"alles ist im untergrund obenauf"

eine auswahl aus KONTEXT 1-7

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Torsten Metelka
229 Seiten / Format 210 x 150 mm
Klappenbroschur
Ê 10,10
ISBN 3-931337-02-2

 

 

Inhalt

Uwe Bastian ALTERNATIVE ENERGIEWIRTSCHAFT
Adolf Endler "... ALLES IST IM UNTERGRUND OBENAUF; EINMANNFREI ..."
Else Gabriel
TEXTE
Eberhard Häfner GEDICHTE
Jayne-Ann Igel TEXTE
Johannes Jansen DIE SPOTTKLAGEN DES ABSEITIGEN / ANDERER HALTUNG WEGEN...
Cornelia Jentzsch ELSE GABRIEL Auto-Perforations-Artistin / ITERATION
Gabriele Kachold [Gabriele Stötzner] DAS GESETZ DER SZENE
Antje Kaiser ASPEKTE VON NEUER MUSIK
Andreas Koziol TEXTE
Detlef Opitz FAITES VOS JEUX!
Bert Papenfuß-Gorek URLOGIK IM DIALEKTE
Sebastian Pflugbeil KINDER IM ATOMZEITALTER
Edelbert Richter
WARUM KOMMT ES IN DER DDR ZU KEINER DER SOWJETISCHEN ANALOGEN UMGESTALTUNG?
Benn Roolf DAS SPD/SED-PAPIER. Eine "Fehlersuche" oder der Versuch ein ungutes Gefühl zu rationalisieren
Rainer Schedlinski
... DENN DIE ZEICHEN SIND ÄLTER ALS DIE THEMEN. Zwei Kapitel aus einem Aufsatz zur Sprache
Michael Thulin [Klaus Michael] DIE DINGE BEGINNEN ZU SPRECHEN
Jakob Ullmann
WIRD SCHÖNBERGS PFEIL FLIEGEN? Zum Kolloquium "warum noch in die wiener schule gehen?"
Wolfgang Ullmann
HOFFNUNG ALS ERINNERUNG. Zur Stellung Ernst Blochs in der Geschichte unserer Zeit
Jörg Waehner
FERNANDO PESSOA. Ein Fragment / MEIN VATER IST EIN GESPENST. Heiner Müllers HAMLETMASCHINE /"SCHLAGT EUCH NICHT DEN SCHÄDEL EIN, ZERBRECHT EUCH LIEBER DEN KOPF". Heiner Müllers LOHNDRÜCKER / EIN MONUMENT DER TYRANNEI. Heiner Müllers LEBEN GUNDLINGS FRIEDRICH VON PREUSSEN LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI
Harald Wagner PERESTROIKA - HOFFNUNGSSCHIMMER ODER FATAMORGANA Gedanken zur widersprüchlichen Aufnahme der Umgestaltung in der Sowjetunion
Konrad Weiß
DIE NEUE ALTE GEFAHR. Junge Faschisten in der DDR
Yury Winterberg
SCHLITZE IN DIE CAPSULA INTERNA
Wolfgang Wolf/Thomas Klein WIRTSCHAFT UND PLANUNG IN DER DDR Ein ökonomie-historischer Exkurs
KONTEXT 1-7 Chronik

 

Der Sammelband dokumentiert ausgewählte Beiträge aus den Heften 1-7, die ersten beiden Jahrgänge der informellen Zeitschrift KONTEXT Beiträge aus Politik, Gesellschaft, Kultur. Das Projekt einer unabhängigen Zeitschrift in der DDR entstand im Sommer 1987. Als im Februar 1988 dann die erste Ausgabe des KONTEXT erschien, befand sich das Land gerade inmitten der Auseinandersetzungen mit dem damaligen Machtapparat, erinnert sei an die Übergriffe auf die Umweltbibliothek im November 1987 und an die Konfrontationen im Zuge der Luxemburg/Liebknecht-Demonstration im Januar/Februar 1988.
In jener Zeit wurde immer deutlicher, daß die Überwindung der herrschenden Verhältnisse weit über die Frage der rein politischen Auseinandersetzung, die Frage der Macht, hinausgehen und daß eine wirkliche Umgestaltung sich auf die soziale und kulturelle Tiefendimension, auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, erstrecken würde. Daraus entstand die Konzeption des KONTEXT, die versuchte, ungeachtet der tiefsitzenden Angst, die viele am Schreiben hinderte, positive Ansätze produktiver und freier Kommunikation aufzugreifen und zu fördern, authentische Analysen, Diskussionen, Aufsätze, Essays und Literatur durch Veröffentlichung aus ihrer marginalen Existenz herauszuführen. Die Breite der angesprochenen Themen, die Verknüpfung von Politik und Kultur mit Aufsätzen zur Philosophie, Ideologie, Naturwissenschaft und praktischen sozialen Problemen wurde als eine den Leser bereichernde Vielfalt empfunden. Ein anderes Ziel war der Versuch durch eine, für damalige Verhältnisse, relativ hohe Auflage (ca. 1000 Stück) eine DDR-weite Verbreitung zu erreichen, da vieles nur um Berlin herum kursierte und bekannt wurde.
Im Gegensatz zu den offiziellen, administrativ-blockierten Medien konnten im KONTEXT wirkliche Diskussionen um ganz reale Probleme dieses Landes geführt werden. Das allerdings hatte zur Folge, daß der Schutzraum der Evangelischen Kirche aufgesucht werden mußte, um überhaupt dieses Projekt durchgeführen zu können. Trotz danach einsetzender massiver Stör/Verhinderungsattacken seitens des Macht/Staatssicherheitsapparates, kam ein Heft nach dem anderen, in bewußt unregelmäßigen Abständen, und drei thematische Sonderhefte heraus. Ein Beirat wurde ins Leben gerufen, dem Peter Bickhardt, Martin Böttger (ab Heft 7 Ulrike Poppe), Elke Erb, Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß angehörten. Im September 1989 erschien das letzte Heft unter dem Dach der Kirche. Der Abschluß dieses Kapitels war gleichzeitig der Beginn (Oktober 1989) der Tätigkeit des KONTEXTverlages.

 

 


Adolf Endler "... ALLES IST IM UNTERGRUND OBENAUF; EINMANNFREI...". Anläßlich einer Anthologie (1)

1
Die von dem jungen Egmont Hesse herausgegebene Anthologie und Präsentation zehn "neuer" Poeten der DDR heißt schlicht und konzis SPRACHE & ANTWORT; ein auch für den nur in Ansätzen informierten Leser sofort einleuchtender Titel, der sprachphilosophischen und sprachpsychologischen Diskussion unter zahlreichen jüngeren Autoren der DDR gedankt, wie sie auch die Gespräche des Herausgebers mit den Autoren durchzieht, zuweilen verstiegen bis in
neo-mystische Exaltationen; ein vielstimmiger Diskurs (um das z.Z. wohl meiststrapazierte Fremdwort der "Szene" zu wiederholen), zu welchem die ursprünglich sprach-kritisch akzentuierte Verschärfung des Sprachbewußtseins, sicher auch ein politischer Vorgang, "in den auslaufenden siebziger Jahren" (Leonhard Lorek) um 1984/85 geführt hat: Er dauert unvermindert an... Obschon es aus naheliegenden Gründen keine scharfe Grenzziehung zwischen den sich allmählich herausbildenden verschiedenen Positionen gibt (wenigstens nicht "öffentlich"), kann man durchaus mit Peter Böthig von "semiotischen Kämpfen" sprechen, so lange man nicht vergißt, mit Gerhard Wolf auch der "Wortlust" einiger dieser Autoren Tribut zu zollen.

Der Untertitel der jüngst (1988) im S. Fischer Verlag erschienenen Anthologie dürfte weniger einhellig akzeptiert werden - im Westen, weil er manchem zumindest in ästhetischer Hinsicht kreuzbrav-konservativ gestimmten Literaturexperten das vertraute und so handliche Bild von der (im wesentlichen gleichfalls "konservativ", also von konservierenden ästhetischen Vorstellungen geprägten) literarischen DDR-Landschaft kaputt zu machen verspricht - man erspare mir, die Täler und Höhen solchen Gefildes bei Namen zu nennen -; in der DDR möglicherweise außerdem als Signal eines eventuellen "Bruchs" und einer Frontenbildung, welche den Gedanken auch an eine politische "Opposition" nahelegen, die wir bekanntlich auch dann nicht hätten, wenn wir sie hätten. (2)

(Um solchen Irrtümern oder Hoffnungen von vornherein vorzubeugen: Diese Anthologie ist keinesfalls ein Sammelplatz etwelcher aktivistischen politisch-artistischen Gegenpartei, nicht einmal der jewtuschenkoschen PARTEI DER PARTEILOSEN; kein Krawczyk, kein Rathenow: Sie ist nur insofern politisch, als jegliches ästhetische Scharmützel selbstverständlich auch seine politischen Bezüge bzw. Hintergründe hat.) - Kurzum, es wird das Beste sein, sich neuerlich zu einer west-östlichen Chorprobe unter der Stabführung Stefan Hermlins zu vereinigen: Vermutlich sei das keine "andere", sondern überhaupt keine Literatur, bestenfalls irgendetwas "Vorliterarisches" (im Unterschied etwa zu den Werken Ulla Hahns dort, Eva Strittmatters hier.)

