Jörg
Waehner
FERNANDO PESSOA. Ein Fragment
I
Der portugiesische Dichter Fernando António Nogueira Pessoa:
die Illusion einer Person. Auffindbar vielleicht in den Straßen
von Lissabon, zwischen dem Geschwätz der Mädchen von
der Rua Larga und den Arkaden am Rossioplatz, in einem Café,
unweit dem Standbild Camóes, mit der einsamen Wirklichkeit
des Ichs und der Pluralität seiner Verse. In der langen
wachsernen Hand eine Zigarette, schüchtern und zurückhaltend
an einem Tisch sitzend. Seine Kurzsichtigkeit - die "Blindheit"
eines von der Realität geblendeten Dichters -, wird zum
Weitblick nach innen und inkarniert sein Abbild, daß beheimatet
in den äußersten Räumen der Poesie, den Hinterzimmern
der Geduld im "Buch der Unruhe" seinen Schatten sucht.
Hinter dem scheinbar
schüchternen Blick und der Unverschämtheit eines großen
Dichters, entstanden Texte aus dem technischen Rhythmus seiner
Schreibmaschine, die, "modern" bis zum hörbaren
Geräusch von Zahnrädern und andere, romantisch, wie
ein spätes Echo aus dem Turm Hölderlins klingen. Sich
ein Bild vorzustellen, vielleicht dieses, noch einmal das Spiel
zwischen Maske und Gesicht.
Pessoa, ein
Fragment in Worten, vollkommen in der Bereitschaft auf Vollendung
und verloren, sich fürchtend, im Gedränge auf der Praca.
"In mir ruht das ganze Gewicht meiner Unvereinbarkeit mit
den Menschen meiner Umgebung." Und was uns gemeinsam passiert,
in den frühen blauen Stunden der Morgende auf eine akzeptable
Wirklichkeit zu stoßen am Currywurststand, in Filmen Peter
Greenaways, beim Versuch die tägliche halbe Stunde S-Bahnfahrt
zu überstehen... Dieses Erleben berührt, als verrate
sich die verletzte Verlorenheit wie ein angehefteter Stern auf
der Brust.
Pessoa stand
am Ufer des Tejo, Zigarettenasche auf den Schuhspitzen und "legte
die Maske ab", die Apartheid seines Ichs, die vier Gesichter
seiner Dichtung: Ricardo Reis, Alvaro de Campos, Alberto Caeiro,
Fernando Pessoa, "zu der Behauptung, diese grundverschiedenen,
klar umrissenen Menschen, die unkörperlich durch seine Seele
gezogen sind, existieren nicht, kann sich der Verfasser dieser
Bücher nicht versteigen", schreibt er selbst, "denn
weder weiß er, was existieren bedeutet, noch wer wirklicher
ist, Hamlet oder Shakespeare." Die geteilte Dichtung Pessoas,
als Akt der Notwehr. Sich zu spalten wird zur täglichen
Realität mit dem doppelzüngigen Spiel der Sprache,
der Pluralität der Ideen, jener geographischen Dopplung
eines Landes. Das aufgenommene ZiTAT wird zur TAT/ oder: Ich
schlag mir ins Gesicht, um an der eignen Faust zu ersticken,
an der SprachGEWALT der MACHT, die uns're sein soll, wie das
täglich Brot. Die "Maske Pessoa", als Tarnung
gedacht, wird transparent. Das Formelhafte löst sich auf,
schwindet.
II
Pessoas Heimat: Portugal zwischen Monarchie, Republik und faschistischer
Diktatur, geographisches Gebilde, "wo das Land endet und
das Meer beginnt". Spürbar sind fremde Einflüsse.
Im Süden die Mauren, von Osten Spanien, was die Jesuiten,
die Nutten und der Stierkampf hinterließ. Das Bündnis
im Norden brachte den Einfluß Shakespeares, Miltons, Shelleys,
Keats auf Pessoa, der in englischer Sprache zu dichten begann.
