant eine offenkundig transzendente Bedeutung hat, und das "Transzendente" bei Platon eine Auslegung als "Transzendentales" erhalten kann, so wird kein Zweifel sein an der Verwandtschaft der Gedanken der beiden größten Repräsentanten der Philosophie. Man muß dem noch die Anschauungen des bedeutendsten und einflußreichsten Repräsentanten der zeitgenössischen Philosophie, Henri Bergson, für welchen das Gedächtnis wieder jene Tätigkeit ist, mit der wir "in das Reich des Geistes" eintreten, und die das geistige Wesen zu einem sich seiner selbst bewußten macht, d.h. zu dem, was es an sich selber ist, beifügen. Und dann werden wir dem zustimmen, daß die ganze Erkenntnistheorie letzten Endes eine Theorie des Gedächtnisses ist.
Uns interessiert aber eigentlich das ontologische Moment des Gedächtnisses. Was ist es denn als Tätigkeit der Seele? Es ist ein Schaffen im Denken und, wir können noch mehr sagen, das einzige Schaffen, welches dem Denken eigen ist, denn die Phantasie ist ja, wie bekannt, nur eine Art des Gedächtnisses, und die Voraussicht des Zukünftigen ist ebenfalls nicht mehr als Gedächtnis. Das Gedächtnis ist die Tätigkeit der denkenden Aneignung, d.h. die schöpferische Neugestaltung aus Vorstellungen dessen, was sich der mystischen Erfahrung in der Ewigkeit offenbart, oder, anders gesagt, die Schöpfung der Symbole der Ewigkeit in der Zeit. Wir "erinnern" uns gar nicht an die psychologischen Momente, sondern an die mystischen, denn die psychologischen sind eben deshalb psychologisch, weil sie in der Zeit vor sich gehen und mit der Zeit unwiederbringlich verfließen. Das psychologische Moment zu "wiederholen" ist geradeso unmöglich, wie es unmöglich ist, die Zeit zu wiederholen" mit der es kontinuierlich verbunden ist: das Leben des psychologischen Elementes ist seinem Wesen nach ein einmomentiges Leben. Aber man kann die über der Zeit stehende und schon einmal erlebte mystische Realität wieder berühren, welche einer jetzt schon verflossenen Vorstellung zugrunde liegt und einer anderen, kommenden und der ersten durch die Einheit des mystischen Inhalts verwandten, zugrunde liegen wird. Das Gedächtnis hat immer eine transzendentale Bedeutung, und in ihm muß uns unser über-zeitliches Wesen zum Bewußtsein kommen. Es ist doch klar, daß, wenn wir von irgendeiner Vorstellung als von einer Erinnerung, d.h. von etwas Vergangenem sprechen, diese "Vergangenheit" uns gegeben ist, und eben jetzt gegeben, in jener "Gegenwart", in der wir sprechen. Anders gesagt, muß der vergangene Moment der Zeit mir nicht nur als vergangener, sondern auch jetzt, als gegenwärtiger, gegeben sein, d.h. die ganze Zeit ist mir als ein gewisses "jetzt" gegeben, und daher stehe ich, der ich auf die ganze mir zugleich gegebene Zeit schaue - über der Zeit.
Das Gedächtnis ist ein symbolisches Schaffen. In die Vergangenheit versetzt, werden diese Symbole in der Ebene der Empirie Erinnerungen benannt; auf das Gegenwärtige bezogen, heißen sie Phantasie; in die Zukunft verlegt, werden sie als Voraussicht und Vorauswissen betrachtet. Aber das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige müssen, um in diesem Augenblick der Ort für die Symbole des Mystischen zu sein, trotz ihrer zeitlichen Verschiedenheit doch zugleich, d.h. unter dem Gesichtswinkel der Ewigkeit, erlebt werden: in allen drei Richtungen des Gedächtnisses stellt die Denktätigkeit die Ewigkeit in der Sprache der Zeit dar; der Akt dieses Aussagens ist eben das Gedächtnis. Indem das überzeitliche Subjekt des Erkennens mit dem ebenfalls üherzeitlichen Objekt in Gemeinschaft tritt, entfaltet es diese Gemeinschaft in der Zeit: das eben ist das Gedächtnis.
Somit ist das Gedächtnis - das schöpferische Prinzip des Gedankens, d.h. der Gedanke im Gedanken, der Gedanke im eigentlichsten Sinn. Dasjenige aber, was sich bei Gott "Gedächtnis" nennt - verschmilzt vollkommen mit dem Göttlichen Gedanken, weil in dem Göttlichen Bewußtsein die Zeit mit der Ewigkeit, das Empirische mit dem Mystischen, die Erfahrung mit dem Schaffen identisch sind. Das Denken Gottes ist vollkommenes Schaffen, und Sein Schaffen ist Sein Gedächtnis. Indem Gott gedenkt, denkt Er, und indem Er denkt - schafft Er.
[...]
Wir fragten, was die Sünde sei, und sie erwies sich als Zerstörung und Entartung. Aber die Zerstörung kann nur etwas Zeitliches sein; von dem Zerstörten genährt muß die Zerstörung unvermeidlich versiegen, aufhören und einhalten, wenn nichts mehr zu zerstören übrig bleibt. Und das gleiche gilt von der Entartung. Was aber dann? Wohin führt diese Grenze der Zerstörung? Was bedeutet die vollständige Zerstörung der Keuschheit? Oder, anders gesagt, was ist das Gehenna? - Das ist die Frage, welche sich jetzt vor uns erhebt.
Weiter aber zeigen sich noch die Umrisse einer dieser ähnlichen Frage. Wenn das Gehenna die oberste Grenze der Sünde ist, wo ist dann ihre unterste Grenze, d.h. wo erlischt die Sünde wiederum, diesmal aber wegen der Fülle der keuschen Festigkeit. Anders ausgedrückt, wir müssen uns darüber klar werden, was die Heiligkeit ist, und wie sie möglich sei. Das Gehenna, als oberste Grenze der Sündhaftigkeit, und die Heiligkeit als deren unterste Grenze, oder: das Gehenna, als unterste Grenze der Geistlichkeit, und die Heiligkeit als ihre oberste Grenze - das zu erörtern ist unsere nächste Aufgabe.

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff]

 

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