Der Rezensent, in den Traditionen solcher korinthen-kackerischen quasi literarhistorischen Grundsatzentscheidungen "aufgewachsen" will gestehen, daß auch er den Untertitel zunächst als unter Umständen werbewirksamen Gag verdächtigt hat; nicht zu lange... Er wußte es ja vorher und sieht es nach einigen Anfangsschwierigkeiten bei der Lektüre bestätigt, was für Christoph Hein in einem Brief an Elmar Faber noch grüblerische Vermutung bleibt: "Hier trennen uns möglicherweise nicht nur verschiedene Ästhetik, sondern überdies andere Erfahrungen..." (SINN UND FORM 3/88). Ich wußte es vorher: Bert Papenfuß-Gorek (geb. 1956 in Stavenhagen), Rainer Schedlinski (geb. 1956 in Magdeburg), Sascha Anderson (geb. 1953 in Weimar), Stefan Döring (geb. 1954 in Oranienburg) und ihre Kompatrioten aus der Generation der heute Dreißig- bis Fünfunddreißigjährigen (re)präsentieren zweifellos eine "andere" DDR-Literatur, um die Bezeichnung noch zu verschärfen (und weil mich gerade wieder einmal der Teufel reitet).

Sie sind "anders" allein schon aufgrund des für die DDR unerhörten (und auch hierzulande noch kaum begriffenen) Fakts, daß sich eine ganze, inzwischen schon recht breit gestreute und an unterschiedlichsten Temperamenten reiche Literatur-Formation, eben diese, seit mehr als einem Dezennium (Sascha Anderson bezeichnet als "Konstituierungsphase" die Jahre von 76 bis 79/80), fern den Verlagen und ferner noch dem Schriftstellerverband und verwandten staatlichen Zugriff kontinuierlich weiterentwickelt und qualifiziert. (Was ihre wahrlich "anderen Erfahrungen" betrifft, erkundigt man sich besser bei der Volkspolizei als im Verband, der vermutlich an diesen Erfahrungen mitschuldig ist.) Diese Autoren (bzw. "Personen"), da man sie jetzt sporadisch auf- oder
wiederauftauchen läßt, nach dem ohnehin schon kuriosen Sprachgebrauch als "Debütanten" vorzustellen, ist entweder unverschämt und zynisch oder schlichtweg idiotisch; sie werden es kaum anders sehen, und sie werden deshalb auch Christoph Heins gut gemeinten Ratschlag an den Verleger Elmar Faber bestenfalls als etwas weltfremd empfinden, dieses: "Mit größter Behutsamkeit und fast ängstlicher Besorgnis aber sollten wir uns den Texten der neuen Generation nähern..." (Habe ich soeben ein höhnisches abweisendes Wiehern gehört?)

Entscheidender noch das "andere" unter solchen nicht immer gemütlichen Bedingungen nach und nach herausgebildete theoretisch-poetologische Selbstverständnis dieser Plejade, wie es sich in den seit 1980 florierenden zahlreichen in der Regel hektographierten little mags artikuliert, angefangen mit
Uwe Kolbes noch etwas ängstlich wirkender Typoskript-"Zeitschrift" DER KAISER IST NACKT, die im Mai 1981 den programmatischen Text des Herausgebers sehen ließ: "Der Kaiser ist nackt; das heißt:/ Weg mit der Ersatz- und Sklavensprache, das heißt:/ Verweigerung dem verlogenen Sinnschema, das heißt:/ Nachsehen, den Augen trauen, sagen, das heißt:/ VERANTWORTLICHES ALLGEMEINES GESPRÄCH..." (Glasnost 81?; ach, was wart ihr doch für liebe Kindsköpfe damals!) Kolbe heute: in SPRACHE & ANTWORT und an Frank-Wolf Matthies sich wendend: "Wo haben die uns hingebracht,/ wie lehren die uns schweigen,/ die deutschen Oberflaschen..."; und "Gib Feuer, Freund/ wir zünden die Eine gemeinsam an." No comment! Wie Kolbe vielleicht noch mit
einigen dünnen Strähnen dem sogenannten "Weltanschauungslyrischen" der mittleren Generation verknüpft sein mag, so gilt für die anderen so gut wie ohne Ausnahme: Schroffe Abwendung "von dem Rest der Literatur" in der DDR und "Verlust des klassischen intentionalen Bogens" (Schedlinski), Abkehr also auch von den ergebnisreichen klassik-orientierten ästhetischen Standards der sogenannten "Mittleren Generation" (der heute fünfzig- bis fünfundfünfzigjährigen Kirsch, Mickel, Czechowski usw.), welche sich demzufolge bei der Beurteilung der neuen Wellen nicht minder schroff teilt: Ein Sprannungsfeld, in dem sich die Ursache für manche unappetitliche wie absurde Kontroverse findet, trübe nachklingend in Heinz Czechowskis in den BIZARREN STÄDTEN 3 ausgesprochenen Einladung zu einer Kumpanei unter dem Motto "Mir san ja alle rechte Sünderlein" - man beachte den feinen Qualitätsunterschied zwischen dem "Sich-Vergnügen" hier, dem "Sich-als-Voyeure-Gebärden" dort! -: "Eigentlich leben wir alle/ In einem anderen Jahrhundert:
die einen/ Vergnügen sich/ Mit dem Zeitalter Goethes, die anderen/ Gebärden sich als Voyeure des Futurismus..."

Die unterschiedliche Tonlage der folgenden beiden Zitate - Czechowski verfehlt jedwede Adresse - sagt Genaueres über die tiefe Kluft, die sich zwischen hier und dort aufgetan hat. Der 1929 geborene Gerhard Wolf, der gleich dem Rezensenten die Poeten in SPRACHE & ANTWORT (und einige mehr) im Großen und Ganzen als die "eigentlichen" ihrer Generation empfindet, in seinen WIENER VORLESUNGEN von 1986: "Es läßt sich vermutlich nicht eindeutig begründen, warum zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, kaum vorhersehbar, junge Leute in der Kunst eine andere Tonart anschlagen, weil sie anders sehen und hören, anders empfinden und demzufolge anders schreiben ... als andere vor ihnen..." - Wie sehr anders, das demonstriert der 27 Jahre jüngere Rainer Schedlinski im Gespräch mit Egmont Hesse: "Ja, gerade in der ostberliner Lyrik der letzten Jahre gibt es viele Versuche, die Dinge in anderer Sprache neu zu denken... Papenfuß zerlegt die Sprache in kleinste monemische Einheiten, die sich dann untereinander, vom Text gereinigt, neu vermitteln lassen. Bei Döring finden digitalisierte, dialektische Kettenreaktionen statt, bei denen ein Wort das nächstliegende umbringt. Koziol arbeitet mit der Mechanik der Floskeln."

So hat bislang noch niemals ein Dichter der DDR über das Dichten gesprochen (und Schedlinski ist ein Dichter, und ein bemerkenswerter außerdem!); was nicht heißen will, daß uns derlei Sprache ganz und gar fremd wäre. Der Poststrukturalismus und neben ihm andere neu-gallische Denkschulen - regelmäßige Gaben des westberliner Merve-Verlages vor allem? - haben auf dem Feld der Theorie so gründlich und fast alles andere verdrängend Wurzel geschlagen, daß es einen schon wieder mißlaunig stimmen könnte. Bloch, Adorno, Benjamin, die kunsttheoretischen wie philosophischen Anzapf-Säulenheiligen unserer Generation auch in der DDR (obwohl dort verfemt oder aber nur in Bruchstücken bekannt gemacht), scheint es niemals gegeben zu haben. Stattdessen erlebt man eine Flut von Verweisen und zuweilen fast gläubigen Berufungen auf Lacan, Derrida, Foucault, Blanchot, doch nicht minder auf Deleuze und Guattari, gelegentlich auch auf Bataille.