Später der Rückgriff auf die deutsche Philosophie,
die französische Fin-de-siècle-Kunst Baudelaires,
Verlaines, Melarmes. Pessoa, der keine größere Sorge
als sein inneres Leben kannte, beunruhigten die Gedanken Cesare
Lambrosos über die symbiotische Möglichkeit von Genie,
Dekadenz und Wahnsinn. Sich darin zu erkennen und abzustoßen,
schuf er eine Explosion in Versen, geschrieben in einer Nacht,
Texte, die "eine ganze Literatur" ersetzen. Dem Schreiben
ein Pate die latente Schizophrenie und die Berührungsängste,
fragt ein Kind nach der Zeit, möchte ein älterer Herr
über die Straße gebracht werden. Er nennt sich selbst
seinen eigenen "Fall" mit den seelische Krisen seiner
"Inkompatibilität" wie er in seinen Aufzeichnungen
notiert. Wirklichkeit wird zum Tabu. "Die Literatur ist
die angenehmste Art das Leben zu vergessen." Seine Einsamkeit
als eine elitäre Flucht in den Okkultismus, der Wille zu
den "geheimen Erwählten" des Rosenkreuzordens
zu gehören mit dem flüchtigen Blick in den inneren
Spiegel. Im Schreiben: Opium rauchen, junge Mädchen in den
Torbögen seines Fremdseins verführen. Im Leben spielten
Frauen keine große Rolle, vielleicht die Mutter. "Einmal
liebte ich, meinte, ich würde wiedergeliebt,/ doch ich ward
nicht geliebt./ Ich ward nicht geliebt aus dem einzigen großen
Grunde:/ es sollte nicht sein." So schuf er sich seine Freunde
schreibend selbst, "personifizierte Fiktionen", zeitlebens
blieben sie die treuesten. "Was kann ein sensibler Mensch
bei dem Mangel an Zeitgenossen, mit denen der Umgang lohnt, Besseres
tun, als seine Freunde oder mindestens geistigen Gefährten
selbst zu erfinden?"
III
Es gab die anderen, wirklichen Freunde. Der junge Lyriker Mario
de Sa-Cameiro und den Maler Almada-Negreiros. Sie gehörten
zur künstlerischen Jugend Portugals, die sich um die Zeitschrift
"Orpheu" sammelten, deren zwei veröffentlichte
Nummern eine Literaturskandal auslösten, gleichzeitig den
Anschluß an die europäische Avantgarde sicherten.
Das offizielle
Verlagswesen lag am Boden. Veröffentlichen hieß Selbstzensur.
Zäsur auch der eigenen Persönlichkeit, die doppeldeutig
sich zum Feind erklärte, indem sie Ideologie illustrierte.
"Die beste Weise, auf die der Künstler am Leben der
Gesellschaft, zu der er gehört, mitarbeiten kann, besteht
darin, nicht mitzuarbeiten." Sein persönlicher Affront,
die Enttäuschung von Bürgerlichkeit und Monarchie.
Die literarische Reaktion darauf: Selbstverlag. Der Schritt der
Verweigerung, ohne sich zu verweigern. Ein Wurmfortsatz eines
Versuches von Kunst-Betrieb, von Kultur überhaupt.
Vielleicht ein
religiöser Moment in der Literatur, der Wille zu glauben
an das was man macht, ohne MACHT, als eine zeitlich begrenzte
Erweiterung von Hoffnung.
IV
Sich zu erinnern bedeutet oft schon Granit. Monumente im Zenit
der Einsamkeit als Alibi des Vergessens. Was dieses aufbricht,
Pessoas persönliche Direktheit: "... ich, dem so oft
die Geduld fehlte, um ein Bad zu nehmen,/ ich, der so häufig
lächerlich und absurd war,/ der sich öffentlich in
den Teppichen der Etikette verwickelte,/ der grotesk, erbärmlich,
anmaßend und unterwürfig war,/ der Demütigungen
erlitt und schwieg,/ denn wenn ich nicht schwieg, war ich noch
lächerlicher;/ ich, der komisch wirkte auf die Dienstmädchen
des Hotels,/ ich, der das Augenblinzeln der Botenjungen spürte,/
(...) ich stellte fest, daß ich in alledem auf der Welt
meinesgleichen suche." Die Anmaßung ist ein Schwindel/erregendes
Gefühl, nichts anderes mehr. Die Krankheit hatte Pessoa
eingeholt. Am Boden die zertretene Zigarette.
"Wer lebt
wie ich, der stirbt nicht, der endet, verwelkt..."