Das gilt in verstärktem Maß für die vorliegende Anthologie, doch im allgemeinen auch für so gut wie alle Klein-Zeitschriften des über die ganze DDR verstreuten Kreises, darunter die berliner SCHADEN (hervorgegangen mit UNDSOWEITER um 1984 aus der einzigen polizeilich gestoppten, der dresdner UND Lothar Fiedlers), auf deren dreijährige Arbeit die Anthologie letztendlich zurückgeht. (Der Luchterhand Verlag legte eine Sammlung auf der Basis einer anderen dieser "Heft-Editionen" vor, wie sie Peter Böthig genannt hat, der SINN UND FORM des "Underground" namens MIKADO, länger als ein halbes Jahrzehnt herausgegeben von Lothar Trolle, Bernd Wagner und Uwe Kolbe. Die vergleichenden Analysen versprechen interessant zu werden.) - ariadnefabrik, DIE ZWEITE STIMME, ANSCHLAG, VERWENDUNG, undsoweiter (der favorite hit in den meisten der quasi Redaktionen müßte eigentlich "I'm In Love With Jacques Derrida" von Pop-Star Green Gartside sein...) Ich empfehle mit Nachdruck Schedlinskis "ariadnefabrik", in der auch sämtliche Autoren der Anthologie
SPRACHE & ANTWORT neben anders tickenden "publizieren".

Im Humus bzw. vor dem Hintergrund dieses Blätterwäldchens und von seinem Gezirpe und Rauschen begleitet, zeichnen sich freilich in letzter Zeit, und wie sollte es anders sein?, divergierende Wege ab, darunter einige, und auch das kann keinen verwundern!, die ins schwiemelige Abseits des Sektiererhaften und Dumpf-Provinziellen führen mögen. Auch die Anthologie SPRACHE & ANTWORT hält sich dann und wann in Richtung solcher sich verengenden Fahrtrinne. Es ist nur die eine und nicht übermächtige Seite in diesem Buch; auf der anderen erkennt man zunehmende Souveränität und Weltläufigkeit, kritisch-distanzierte Neugier gegenüber den Angeboten der Provinz wie des Erdkreises gleichermaßen (fast kaum Aktivismus, allerdings, außer ästhetischem); hin und wieder die Nase zugeneigt den wechselnden Auslagen des internationalen Supermarks der Wörter und Begriffe, den man ja im Sommer und bei kecker Laune auch als einen Abenteuerspielplatz der Sprache empfinden kann, nicht beängstigend nur, sondern faszinierend, ja, "anmachend" nicht minder ... eben Pop!

Weltläufigkeit und Souveränität - sie signalisieren sich (paradoxerweise?) auch in der Sichtung des engeren Umkreises, sofern sie der Ironie nicht enträt, z.B. im Sarkasmus eines längst fällig gewordenen selbst- und gruppenkritischen Statements "unter uns gesagt, aber behalt es für dich" (Bert Papenfuß-Gorek) über die derzeitige "Befindlichkeit" der PRENZLAUER-BERG-CONNECTION (Nachricht, nicht "Botschaft"), dessen lässige Schnoddrigkeit jedem Sekten-Bierernst als "Nestbeschmutzung" erscheinen muß:

1. ".........." (Nein, auf die so gern zitierte Mensching/Wenzel-Beschimpfungsstrophe möchte ich dieses Mal verzichten, zumal es sich im Zusammenhang mit diesem Thema eher um eine Auseinandersetzung - hört denn das nie auf? - mit einer immer schon einäugigen ("parteilichen"?), jetzt aber endgültig debil ("parteilich"?) gewordenen Literatur-Propaganda handeln müßte, die für einige Jahre Mensching und Wenzel sozusagen als jugendliche Musterhelden erkoren hatte, ein mittelmäßiges und in keiner Hinsicht innovatorisches Gedicht wie Menschings "Rosa-Luxemburg"-Memorial, "kühn" bestenfalls für beschränkte Alt-Stalinisten, bei jeder Féte vorzeigend als gezinkte Trumpfkarte; und es gibt wahrlich interessantere Texte von Mensching/Wenzel und Mensching mag es manchmal selber kühl den Rücken hinuntergerieselt sein...)

Also 2.: "... im untergrund haben alle einen schatten/ alles wird angerissen & mitgeschnitten/ sagt man; man sagt, alle sind im widerstand/ in mißverstand & wohlgefallen/ unumstritten sascha anderson/ leicht angegangen aber unverrissen/ der treffliche stefan döring/ den uwe kolbe die scheidung der gemüter trifft/ im untergrund steht mein schwanz/ so scharf, alle sind geradezu im untergrund/ der groupietherapie in die krisis entronnen/ die unserem alter auch zukommt, aber noch/ vor einer strukturanalyse flieht & fleht/ der existenzbolschewismus möge ausbrechen /: wer fühlt - fehlt, wer fehlt - fällt/ wenigstens auf & sei's auf die beine// alles ist im untergrund obenauf; einmannfrei..." Zeilen aus einem der sicher leicht-gewichtigeren Texte von Bert Papenfuß-Gorek, allerdings deutlicher als manches andere der aktuellen literarischen Schulaufgaben dieser Generation auf der Spur: die strapaziöse Ambivalenz zu formulieren, die das Leben und Denken dieser Autoren seit einigen Jahren mitbestimmt... (Wir kommen darauf zurück.)

Nebenher, auch Papenfuß könnte sich leicht auf Deleuze berufen, auf jenen Deleuze, wie ihn Schedlinski in seinem Gespräch mit Hesse kurz streift: "Deleuze und Guattari entwarfen eine ,rhizomatische' Struktur des Diskurses, in der jeder Punkt mit jedem verbunden werden kann..." Es ist ein Deleuze, dem auch der intellektuelle Karneval nicht fremd ist und wie er z.B., vorbereitet durch die Aufnahme Nietzsches in die bretonsche ANTHOLOGIE DES SCHWARZEN HUMORS, zu sagen den Mut findet: "Wer Nietzsche liest, ohne zu lachen, ohne häufig und zuweilen wie verrückt zu lachen, für den ist es so, als ob er Nietzsche nicht läse..." (Wird das die dunstumwaberte und tödliche alt-germanische Tiefgründelei jemals begreifen?) Ja, auch Papenfuß ist womöglich zu den "Leuten mit ,D-&-G-Kick'" zu zählen, wie sie genannt worden sind...

 

2
Und auch das wird man wieder hören: "So etwas hatten wir hier in Koblenz vor über zwanzig Jahren schon 'mal!", so wie es z.B. die Wiener Gruppe vor über zwanzig Jahren schon 'mal zu hören bekam. (Als ob auch nur das früheste der Programme und Konzepte der sogenannten Moderne als "endgültig
abgegolten" ins Schubfach getan werden könnte - so sehr der deutsche Ordnungssinn dazu neigt -; und die sogenannte "Postmoderne" tut es, trotz gegenteiliger Behauptungen, erst recht nicht...) Im Fall des Bert Papenfuß-Gorek, paradigmatisch in vielerlei Hinsicht, könnte man sogar munter erwidern: "Ja, gewiß, und vor fünfhundert Jahren hatten wir's auch schon 'mal!" - Karl Mickel, diesen neuen literarischen Phänomenen gegenüber aufgeschlossen wie kein zweites Akademie-Mitglied, über die Sprache des von ihm hoch geschätzten Papenfuß: "... um jedes Wort lauert ein mehr oder weniger großes Rudel anderer Bedeutungen..." Einige Jahre vorher Ute Nyssen: "Der Versuch, den speziellen Sinn einer Vokabel innerhalb des Kontextes zu fixieren, führte zu der
Entdeckung, daß die Wörter... bewußt gerade in der Komplexität ihrer Bedeutung eingesetzt sind. Daß es für ihn Eindeutigkeit des Wortes nicht gibt, wird evident vor allem in seinen Wortspielen..." Diese zweite Äußerung gilt indessen nicht Papenfuß; sie stammt aus der Vorbemerkung zu der westdeutschen Ausgabe der GESCHICHTSKLITTERUNG von 1964, jener exzessuösen frühesten Rabelais-Übersetzung von Johann Fischart (1547-1590). Das die beiden Zitate aufeinander zuspringen wollen, ist ganz und garnicht Zufall...

Papenfuß ein moderner Fischart? Man müßte es als ein ästhetisches Phänomen von Bedeutung erachten, wenn eine untergründig durch die Jahrhunderte weiter schwärende frühbarocke Literaturtradition - wer kennt schon Johann Fischart? - in einem jüngeren Poeten der DDR (auf zunächst unerklärliche Weise und scheinbar durch Nichts vorbereitet) ihre Wiederauferstehung feiern würde. (Man lese probeweise in den Fischart-Seiten des DEUTSCHEN LESEBUCHES
von Stefan Hermlin nach.) Jedenfalls, in gewisser Weise "von unten" kommend - wie vor fast dreißig Jahren Uwe Greßmann -, und mitgeprägt von den Bräuchen und von der Sondersprache "ddr-spezifischer" Ausläufer der sogenannten "Jugendkulturen", zu denen er sich zeitweilig demonstrativ bekannt hat - siehe den in Westberlin erschienenen Gedichtband HARM -, scheint er keinesfalls in besonderem Maße von aktuellen Lyrik-Trends "im Westen" mitgerissen
worden zu sein, auch "experimentellen" nicht, für deren Charakterisierung in der DDR letztendlich immer nur der Name Ernst Jandls herhalten muß. "Er kannte ihn nicht" (nämlich Jandl), resümiert Elke Erb lakonisch ein diesbezügliches Gespräch mit dem Dichter, das um 82/83 stattgefunden haben muß. Natürlich hat er ihn später sogar persönlich kennengelernt; solche Dichter ziehen sich gegenseitig an; und Ernst Jandl hat den Begleittext zu HARM verfaßt und Papenfuß darin als einen "Dichter ersten Ranges" bezeichnet; wenn er es noch nicht sein sollte, auf dem Wege dahin ist er sicher, sogar nach den Vorstellungen früherer Jahrhunderte neuerdings, da er zu saga-artigen Großgebilden, zum epischen Gedicht gekommen ist - es ist die abseits der Klassik-Alpen zu einem ganz anderen Himalaya führende Strecke, die auch schon Döblin mit seiner epischen Dichtung "Manas" und anderem genommen hat und auf der man auch Chlebnikow findet. Männer mit einem "dritten Auge" gleich Papenfuß -, da er schließlich den welten- und zeitenumspannenden
Bewußtseinsprospekt, Collage plus Cantos ezra-poundschen Anspruchs ins Auge faßt: Siehe vor allem die letzten beiden Jahrgänge der "ariadnefabrik"! Zur besonderen Farbe oder Musik der Papenfußschen Ariadnefabrik: Woher nur sein spökenkiekerisch-ahnungsvolles Interesse an Keltischem?, an den Wikingerzügen neuerdings?, und in solchen Zusammenhängen an Speziell-Mecklenburgischem? Wollte er vor Jahren nicht einmal nach Irland auswandern, als wüßte er dort seine eigentliche Heimat? Allerlei Rätsel - und phantasy und science fiction spuken (spöken?) auch in der Nähe herum (wiederum wie bei Döblin)...

Nein, Jandl kannte er nicht, aber er "kannte" zum Zeitpunkt des von Elke Erb erwähnten Gesprächs schon längst einen anderen, ohne es zu verraten (und ähnlich verrückte Erlebnisse halten auch andere der Generationsgefährten Papenfuß-Goreks für den forschenden Leser parat), er "kannte", und nicht nur soso, in der Tat Johann Fischart. (Der Rezensent auch hat erst während der Niederschrift dieser Zeilen die mit Recht als etwas billig oder anrüchig geltende "Herkunfts"-Frage gestellt, und diese schien mehr als abwegig: "Mh, kennst Du eigentlich Fischart?" Prompt: "Ja, natürlich!") Um zum spannenden Kulminationspunkt dieses "Heureka"-Krimis zu kommen: Die Prosaschriften - vielleicht auch das eine oder andere Gedicht? - des wahrhaft kostbaren Manns
aus dem 16. Jahrhundert zählen zu den ganz großen frühen Lese-Erlebnissen Papenfuß-Goreks. Irre Vorstellung: Da sitzt ein Siebzehn- oder Achtzehnjähriger in abgelegenem DDR-Winkel und liest sich ("Leseland DDR!") an Johann Fischart die Ohren blutrot - derlei sollte Hesse nun doch nicht, wie er es tut, aus dem lockersten Handgelenk heraus von sich wegwedeln -, und liest ihn, um ungläubigen Fragen zuvorzukommen, "in den Ausgaben, die es da 'mal in zwanziger Jahren für die Germanisten gab, you remember..."; und konsultiert ihn "immer 'mal wieder bis heute..." - Karl Mickel hat sicher mit gleich großem Recht u.a. den irrwitzig genialen Quirinus Kuhlmann zu den geistigen "Vätern" Papenfuß-Goreks gezählt und außerdem auf die Zweite Schlesische Schule verwiesen.

Selbstverständlich erklärt das nicht "alles"; und es findet sich auf Erden außer Poesie und Literatur und Kunst noch mancherlei anderes, wie bekannt (ob es vielleicht auch nicht zu gerne bekannt gemacht werden möchte zum größeren Teil). Trotzdem: Man liest das Gespräch Papenfuß/Hesse mit geschärfteren Sinnen, wenn man nicht ausschließlich das "Moderne" als Bezugsfeld im Kopf trägt (sicher, man könnte Fischart als einen Joyce des Barockzeitalters begreifen); die Seiten, auf denen Papenfuß ganz spontan sein Verhältnis zur Sprache, zu den Wörtern darlebt - eine frühe Betrachtung zu seinen Gedichten hatte unter der etwas irreführenden Überschrift LINGUISTISCHE GEDICHTE gestanden -, gehören für mich zu den Höhepunkten des Bandes SPRACHE & ANTWORT: "Ich bin kein Philologe und kein Linguist... Ich interessiere mich natürlich für die Etymologie, aber nicht in jedem Falle, und ich glaube auch dann nicht landläufig wissenschaftlich..." - In einem früheren Gespräch hatte es geheißen: "... landläufig ist sowieso ein ganz herrliches Wort, land-läufig..." (Das
dürfte ja der "Skepsis" Egmont Hesses gegenüber der Sprache diametral entgegengesetzt sein.) - "Ich spreche über'n Text, den ich noch nicht geschrieben habe..." Und jetzt passiert's (nämlich die Zündung mittels des hier ganz beiläufig - auch'n ziemlich trächtiges Wort, nicht wahr? - herbeigepurzelten "landläufig"), es passiert, was Gerhard Wolf zu der Bemerkung veranlaßt hat, dieser Dichter schreibe "die Wörter nicht nur bei ihren Wurzeln packend, sondern ihren selbstständige Zweige, ja, Flügel verleihend..."; mit unterschiedlicher Verve, mit wechselndem Glück, ja, gewiß. Papenfuß: "... als mir das Wort auffiel, war eben dieses Bild vom LANDLOPER da" - das Bild von Bosch -, "ein anderer Aspekt ist die Läufigkeit, also Geilheit, in diesem Sinne wohl Geilheit auf 'was Neues (landläufig auch Neugier genannt), vielleicht auch läufig in dem Sinne, daß man Altes nicht verdauen will und kann und sich deswegen Neuem zuwendet. Läufigkeit ist mit negativen Aspekten belastet, läufig wie eine Hündin ... läufig - geläufig, diese Eingeschliffenheit... Hier sind Notizen, die sich auf Mittelalterliches beziehen, die, wenn ich den Text überhaupt schreibe, gar nicht drin stehen müssen, hier steht z.B. ,Hanfkrause' und ,Holzstoß', mit einer Hanfkrause wurden Hexen oft gebrandmarkt, ihnen wurde eine Hanfkrone aufgesetzt..." Naja, undsoweiter, undsoweiter; man muß es lesen. (Ach, und welch schlimme Wut arbeitet auch in dem allen!) Papenfuß an anderer Stelle und summierend: "Der Aspekt der Attacke gegen Konventionen ist mir ebenso wichtig wie der Aspekt der Tiefe, des Verwurzeltseins."

Anschließend kann die Anthologie - zu selten solcher direkte Bezug zwischen poetologischer Erörterung und Text! - fünf der Gedichte mitteilen, die obigem (nur schwach angedeuteten) Gedankengang bzw. Assoziationsgebrodel entsprossen sein werden: eins mit dem Titel "Der allzulängliche Landlauf"; dann "Kavashili-,landlauf'-Mantra"; dann "The Continental ,Landlauf'", gleichsam ein barockes Lied: "wan ich ein fant gewest/ wan ich den knüttel schwang...";
dann "Landlauf aus Liebe" mit der schwer zu vergessenden Anfangszeile "unumgang geht um" (unumgänglich?), ein winziges geradezu "Volksliedhaftes" aktueller Couleur - ja, wenn schon Liedchen trällern in dieser Zeit, dann, bitte so: "unumgang geht um/ flucht, die heimsucht/ was sich entsponnen/ ist nimmer zu entspannen/ wohl habe ich dich gehabt/ gehabe dich wohl, habe ach/ zeit verloren, lieb' & gut/ & uns in unehren verlassen..." Verhaltenes, nein, wie fast Ersticktes und dieses Mal doch in Jandl-Nähe, spürbarer Frust - der Grund "privater" Gram, in den auch wieder die "Staatsgrenze" hineinspielt -, nur wenig an den frenetischen Sprachschöpfer Papenfuß erinnernd, wie er an anderer Stelle dann wieder zum Zug kommt mit "Läufen" wie diesen: "ich klaube, was ich klaute, klobe, was ich glaubte/ klitterte, was ich creierte, kliere" - cleare? - "was ich fühlte/ klotze ran, trage auf, trickse rum, betrüge tricks..." - Ein weiterer Text der "Landläufig"-Serie ist dem Thema "des landlaufs niederschlag" gewidmet und stößt auf die Barriere der "heiklichkeit der banalyse"; am Ende hat sich das Thema peinlicherweise in "des niederschlags landlauf" verwandelt, und was Barriere war - "die heiklichkeit der banalyse" - hat sich durchgesetzt und triumphiert als Titel: Eine Niederlage offenkundig, von der hier gehandelt wird...