(Fernando Pessoa
wurde 1888 in Lissabon geboren und starb am 30. November 1935
an einer Leberkolik. Die zitierten Passagen aus: Fernando Pessoa,
Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Aus
dem Portugiesischen von Georg Rudolf Lind, Zürich 1985)
(aus KONTEXT
4, November 1988)
MEIN VATER IST
EIN GESPENST
Heiner Müllers HAMLETMASCHINE am Thalia-Theater Hamburg
I
Der Dramatiker Heiner Müller nennt seine MASCHINE Hamlet
und baumelt zwischen den Beinen mit Ophelia. Seine Gefräßigkeit
an Shakespeare ist sein Hunger nach dem klassischen Drama der
Gegenwart.
Müller,
dem deutschen Kind aus Eppendorf, passiert mit HAMLETMASCHINE
ein Stück, in dem die Szenen absurd zu werden scheinen,
aneinander fremd, unvermittelt sich zusammensetzen wie die Steine
zum Mosaik des "Hamlet" Shakespeares. Szenen, die durchgehen
mit sich, dem Theater, dem Autor, den nervösen Charakter
seiner WORTE. HAMLETMASCHINE ist Müllers Beispiel nicht
gegen / sondern für das Theater.
In der Inszenierung
des Amerikaners/Malers/Regisseurs Robert Wilson und des Dramaturgen
Wolfgang Wiens am Hamburger Thalia-Theater (Müller bezeichnet
sie selbst als gelungen), zeigt sich, daß das Verständnis
für den TEXT nicht bei dessen Exegese beginnt. Wo das Stück
beginnt läßt es sich 25 Minuten Zeit mit den ersten
Worten. Dafür Klangholzlaute, Wolfsgeheul und, wie von fern,
Geräusche von MG-Salven. Dazu Simultanbewegungen der Darsteller,
ein Marionettentheater zwischen Schreibmaschinengeklapper und
Hitler-Gruß. Die Bühne, ein Raum mit Geräusch
und Geste für die Misere der Kunst.
Der Dramaturg
Wiens versucht eine Annäherung an den Text, benutzt ihn
als Versatzstück, setzt sprachliche Metaphern in szenische
Bilder um, schafft durch die anfängliche Pause Raum für
die Sprache, Sprachraum. Müller dazu: "Der Text bekommt
dadurch Autonomie, als ein Element des Theaters. Diese Methode,
als eine Möglichkeit gegen die technisch vollkommene Welt,
die die Wirklichkeit ersetzt." Ein anderer Versuch der Näherung
würde scheitern, auch am Selbstverständnis des Autors.
Der Verstand ist nicht einziges Mittel des Verstehens. Das beweisen
auch die anfänglichen Proben Wiens ganz ohne Text, der während
der Vorbereitungen das Hörspiel und den Stummfilm nutzte.
Das schließt sich an die Vorstellungen Müllers an,
der während seiner Arbeit an ZEMENT den Text als Vorgang
bezeichnet, der mit Mitteln wie Pantomime, Schriftfilm, Ton die
Einheit/Gleichzeitigkeit von Beschreibung und Handlung darzustellen
ermöglicht.
II
"Ich war Hamlet." Der Autor, kostümiert als der
Prinz von Dänemark, treibt in den Schloßhallen von
Helsingor sein Narrenspiel mit der eigenen MASKE. Der erlebbaren
Identifizierung steht die Trennung von Autor und Hamlet-Figur
gegenüber. Diese Gleichzeitigkeit der Gegensätze, eine
Spaltung des Individuums aus dem Zwang der Verhältnisse.
Hamlet, der Deserteur im Exil.
Es ist etwas
faul im Staate D.mark. In der Hamburger Inszenierung Wilsons
bekommt das Stück einen amerikanischen Verschnitt, tritt
Hamlet, mit nietenbesetzter Lederjacke über den Schultern
auf die Bühne, ist ein seltsamer Pathos der Figuren auffällig.
Mit den folgenden szenischen Unterbrechungen kommt Sand ins Getriebe
der HAMLETMASCHINE, wo Müller sie doch auf Touren bringen
will.
"Ich bin
Ophelia", sagt die Tochter des Polonius. "Ich zerstöre
mit meinen blutenden Händen die Fotos der Männer, die
mich gebraucht haben auf dem Tisch, auf dem Stuhl, auf dem Boden."
"Ich zerstöre das Schlachtfeld, das mein Heim war."
Der Griff zwischen die Beine könnte nicht schmerzlicher
sein im Schützengraben einer Männerwelt. Ophelia und/auch
Elektra sprengen ihre Ketten: "Es lebe der Haß, die
Vernichtung, der Aufstand , der Tod." Und Müller läßt
Hamlet sagen: "Ich will eine Frau sein." Die Übereinstimmung
des Autors mit dem Symbol der Leidenden, der Befreiung in der
Geschichte von Shakespeare bis Südamerika, seiner Leidenschaft,
vergleichbar Artauds Interesse für Mexiko, an Südamerika
in dem Stück DER AUFTRAG. Müllers Hamlet als die Maschine
der Gegenwart, der Rücktritt von seiner Kunst in der technisierten
Welt, die Aufrechnung der Zeit Shakespeare zur Zeit der Maschine,
der Zeitrechnung seit Auschwitz und Hiroshima.
Die Bühne
gleicht einer surrealen Collage, der malerische Moment Wilsons.
Und die folgende Film-Text-Einspielung zeigt Simultanszenen nach
dem stückintegrierten Bühnenumbau. Die Darsteller auf
der Leinwand verwandeln sich in Affen. Metamorphose rückwärts.
Atompilz und Steinzeit. Dazu der eingespielte Text: "Die
Madonna mit dem Brustkrebs", "Der Brustkrebs strahlt
wie eine Sonne", "Was du getötet hast, sollst
du lieben." Und Müller in einem Gespräch: "Die
Frage ist, ob nicht der Atomkrieg eher kommt, als der Umschlag
in eine höhere Qualität." Das Stück greift
tiefer. "Das Allgemeine ist unwahr", sagt Müller.
Ungarn 1956, "Die Pest in Buda". Unter einem körperlichen
Krampf erfaßt dem Hamlet/Autor die Situation. Die Sprache
wird verfremdet und ringsum der Aufstand: "Autos werden
umgeworfen, bewaffnete Fußgänger" tauchen auf.
"Ich stehe
im Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten
Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür
aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen
Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt,
meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich
sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden
Menge mich, Schaum vor dem Mund, meine Faust gegen mich schütteln."
Und der Hamlet/Autor zerstört in seiner Respektlosigkeit
vor allem Monumentalen die Alternative, die Versteinerung einer
Hoffnung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Lenin, Marx,
Mao, vollzieht unter dem privilegierten Hohnlachen den Umsturz
aller Verhältnisse.
III
Das Foto Heiner Müllers wird auf der Bühne zerrissen.
"Mein Drama findet nicht mehr statt. Es interessiert mich
auch nicht mehr." Eine Selbstdarstellung in Selbstkritik
des NPT der DDR und des Büchner-Preis-Inhabers in der Bundesrepublik.
Diese zweischneidige Liebe auf die Klinge getrieben, mit dem
Geruch von Nobel-Preis/oder der Frage: Wie verkauft man seine
Masken?
Müllers
eigene gesellschaftliche Stellung, das Private, die Trennung
von den Massen/Publikum durch die Previlegien - "Schon Talent
ist ein Previleg" - schafft die Vereinsamung. "Ich
gehe nach Hause und langweile mich", wo "Fernsehen.
Der tägliche Ekel" ist. Erst wieder mit "Raskolnikow
am Herzen" und "In der Einsamkeit der Flughäfen
atme ich auf", schreibt Müller. Der Riß zwischen
Text und Autor sprengt die Kontinuität. Sich zu dem Widerspruch
von Hamlet und MASCHINE zu bekennen, der Kollision mit dem Publikum
nicht auszuweichen, sieht er als die Möglichkeit an, daß
Sprache entsteht, wo "die Analphabeten die Hoffnung der
Literatur" sind.
(anhand einer
Fernsehaufzeichnung vom 21. Dezember 1986)
"Die Künstler
nach getaner Arbeit gehn / Mit Hoffnung, daß der Ruhm sie
nicht erreicht / Das Kunstwerk ausgestellt rennt hin und her
/ Auf dem Theater Laufsteg zwischen Mensch / Und Mensch im Ozean
der Angst die Angst / Des Publikums kein Mensch ist auf der Bühne
/ Maschinen reden spielen gehn die Angst / Der Spieler unten
sitzt kein Mensch Maschinen / Lachen und flüstern rascheln
mit den Kleidern / Und klappern mit den Händen ab und zu
/ Glasaugenblicke leuchten aus dem Dunkel / Der Dichter singt
sein Lied behält Humor / Humor des Fleischers oder der Verzweiflung...