Das Gespräch Egmont Hesses mit Papenfuß und solche Beispiele machen verständlich, weshalb sich Papenfuß, obwohl es manchmal so aussehen mag, auf keinen Fall als Sprach-Experimentator bewertet wissen möchte: "... das ist mein Leben, mit dem ich experimentiere..." Es dürfte zudem erahnbar geworden sein, daß für Papenfuß-Gorek und die Seinen ein Bruch mit den in der DDR dominierenden ästhetischen und poetologischen Konventionen unumgänglich geworden war (und ist). - Mit Opas METRIK in der Hand, kommt man nimmermehr durch dieses Land. - Bert Papenfuß-Gorek spricht im Sinne der meisten seiner Generationsgenossen, wenn er von einem poetischen Gebilde Kunde gibt, "das statt auf versen/ auf rhetorischen einheiten fußt"; womit er schwerlich
Bezug nimmt auf Brechts ähnlich begründete "gestische Schreibweise", sondern sich eher in der Nähe solcher Poetiken wie der Charles Olsons aufhält, ausgehend von der beklagenswerten "Abtrennung des Verses von der Stimme" - nicht zu vergessen, daß Papenfuß auch in Punk- oder Popgruppen mithält -, oder nicht allzu weit von den halb vergessenen und durch Manches im PHANTASUS diskreditierten Theorien von Arno Holz. Sascha Anderson hat es jüngst bei der Verleihung des südtiroler (!) N. C. Kaser-Preises an Papenfuß auf die etwas zugespitzte Formel gebracht: "Bert Papenfuß-Gorek schreibt nicht, er spricht..." - Vielleicht hätte Volker Braun in seinem Rimbaud-Essay besser vom "Mundbetrieb" der Moderne sprechen sollen? ... Auweia!, das möchte ich lieber nicht weiter ausarbeiten; das wäre ja noch viel häufiger von jeder verstimmten Arschgeige wiederholt worden...

 

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Ein Gegenbeispiel: Rainer Schedlinski, weder ein Dichter barocken Wortgepräges noch der Dada-Kabbala (wie gelegentlich der "zerrissene" Andreas Koziol), eher einer des vorsichtigen und "zurückgenommenen" Tons; von den ganz entblätterten und winterkahlen Texten dieses auch gerne theoretisierenden Autors, von den extremsten Stücken Schedlinskis, die sicher einer Grundtendenz bei ihm entsprechen, teilt SPRACHE & ANTWORT leider so gut wie nichts mit: "das fenster ist geöffnet/ der hund bellt nicht/ das wetter ist ernst..." - Es sind Zeilen, wie sie neulich ein gewisser Michael Thulin in der "ariadnefabrik" (IV/87) als Ausgangspunkt eines partiell nicht uninteressanten, wenn auch zu einsträhnigen Essays gewählt hat - "die dinge wollen nicht mehr. sie haben ihren zusammenhang aufgekündigt" -, welcher dem "dezentrierten subjekt" in Schedlinskis Poesie nachzuspüren verspricht. Bis zu der eigentlich entscheidenden Frage gelangt er allerdings nicht, was der Widerspruch zu bedeuten hat, daß von Schedlinski - wie von achttausendneunundachtzig weiteren Dichtern der Moderne - vom "destruierten Subjekt" u.ä. auf eine Weise gehandelt wird, die jeweils "unverwechselbar" ist, den Poeten also doch wieder als eigentümlich und als besonderes "Subjekt" erkennbar werden läßt. (Ein Widerspruch, den auch bereits die Surrealisten auflösen wollten; in diesem Punkt zumindest letztendlich "Verlierer".) - Selbst ein so radikales Gebilde wie die fünf Zeilen "Sonntag" Philippe Soupaults von 1919 hat (gleich den Arbeiten Schedlinskis) sozusagen seinen ganz "eigenen Charme": "Das Flugzeug häkelt Telegraphendrähte/ Und die Quelle singt das gleiche Stück/ Beim Treff der Kutscher ist der Apéritif orangen/ Aber die Lokomotivführer haben Augen die weiß sind/ Diese Dame ließ ihr Lächeln im Gebüsch" - Es könnte ergiebig sein, die merkwürdige Wortwahl Schedlinskis ins Auge zu fassen: "das wetter ist ernst/... ernst sind die äcker & ernst/ die häuser vor den äckern...", undsoweiter.

Schedlinski, der wie alle seine Generationsgefährten mit Recht sehr Unterschiedliches ausprobiert, ist vielleicht nicht ganz so leicht auf einen Nenner zu bringen, wie Thulin meint. Kein Verächter des poetischen Bildes (wie etwa Rozewicz in seinem wiederum recht widerspruchsvollen "Haß" auf die Dichtung), scheut er - eigentlich im schroffsten Kontrast zu der oben zugestandenen "Grundtendenz" - nicht einmal vor der Verwendung allerfettester Reizworte zurück, z.B. vor den alt bewährten vokalreichen Farbsignalen (wie er auch mit effektvollen Wiederholungen operiert), so am Schluß das geradezu expressionistischen Textes "diese katholische erotik"; ein Gedicht, dessen erste "Strophe" allerdings geprägt wird von Formulierungen, wie sie eigentlich der polemischen Essayistik entsprechen: "diese katholische erotik/ gipsgeflickter tugendallegorien/ unter kummerbögen/ (steissjungfern & säulenheilige)/ erotik die die ewigkeit gähnt..." Drei "Strophen", und jede folgt einem anderen stilistischen Grund-Gestus - war derlei mit dem Hinweis auf das "destruierte Subjekt" auch gemeint? -, dem polemisch-essayistischen in der ersten folgt der eigentlich "expressionistische" in der zweiten, an deren Beginn sogar ein Gedicht aus der
MENSCHHEITSDÄMMERUNG, Rudolf Leonhards "Der tote Liebknecht" (bewußt, unbewußt, ironisch?) paraphrasiert wird - "Seine Leiche liegt in der ganzen Stadt, in allen Höfen, in allen Straßen" - nämlich so: "einer umgefallenen gittertür schmiedeeiserne seeligkeit/ liegt über der ganzen stadt..." In der dritten "Strophe" aber kommt's noch erheblich sämiger: ein noldesches Farbenbukett - man könnte auch an die Farbexperimente Adolf Hölzels denken -, dessen Zusammenstellung nebenher ein Licht wirft auf die Struktur auch der kargeren Texte Schedlinskis: "wenn doch die toten nicht so schief schliefen/ denk ich bei mir/ schwarzer vogel, blasser stein/ blasser stein/ blasser tag, roter schuh/ die geschichte, schwarzes stroh." - Das alles muß einen natürlich daran
erinnern, daß Schedlinski neben Sascha Anderson mit zahlreichen erfreulich unkonventionellen Aufsätzen über neuere Bildende Kunst so etwas wie der Däubler bzw. Apollinaire dieses Feldes zu werden versucht; auch das könnte offene oder indirekte Auswirkungen auf die Sprache seiner Poesie haben.