In der Epoche
des Tourismus Mord / Ist Gnade Sehen heißt die Bilder töten
/ Im grauen Mantel meines Niemandsnamens / Dein Mörder William
Shakespeare ist mein Mörder / Sein Mord ist unsre Hochzeit
William Shakespeare / Mein Name und dein Name glühn im Blut..."
(Heiner Müller aus EIN SHAKESPEAREKOMMENTAR)
"SCHLAGT
EUCH NICHT DEN SCHÄDEL EIN, ZERBRECHT EUCH LIEBER DEN KOPF"
Heiner Müllers LOHNDRÜCKER am Deutschen Theater Berlin
I
Heiner Müllers LOHNDRÜCKER, als seine dramatische Frührevolte
von 1956. Entstanden im Herzen des Autors und inszeniert im Kopf
aus den Abwässern von Geschichte. Die Wirklichkeit erlebt
und genau kalkuliert mit "Staat und Revolution", als
ein Bild der deutschen Republik im Zustand der Erneuerung. Aus
der faschistischen Vergangenheit zum sozialistischen Gegenwartsumbruch,
bis zum Haß gegen die Arbeiter-Faust im eignen Gesicht.
Jene hochgezüchtete Geburt, die in den Eingeweiden der Volksmacht
schmerzte, ihr drohte über den Kopf zu wachsen... Statt
Rosen gab es die KonterRevolte '53 und Nelken nur zum 1. Mai
aus Plaste. Die Klassiker verschworen sich: Du sollst es nicht
mehr sein, da warn es nur noch drei. Und Stalin fällt aus
dem Rahmen. Oder die Black-Box (das Bühnenbild des Wiener
Erich Wonders), mit dem ästhetisch schönen Ausblick
auf die lichte Gegenwartszukunft Berlins, klappt zu, daß
der Generalissimus wieder seine Fassung bekommt und sich alles
um ihn verdunkelt.
Heiner Müller
spielt uns (sein) Theater vor. Eine Autorenbühne in Eigenregie,
mit der Allgegenwart des Textes. So bekommt er die Schauspieler
in Griff, um ihnen - als Statisten der Worte - den Beruf auszutreiben.
Jenen Manierismus der Bühne, der Müllers Selbstverständnis
vom Theater-Vorgang stört. Sie artikulieren Zitate wie Sprachfehler,
als Methode der LOHNDRÜCKER-Inszenierung. Mit deren widersprüchlichen
Ganzheit der Szenen, den Brüchen und der Text-Montage von
DER HORATIER und WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE IV, die den gewohnten
Bühnenablauf aufbrechen, das Stück aktualisieren und
gleichzeitig eine ideologische Wertung verweigern. Die Bühnensituation
ermöglicht den Einblick in das Laboratorium menschlicher
Handlungsabläufe, die von historischen Bedingungen und Zwängen
bestimmt werden. Um mehr scheint es Müller nicht zu gehen.
Die erweiterte Sicht einer Betrachtung wird zur Archäologie,
der Aufbereitung von Zeitschichten, mit den weißen Flächen
des Schweigens im Stück, wo die "Antworten" beim
Publikum passieren sollten, als Wunsch von Theaterwirkung - nicht
erst seit Brecht - aus einer aufgebrochenen Situation Reaktionen
zu erzeugen.
II
Müllers LOHNDRÜCKER geht auf die Lehrstückversuche
Brechts zurück und die Tradition sowjetischer Revolutions-Dramatik.
Der "Brecht-Sohn" ergänzt im Stück die Ring-(Ofen)-Parabel
des "Helden der Arbeit", Hans Garbe, um den Hochofen
des VEB Siemens-Plania im Jahre 1948/49, um die Konfliktsituation
"zwischen Verdienst und Schuld", als seine Weiterführung
des Stoffes, welchen auch Brecht für seinen "Büsching"
verwendete.