Ein Friedhofs-, ein Stadtgedicht, ein "Weltanschauungsgedicht" gar, über das man streiten mag (vor allem im Hinblick auf die stilistischen Brüche; aber sind es "Brüche"?); ihm müßte ein so geschlossener Text wie das Landschaftsgedicht "schleinitz" entgegengehalten werden (eines der Gedichte Schedlinskis, die dem Rezensenten die liebsten sind), leider nicht in SPRACHE & ANTWORT zu finden, sondern im LUCHTERHAND JAHRBUCH DER LYRIK 1987/88 (möglicherweise die "Beschwörung" einer Kinderlandschaft und somit eines weiteren Moments literarischer"Herkunft"), nicht "expressionistisch" dieses Mal - man erlaube mir, die Parallelen zur Bildenden Kunst weiterzuspinnen! -, sondern näher den Ideen des Kubismus: "ernst sind die äcker & ernst/ die häuser vor den äckern/ die hecken sind/ ernst & gezeichnet// die quadratischen höfe/ ihre rigorose geometrie/ ins fleisch der äcker geschnitten, stumm/ ziehst du deine diagonale// von stall zu stall/ über den kopfstein/ des hofes ernst & stumm/ & gezeichnet steht der/ holunder hinter dem hof/ beginnen die äcker & hecken, ernst -..." Wahrscheinlich hat Michael Thulin solche Gebilde gemeint, als er geschrieben hat: "In den neuen Texten Schedlinskis geht die Einheit des Poetischen auch von der Einheit der beschriebenen Gegenstände aus. Ortschaften und Landstriche werden darin zu den verläßlichen Dingen der Sprachgebung..." (Blanker Unsinn, über den man nicht allzu lange nachdenken darf: Eine neue Realismus-Theorie? Nur gut, daß wir in der DDR noch so 'ne
verläßlichen Landschaften haben; das hilft einem doch, die Demolierung des Subjekts leichter zu verschmerzen... Die Stelle erinnert einen fatal an Hesses Consens-Nonsens: "Heute halte ich es für entscheidend und wichtig, die Dinge in ihrer Deutlichkeit auszusprechen...") Nein, "schleinitz" erweist sich auf den allerersten Blick nicht als eine reale, sondern als eine interpretierte Landschaft, als poetische "Erfindung". Wertende Wörter wie "ernst" und erst recht
"gezeichnet" verbieten von vornherein solche Interpretation. Die Verse haben sogar etwas Wortspielerisches, in spannungsreichem Kontrast zum beschworenen Super-"Ernst" der Landschaft, durchaus geeignet, den Leser auf subtile Weise ironisch zu stimmen... (Noch einmal das Stichwort: Ambivalenz! Wir kommen darauf zurück.) 3

Michael Thulin, Bezug nehmend auf eventuelle Reaktionen auf Schedlinskis Gedichte - denkt er an Kurt Scharf, dem Schedlinskis Texte nach seinem Geständnis in dem Bändchen RECHT STRÖME WIE WASSER nichts als "Orakel" geblieben sind, - denkt er an jenen begeisterten Johannes-R.-Becher-Leser in Großhänichen bei Bautzen? -: "Der seinen herkömmlichen Vorstellungen verpflichtete Interpret reagiert ... mit Unbehagen..." Mit was für Leuten hat Thulin eigentlich zu tun? Dieser archetypische "Interpret" reagiert schon 1912 auf Benns "Morgue"-Gedicht "mit Unbehagen", und zehn Jahre später auf T.S. Eliots "The Waste Land" ebenso, und wieder zehn Jahre danach auf e.e. cummings' "W (ViVa)" nicht anders; undsoweiter, undsoweiter. Und die Texte von Schedlinski sind keineswegs kühner oder heikler, eher mildtätiger... "Er vermißt" - ja, es muß doch an den Johannes-R.-Becher-Leser drunten in der Oberlausitz gedacht sein - "das 'eigentlich Lyrische' in ihnen..."

Soll dieser Idiot von "Interpret" es vermissen zu seinem eigenen Nachteil!; wir vermissen es nicht... Höchstwahrscheinlich soll dem Leser mit dieser "Interpreten"-Fabel suggeriert werden, es handle sich bei den Schedlinski-Texten um einen geradezu ungeheuerlichen künstlerischen Vorstoß; davon kann indessen z.Z. die Rede noch nicht sein. (Sollte es uns nicht reichen, daß es sich um nichts anderes als um beachtliche, z.T. sogar um delikate Sachen handelt?) "... in einem Anflug lethargischer Sachlichkeit wird alles von der lyrischen Bühne gekehrt..."; schön gesagt von Michael Thulin, wenn auch nicht "alles", wie gezeigt worden ist, von der Bühne fliegt; aber die Geste zumindest wird bei der Lektüre der Schedlinskischen Gedichte oft spürbar (wie nicht weniger häufig bei Döring), und manchmal nähert sie sich der abwinkenden des späten Benn und dessen melancholisch-illusionslosem Weltverständnis: "Fragen, Fragen! Erinnerungen in einer Sommernacht/ hingeblinzelt, hingestrichen,/ in meinem Elternhaus hingen keine Gainsborougs/ nun alles abgesunken/ teils-teils das Ganze/ Sela, Psalmenende." (Gottfried Benn, 1954) O glimmender Schmelz des poetischen Nihilismus! Sicher klingt es - wie könnte es anders sein? - bei Rainer Schedlinski weniger süß, kantiger (ein Benn-Epigone ist er keinesfalls): "am ende meines lateins/ stand ich schlußendlich/ vor dieser monitorwand/ aber auch das war nur so/ eine nutzlose wahrnehmung".

Weshalb sollte das "unlyrisch" anmuten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts? Und wenn es schon keine Lyrik ist, dann ist es doch zumindest Poesie (hihi) - wie das wichtige, weil weiter gehende "sicher funktionieren die modelle", mitgeteilt in der "ariadnefabrik" (IV/87), Essayismus plus Collage-Technik, und auch hier fällt einem wieder Benn ein, freilich nicht minder so Manches in der englischen und amerikanischen Literatur (obschon neuerlich ein Franzose, nämlich Raymond Roussel beschworen wird): "sicher funktionieren die modelle die s/ ender schneiden den raum urbi et orbi/ aber die zeit ist mit raymond roussel/ unterwegs ihren personalausweis bitte/ bitte alles trifft ein wie die geister/ kolonnen schwarzer limousinen am abend..." (Nur wenige Zeilen als Signale eines sehr viel umfangreicheren Textes, vor allem auch deshalb hier notiert, um kein allzu enges Bild von den Bemühungen Schedlinskis und seiner Freunde entstehen zu lassen.)

 

4
SPRACHE & ANTWORT ist bereits die dritte repräsentative Anthologie dieser "anderen Literatur aus der DDR" nach einer schon zehn- bis zwölfjährigen Entwicklungsgeschichte des Feldes. (Aber möglicherweise ist SPRACHE & ANTWORT überhaupt nicht als Anthologie gedacht, sondern als ein Buch der "Gespräche" Egmont Hesses, dem die Texte der Autoren lediglich als Belegstücke beigegeben? In diesem Fall wäre eine zweite und um Nuancen schwärzere Rezension zu schreiben.)

Die erste dieser Sammlungen, von Sascha Anderson u.a. zusammengestellt, ist allerdings Manuskript geblieben; nach vielem Hin und Her um 1980 als "Arbeitsheft" der Akademie der Künste geplant, hatte sie vor allem Unterstützung durch Franz Fühmann erfahren. (Nach allem, was erzählt wird muß Fühmanns Haltung ungefähr der entsprochen haben, die Karl Mickel 1984 im Nachwort zu den Gedichten seines Freundes Bernd Dieter Hüge eingenommen hat: "Hüges jüngste Gedichte, argwöhne ich, sind auf dem Wege vermutlich am ehesten dort, wo ich sie nicht verstehe... Vielleicht haust, was mir verschlossen ist, in einer Kunstsphäre, die sich erst bildet: will ich denken..." (Geradezu mutig: Ich möchte ein einziges Mal einen unserer Staatsrezensenten bei solchem Eingeständnis ertappen...) Trotz Fühmanns Bemühungen ist dieses Werk mit dem kennzeichnend extravaganten Titel EINSAME AUGEN IN AUGENHÖHE WIE STREUNENDE HUNDE IM WORTSCHATZ dann doch noch am Veto der reaktionären Kamarilla in der Akademie gescheitert. (Auch in diesem
steckengebliebenen Buch findet man neben vielen anderen schon die Namen von sechs der zehn Autoren von SPRACHE & ANTWORT: Sascha Anderson, Stefan Döring, Uwe Kolbe, Leonhard Lorek, Gert Neumann, Bert Papenfuß-Gorek.)

Die zweite dieser Anthologien, ein erheblich breiteres Spektrum erfassend als die vorliegende, ist unter dem schon ein wenig schlichteren Titel BERÜHRUNG IST NUR EINE RANDERSCHEINUNG 1985 in Köln erschienen; ebenso häufig abgelehnt wie begrüßt.