Der "Held
der Arbeit" Garbe (im Stück Balke), wird zum benutzten
Objekt der Neuererbewegung, das Opfer der eignen Persönlichkeit
zum Preis einer Plan-Kampagne und deren Propagierung. Die "Denkmal"-Figur
Balke mit den goldenen Händen und den roten Kopf, als Modell
zwischen der neuen Qualität der Gesellschaft und den alten
Methoden. Ein Neuerer im doppeldeutigen Kampf gegen die Norm
und gegen die eigene schuldbeladene Vergangenheit in der Nazizeit.
Die konkrete Situation von Geschichte demonstriert ein Nachkriegsproblem:
Sieg der Arbeiter ohne Revolution. Die Revolution kam von außen,
mit den Panzern der Roten Armee. Und die Schuld der roten (Arbeiter-)Hände,
ist die blutbesetzte Vergangenheit, die zum Problem der Gegenwart
wird. Das nichtbewältigte Gedankengut wirkt weiter, daß
der Juni '53 zum faschistischen Spätrülpser in der
deutschen Nachkriegsrepublik wird. Eine späte Auflehnung,
die unter Hitler nicht gewagt wurde, wird nachgeholt und wendet
sich gegen den Arbeiterstaat.
Das Problem
der Machtübernahme durch die Arbeiter passiert als Trennung
von Arbeiter und Leitung. Ein unsichtbarer Vorhang wird zwischen
ihnen gezogen, die abgezogene Haut, das gewechselte Kostüm
der Macht.
III
Der Versuch der Näherung an das Theater der Zeit, ist für
den Dramatiker Müller der Versuch zwischen den Medien. Die
Sehgewohnheiten des Publikums benutzend, geschult an der TV-
und Werbewirklichkeit des Alltags, arbeitet er für sein
Bühnenspektakel mit den Effekten der Filmwelt. Seine Persiflage
auf die Zeit-Zeichen ist dabei voller Anspielungen, umfaßt
den "Schrecken und das Komische" mit der Zwiespältigkeit
der meisten Situationen.
Auf der Bühne
steht der Ringofen, zwischen "Blitzkrieg und Revolution",
mit den rotglühenden Schlitzaugen eines Bunkers der Maginotlinie,
inmitten der Erzeugungsschlacht des 1. Zweijahresplanes der DDR
und die Gold-Marie von der HO, mit ihrer Vergangenheit in der
NS-Frauenschaft, verkauft die neue Butter. Der "Held der
Arbeit" Balke, der auf dem Bauch zum Ofen kriecht, erinnert
an die Verwandlung der Schlange, die aus dem Paradies vertrieben
wird. Der Steinwurf in den Gaskanal des Hochofens steigert sich
zur Granatenexplosion, mit dem Blick auf den Pathos früher
DEFA-Filme. Und gelingt der kurze Blick zur Friedrichstraße,
kommen die "Bundies" auf die Bühne und führen
mit der D-Mark "unsere Puppen" aus, wird die delikat-Werbung
zum Schaufenster des Westens vor leeren HO-Regalen...
IV
Der andere Müller sitzt auf dem hohen Stuhl seiner Friedrichsfelder
Neubau-Wohnung, pafft dicke Zigarren und freut sich über
den Erfolg seines LOHNDRÜCKER's am DT. Gelobt vom ND und
SPIEGEL, meint er dazu, in seiner eigenwilligen Bescheidenheit,
daß die "Westler" zu seinem Stück in die
DDR einreisen wie zu dem "Mekka des Theaters". Er hofft
darauf, daß aber spätestens in einem halben Jahr,
nach dem Theater übers Theater, das Stück nicht als
Kabarett-Ersatz für ein erlebnishungriges Publikum und als
kritische Polemik auf politische Zustände benutzt wird,
sondern als Auseinandersetzung mit Theater funktioniert. Er wendet
sich mit dem Stück, wie er sagt, gegen "die gemütliche
Sofaecke bei Oma", wo der Zuschauer erwartet, daß
ihm was geboten wird, wo er als Voyeur das Leben anguckt, was
für ihn so nicht mehr existiert.
Müller,
der nicht nur zwischen New York, Paris und dem Berlin des Lehniner
Platzes und der Friedrichsfelder Wohnung, mit der Einsamkeit
des Erfolgs und der Sehnsucht nach seiner "Helene"
pendelt, der Gefährtin, welche im Frankfurt Goethes und
der Dresdner Bank sitzt, sondern der auch zwischen dem Zwiespalt
der Zeit schwankt, welcher als Riß durch sein Hirn geht,
erfaßt mit seiner abgeklärten Sprach-Sicht die fremden
Welten und die DDR in einer illusionslosen Betrachtung von Geschichte.
Und bricht der Ätna im LOHNDRÜCKER aus, ist ihm das
Bild vom atomaren Ascheregen die wirklichere Näherung zur
Düsternis der Gedankenwelt seiner Stücke, als der gepfefferte
Optimismus der Schreibtisch-Kentauren. ("Ich glaube nicht
mehr an Demokratie.") Der
fehlende Ausblick und das Offenhalten der Situation gilt ihm
als Chance. Müllers Befangenheit ist der Autor als öffentlicher
Gegenstand. Er verfremdet sich im Text. Und das passiert nicht
als Verweigerung gegenüber der Realität, sondern vermittelt
die Gegenwart eines Betroffenen im Stück.
"Es gab
ein Interview mit Thiessen, dem Alt-Physiker, im 'Forum', in
der Zeit des Jugendkommuniqués. Das war so eine revolutionäre
Periode, ein kurzer Versuch 1966/67 ... Und Thiessen beschreibt
das Problem, daß Institutionen zur Konservierung ihrer
Struktur tendieren, d.h. sie verhindern oder behindern Neues.
Und neues Denken ist Denken in noch nicht bestimmbaren Kategorien,
d.h. neues Denken tritt auf als verworrenes Denken, ist also
nicht kontrollierbar oder entzieht sich der Kontrolle. Damit
wird neues Denken für Institutionen suspekt, also verhindern
Institutionen Produktion oder Produktivität, die nur beruhen
kann, auf neuem Denken, also auf verworrenem Denken, auf einem
Denken ohne Zielvorstellung, einem Denken in einen leeren Raum,
den man nicht kennt. Und das ist das Problem der Produktivität
vielleicht."
(Heiner Müller in einem Gespräch mit Alexander Weigel)
EIN MONUMENT
DER TYRANNEI
Heiner Müllers LEBEN GUNDLINGS / FRIEDRICH VON PREUSSEN
/ LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI an der Volksbühne Berlin
I
Dem DDR-Theater ist mit LEBEN GUNDLINGS... ein neues Feigenblatt
gewachsen. Dürftig, aber präsent wird dem inzwischen
sechzigjährigen Heiner Müller die Aufführung seiner
Dramen Stück für Stück nachgereicht. Nach treibt
er seine Spektakel über die Schluchten von Bühne &
Zuschauer fast unwidersprochen. Was die Leere daneben besetzt,
bleibt meist ideologisch befangen oder endet in der chaotischen
Demontage von Theater.
Der Titel des
Müller-Stückes steht für die Bild/Szenen-Collage
einer Preußen-Rezeption des 18. Jahrhunderts. In dem Spiel
um die Seelenlandschaft von Zeit und Autor - seinem MaskenTRAUM
als LESSING - wird mit der allgemeinen Misere kokettiert. Auf
Bühne, Leinwand, in den Köpfen erst recht, bezwingend
das Theater gespielt. Mit den Gruselschauern der Tontechnik,
den deftigen Parodien auf Wort/Musik-Zitate, versucht die Gleichzeitigkeit
verschiedener Wahrnehmungsebenenen in Denk-Bewegung umzusetzen;
die Schnellebigkeit der Bilderwelt bespiegelnd zu benutzen.
Die Bilder bluten.
Für den Text von 1977 reist Müller seine Wunden auf,
dem Gehabe um die preußische Legende seine Lessing-Version
zu stellen. Das Gesicht abwendent, vergrößert sich
sein Erbrechen, wo das Erbrecht der Geschichte Preußens
im LEBEN GUNDLINGS den Geist geiselt, wird der Akademiepräsident
Jakob Paul Freiherr von Gundling im Schatten des schwarzen Adlers
zum Hofnarr von Friedrich Wilhelms Gnaden.
Bier und Zoten
fließen auf der Bühne, dann bluten die Köpfe.