SPRACHE & ANTWORT zeigt im wesentlichen die darauf folgende Phase, hauptsächlich an einigen Kern-Autoren der Klein-Zeitschrift SCHADEN demonstriert. Exemplarisch im Hinblick auf wesentliche Momente der Weiterentwicklung ein nur bei flüchtiger Betrachtung "verspieltes", in Wirklichkeit ungemein strenges und gerade durch seine Diszipliniertheit (in Spannung zum Wortspielerischen) fast unheimliches Gedicht aus der Feder des (im doppelten Sinn) hervorstechenden Stefan Döring; Verse - und es sind Verse! -, bei deren Lektüre sich wohl keiner mehr an die Intentionen Nicolas Borns erinnert fühlen wird (wie es nach Kenntnisnahme älterer Arbeiten Dörings dem sympathisierenden Gerhard Wolf geschah). - Das Gedicht ist "wortfege" überschreiben, und es geht so: "weinsinnig im daseinsfrack/ feilt an windungen seiner selbst/ wahrlässig er allzu windig// im gewühl fühlt er herum/ und windet sich nochmal heraus/ fund, kaum geborgen, bloss wort// wasser, lauernd, von wall zu wall/ die spiegel mit fellen überzogen/ wetter, uns umschlagend, dunst". Und dann, und man schaue scharf hin: "die gewährten fegt es hinüber/ die bleibenden gefahren erneut/ der sich herausfand währt dahin". - Das Hier und Heute mit seinen Ambivalenzen auf den Punkt gebracht!

Man kann diese "Wortfolge", "Fortwege", "Wortfege" des Herrn Döring alias "Weinsinnig im Daseinsfrack" als ein Parallelgedicht zu Papenfuß-Goreks lokal orientiertem "Befindlichkeits"-Statement "unter uns gesagt" lesen oder auch zu Schedlinskis gleichsam kosmopolitischem "sicher funktionieren die modelle" (ja, die Modelle, wie sicher sie funktionieren!); in der Tat, es scheint die Zeit für solche erfahrungsummierenden Bekundungen zu sein (bei anderen Autoren dieser Gruppe findet man sie in modifizierter Form ebenfalls), erstaunlich (und begrüßenswert), daß sie nicht auf vordergründige Weise zu "Abrechnungen" werden (womit sie das Zwielichtige der Zeit ja auch verfehlen würden); das ändert nichts an der tiefen Betroffenheit, die sie beim aufmerksamen Leser hinterlassen müssen... Was die Verse Dörings betrifft: es erübrigt sich eigentlich, auf die an manche Effekte in den Bildern M.C. Eschers erinnernden sofort assoziierten Doppel- oder Dreifach-Bedeutungen der Wörter, Sätze, Bilder zu weisen (weit hinausgehend über das nur Neckisch-Sprachspielerische), auf die "Gefährten", denen es "gewährt" wurde, "hinübergefegt" zu werden, mein Gott!, auf die Schlußzeile schließlich, die das Gegenteil ihrer Bedeutung mit sich führt: "der sich herausfand währt dahin"; die Klette daran: "der sich herauswand fährt dahin" - betont noch einmal den Ernst des Anliegens durch den in diesen Vers hineinwinkenden Schlußsatz der büchnerischen "Lenz"-Novelle: "So lebte er hin..." (Funde solcher Qualität sind in dieser Anthologie nicht zu viele, aber doch einige zu machen).

Ein (seit Längerem vorbereiteter) Einbruch des Anagrammatischen, auch der den Arno-Schmidt-Fans so vertrauten "Verschreib-Technik" usw.; und nicht nur Stefan Döring ist von ihm gezeichnet (der übrigens zur gleichen Zeit auch die Techniken des "Cut-up" ausprobiert, inspiziertes Getiftle). Dieses unter Umständen mörderische Element verhehlter Agressivität, als das es ja spätestens seit Unica Zürns und Hans Bellmers Anagrammen erkannt ist, streunt
gleichsam durch das ganze Buch, wie unterschiedlich es sich auch immer artikuliert; bei Andreas Koziol z.B. in Wortneubildungen, die an ihrer Stelle wie verbale Molotow-Cocktails wirken: "nekrofühler", "sinnhinterfraglosigkeit", "Mummen-Chance", "Majuskelschwund", "altarsschwäche" etc. (Nebenher: in Koziol wütet ein bleicher bayerischer Barockprediger, Pech und Schwefel ausschüttend über die Häupter seiner Gemeinde, zuweilen innehaltend und baß
erstaunt über die kostbare "symbolistische" Fügung, die ihm untergekommen, zuweilen selbstversunken und wenig kommunikativ in "Zungen redend": "nimm fünf, das heißt wir scheren das gesetz/ der großen dreizehn über einen quintenkamm..."; LUCHTERHAND JAHRBUCH DER LYRIK 1987/88).

Zum Hintergrund dieser Entwicklungen gehören natürlich nicht zuletzt die unterschiedlichsten Versuche Elke Erbs, zum Beispiel auch ihre Neu-Entdeckung des ursprünglich surrealistischen "Zufalls"-Prinzips, wie es u.a. in Tipp- oder Druckfehlern ungenierte Triumphe feiert: "Schreibe ich z.B. ... statt Ermittlungsprozeß Ermittlungsprprzeß, zeigt mir das falsche p wortlos beredt und genauer, als es Worte könnten, an, daß es Steine regnet, wo ich durchzukommen denke./ Oder z.B. unglaubwürig statt unglaubwürdig. Man könnte es nicht besser sagen." - Bedenkenswert auch die Gleichzeitigkeit solcher Tendenzen in der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich; bei Oskar Pastior, Schuldt und anderen. - Der Referent will nicht hoffen, daß es solche Produktionen waren (Christoph Hein scheint es anzunehmen), die der Verlagsleiter Elmar Faber im Auge hatte, als er jüngst ziemlich nebelschwadenhaft "eine Tendenz in unserer Literatur" beklagt hat, "bei der die Belanglosigkeit der Stoffe in einem eigenwilligen Wettstreit mit der Unverständlichkeit der
sprachlichen Form steht, in der diese dargeboten werden..." So viel zum Zustand unserer Literaturkritik. Unsereiner - wie mancher andere auch - braucht wirklich keine hundert Jahre, um zu erkennen, daß Elke Erbs KASTANIENALLEE ein ungleich belangvolleres Werk ist als etwa Patrick Süskinds PARFÜM oder Hermann Kants SUMME...

"Cut up!" - und noch einmal kurz Stefan Döring gestreift, nämlich den Döring der "Cut-up"-Technik-Meister William S. Borroughs hat uns, wenn auch als Prosaist, so manchen Trick aus dieser Kiste gezeigt -, der Methode also, einem Film-Cutter ähnlich Wörter und Sätze oder auch Abschnitte, ehe sie zum erwarteten Ende gelangt, rigoros abzubrechen bzw. die vorgefundenen fertigen zu erschnibbeln, u.U. zu zerfetzen (ein weites Feld, das hier nur angedeutet sein kann, ein Experimentierfeld wiederum der unausgelebten bösesten Agressivität in der Regel)... Döring setzt auch dieses Mittel mit großer Klugheit und von erkennbaren Absichten gebändigt ein, was wir freilich weniger auf den schwächeren "Cut-up"-Ansatz "hamelett" in der Anthologie SPRACHE & ANTWORT bezogen sehen möchten, als auf den weiter gehenden (schärfer zerschneiderten) Text "wie als ob", erschienen in der "ariadnefabrik" (IV/87)... Man lese den Anfang und das Ende: 1. "oftmals wollte ich so sein wie/ doch bemerkte ich immer/ daß ich nicht anders sein kann als// wenn ich darüber nachdenke/ würde es mir auch nichts nützen zu werden wie/ denn würde ich werden wie/ könnte ich nicht anders sein als// wünschte ich aber wenn ich z.B. wäre wie/ da ich
bemerke dass ich nicht anders sein kann als/ so könnte ich doch zumindest wünschen zu sein wie/ wie ich bin als..." Undsoweiter über mehrere entsprechende Zwischenstationen bis 2. zum Schluß: "... wie kann ich sicher sein das was ich bin als/ mir nicht vorzustellen/ als ob ich wäre wie ich wäre als/ also nur vorzugeben zu sein was ich wäre als/ in wirklichkeit aber wünsche ich zu sein wie wenn ich wäre was ich wäre als..."

Und so verliert sich der tiefernst-clowneske Text - nein, vom Thema der Ambivalenz will ich lieber doch nicht mehr reden -, eine Sammlung abgebrochener oder stecken gebliebener Sätze, um Objekt und Subjekt kreisend wie die Spiralnebel um die bekannten SCHWARZEN LÖCHER im Weltall, und es will mir scheinen, daß diese amputierten Sätze sehr viel mehr über Dich und mich aussagen - nein, Sie Ausnahme dort hinten meine ich nicht! -, über unsere Situation, über unsere sogenannte "Befindlichkeit" als jede intakt sich gebärdende "Aussage" unserer Leit- und Führungsliteraten, "AUSSAGEN", wie sie sich immer noch, als wäre seit vorgestern nicht so Manches geschehen, "belangvoll"-breitbeinig und allgemein "verständnis"-erregend auf den Buchbasaren aufstellen (um demnächst wie farbige Luftballons zu zerplatzen?).

Vielleicht nicht überdeutliche, aber doch durchaus abzurechnende Unterschiede (bei Döring und überhaupt) zwischen dem jetzigen Entwicklungsstand und dem, wie er vor drei Jahren von der BERÜHRUNGS-Anthologie dokumentiert worden ist, in welcher man viele Autoren noch bei der erheblich naiver anmutenden Verfertigung rotzig-assoziativer Wortreihungen vorfand "Zuspitzung, Vorspitzung, zerspitz, spitzbohrend, Fingerspitzen, Haarspitzen, Spitzbart" etc. (Thom di Roes) -, als gelte es eine die armseligen offiziellen Sprach-Muster zerfetzende stachlige Heerschau der Wörter und eine "linguistische" Wikingerfahrt ins Unbekannte gleichermaßen; vieles davon der jetzigen Phase vor-arbeitend, das versteht sich von selbst... - So, wie jetzt vielleicht der jüngste Beiträger Ulrich Zieger (geb. 1961) weiteren Entwicklungen vorarbeitet, ein surrealismusnaher Poet direkterer Wut, Artaud und Bataille im Gepäck - "Der junge Chauffeur liegt den kopf/ in der suppe genäht in die haut ihrer bilder...", "stalin hieß gertrud mit vornamen/ sagen die männer/ gertrud hieß hitler" - andere junge Leute im Alter Ziegers reisen mit Panizza und Lautréamont durchs Land -; oder wie möglicherweise der leipziger Erz-Poet Bernd Igel, dem sogar seine Briefe an Behörden und Rezensionen zu manchen Oberbuchhalter befremdender Poesie gerinnen, der auf den ersten Blick konventionellste Autor in SPRACHE & ANTWORT, aber Vorsicht - "ich sah die Nacht in der Mundhöhle meiner Mutter verborgen" -, es könnte die dritte wichtige Stimme einer
"Leipziger Schwarzen Neo-Romantik" neben der Gerd Neumanns und Wolfgang Hilbigs sein... - Nein, lieber keine Voraussagen! Die "Pruchnustikatz" (Fischart) in Bezug auf die Literatur bleibe den dafür ausgebildeten Literaturwissenschaftlern überlassen! (Und die sehen es dann jahrzehntelang durch die Brille, die ihre Prognosen/Wunschvorstellungen zu bestätigen scheint, bis man sie endlich... aber nein, aber nein!, natürlich nur pensioniert!) Der Dichter Rainer Schedlinski: "Wer jetzt weiß, wie es weitergeht, der ist nicht voll informiert..."

 

5
An anderer Stelle habe ich kritische Bedenken im Hinblick auf die "Gesprächs"-Methode des Herausgebers Egmont Hesses bekannt gemacht, was allerdings nicht heißen sollte, daß ich Egmont Hesse für nichts als ein Ärgernis halte; ganz im Gegenteil zähle ich ihn zu den Leuten, von denen "noch etwas kommen könnte": Na, sehen wir 'mal, was aus dem Nach-SCHADEN, aus der "publikationsidee" VERWENDUNG wird, die er gemeinsam mit Andreas Koziol präsentieren will und wie ich sie in der Null-Nummer (1988) der südtiroler (!) Literaturzeitschrift "Der Prokurist" angekündigt finde, und zwar folgendermaßen: "es mag ein blauäugiger funke maßloser entschlossenheit, da menschlich allemal wohl verzeihlich, der tatsache zu unterstellen sein, in der 1. nummer einer sagen wir immer-noch-kommunikationsidee, die ihren werdegang noch nicht kennt, die also offen ist für das was kommen mag, als mitherausgeber, als verantwortung übender die stimme aufzutun und die eigene vorstellung, wenn es die eigentliche noch nicht mehr gibt, von dem was sein könnte, auf die probebühne, ins spiel zu bringen, ich weiß um die einfache ebene, auf der ich mich mit diesem anspruch, zu nahe will ich niemanden treten, befinde, auf der ich in doppelter hinsicht zu treffen bin, um nicht in resignation abzuheben, die in einem anflug von selbstzufriedenheit gipfelt, muß ich gerade an oben genannten ort, landfern?, wurzeln schlagen. ob der funke blühen wird und in welcher höhe früchte zu ernten sind wird sich zeigen müssen. ,sie jagen einem phantom hinterher' hat mir hoffentlich zum letztenmal der verkäufer in einem schreibwarenladen gesagt, als ich nach büroklammern fragte." (Egmont Hesse)

Die herausfordernd schrullige Umständlichkeit solchen Prologs läßt unsereinen (und nicht nur wegen des hübschen Witzes am Ende des Zitats) an bestimmte Artikulationen des nach-lautréamontschen Schwarzen Humors im weiteren Umkreis des Surrealismus denken bzw. an ein gerütteltes Maß fratzen-schneidender Desperatheit... Wir werden sehen.

 

(1) SPRACHE & ANTWORT. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR. Herausgegeben von Egmont Hesse, Frankfurt am Main 1988.

(2) Diese an verschiedenen Orten gemachte Voraussage hat sich rasch als berechtigt erwiesen; so hieß es z.B. nach einer Lesung Bert Papenfuß-Goreks im leipziger Jugendklubhaus "Arthur Hoffmann" ("Lesung Steinstraße 18"), der ersten nach langjährigem Auftrittsverbot für den Dichter in der Messe-Stadt, in einer Rezension im SÄCHSISCHEN TAGEBLATT (12./13.11.1988), daß es sich hier um einen Dichter handle "der ... nicht zu einer sogenannten 'anderen' DDR-Literatur gehört, die es sicher so auch nicht gibt..." (Die hochgemut-ängstliche Abwehrgeste kann eigentlich nur der richtig begreifen, der weiß, daß der stalinsche Begriff der "politisch-moralischen Einheit von Staat und Bevölkerung", in den Jahren des schlimmsten stalinschen Terrors entstanden, bis heute in unterschiedlichster Weise in der DDR nachwirkt, was selbstverständlich auch seine grotesken Seiten hat.) - In einer in den Jahren 86/87 entstandenen Seminar-Arbeit für die Universität in Jena kommt der Verfasser Klaus Michael zu dem Schluß: "Befragt man die hier vorgestellten poetischen Konzeptionen, so wird man feststellen, daß sich in ihnen kein Fortschrittsdenken artikuliert." Und er betont "... daß mit den um 1955 Geborenen eine literarische Generation antritt, die zum erstenmal kein soziales oder individuelles Zukunftsbild entwirft..." Eine Feststellung, die sich nicht zuletzt auf die Autoren in SPRACHE & ANTWORT bezieht. (Jedenfalls ist es eine "andere" als die in den letzten zehn Jahren staatlicherseits und also auch von der Literaturwissenschaft der DDR geförderte bzw. "gehätschelte" Literatur - oder?)

(3) In seinem Nachruf auf die Heft-Edition SCHADEN, "publiziert" im leipziger ANSCHLAG und in der berliner "ariadnefabrik": "Die künstlerischen Avantgarden hat es in der DDR bis in die Mitte der 70er Jahre praktisch nicht gegeben... In den letzten zehn Jahren wurde nachgeholt, was in 30 vorherigen eine Leerstelle war... Inzwischen scheinen sich Veränderungen anzudeuten..." - Huschhuschhusch, ziehten aus dem Busch; endlich haben wir das Schlimmste hinter uns!; ruft die ddr-germanistische Buchhalterseligkeit: Schnellkurs abgeschlossen!, vorwärts zum nächsten Zehnjahrsplan! - Wer, sagen wir 'mal, von "außerhalb" kommt, mag sich, nach einigen neugierigen Wanderungen die freilich sehr unterschiedlich steilen Hänge der "anderen Literatur" hinauf und
hinab, wundern und wundern über solche Vollzugsmeldung und vielleicht zu dem Eindruck kommen, daß der Intensiv-Kursus weniger frequentiert als geschwänzt worden ist... (Mein Lob der little mags dieses Kreises will in dieser Hinsicht nicht erst seit heute eingeschränkt sein; im Ernst: Da bleibt wirklich noch Einiges zu tun!) - Ein Aufsatz wie der von Michael Thulin (der auch seine guten, seine lacanschen Seiten hat) möchte einen wohl eher zu der Aufforderung gelangen lassen: Noch 'mal von vorne, die Herrschaften, bitte!

(aus KONTEXT 5, März 1989)

 

 

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