Gundling, Spielball zwischen Geist und Gewalt, mit der Tragik
selbstverschuldeter Unmündigkeit, hält den verstümmelten
Bären in den Armen. "Dem Volk die Pfoten gekürzt,
der Bestie, und die Zähne ausgebrochen. Die Intelligenz
zum Narren gemacht, daß der Pöbel nicht auf Ideen
kommt." Und Preußens Offiziere pissen auf den Akademiker
mit der Narrenkappe.
Die Bilder beginnen
sich zu überschlagen. Jene klassischen Konflikte "sozialer
Phantasie" mit der clownesken Heiterkeit einer Groteske
zwischen Ernst und HERZSTÜCK. Müller kalkuliert das
Unbewußte ein, übernimmt er für die Theater-Collage
des "Greuelmärchens" von der bildenden Kunst Techniken
und stellt sich Widersprechendes bewußt nebeneinander,
bringt verschiedene Zeit-Raum-Ebenen in Zusammenhang, überlagert
den Stoff des Stücks mit TEXT. Die Bilderflut passiert als
Zugzwang, um Publikum entscheidend einzubeziehen, ihm Entscheidung
zu belassen. Die Situationen stehen als Prüfstein für
Wirklichkeit, bevor das Echo im Bühnenraum die Utopie akzeptabler
Träume kippt.
II
Die PREUSSISCHEN SPIELE, das Bild der Figurenwandlung Friedrichs.
Der zärtelnde Knabe mit der musischen Veranlagung unter
der Knute des vulgär-gewaltigen Vaters im Spießrutenmilljöh
von Suff und Gestank; das Blindkuhspiel mit der Schwester Wilhelmine
und dem Freund Leutnant Hans Hermann Katte ein Kleider/Geschlechtertausch
um die neue Gefühlswirklichkeit: Ein Friedrich, als die
große "Dame" vor dem Herrn, die er zeitlebens
blieb.
"Ich werd
ihm das Arschficken austreiben..." - die Allgewalt des Vaters,
läßt er Katte erschießen, tötet er den
anderen und den Menschen in seinem Sohn. Der Bruch ist endgültig
im Stück. Der Zynismus bleibt fortan die gewandelte Maske
des Preußen-Erben. Im Land des neuen Friedrich Mord &
Spießrutenlauf. In Friedrichs Rücken tobt die Schlacht,
metzeln sich Preußens Soldaten, vom Geschehen abwendent,
läßt er sich Racine vorlesen: Die Augenbinde Kultur.
Inzwischen wird
die Schule der Nation zum Puppenspiel von Preußens Gnaden.
Friedrichs Marionetten lernen das Sterben an den Fäden ihrer
Unmündigkeit, während John Bull und Marianne sich die
Welt teilen, sich über den alten Fritz belustigen, der das
Sterben seiner Untertanen durchexerziert. Die Geschichte läuft
rückwärts, wiederholt sich, nageln tote Matrosen ihren
Kapitän an den Mast des Schiffes. Das Bild sozialer Kämpfe,
die ewigen Vergeblichkeiten eines Ernst Blochs: "Auf tausend
Kriege kommen nicht zehn Revolutionen". Inzwischen spielt
Friedrich den HERZKÖNIG vor der sächsischen Witwe,
dieser zur Gebärmaschine für den Tod degradierten Frau.
Der Bilderbogen spannt sich neu, Collage auf Collage. Gewalt
und Macht in derselben
Waagschale, verlagert sich die Staatsräson in die Kunstakademie
Preußens. Der Bildhauer Schadow am Mamorblock, Friedrich
Schiller in den Sack gehaun: Was bedeutet dann noch sein "Spaziergang"
- vergeblich. Als Beiwerk getarnt, die Gleichmacherei der Malstudenten
beflügelt das Staats-Talent als Staatsträger, läßt
sich das System illustrieren, farbig ausmalen die schwarz/weißen
Kontraste seine Gewaltwirklichkeit.
"Lieber
Gott mach mich fromm", weil ich aus dem Irrenhaus komm.
Die Kehrseite des Preußenstaates, Produkt und Sammelstelle
kaputter Existenzen. Fluchtpunkt, zweite Wirklichkeit, der Tausch
der Positionen von Arzt und Patient wird Möglichkeit. Vorerst
Exerzieren der geistigen Zwangsmaßnahmen, die Zwangsjacke:
"Jeder sein eigner Preuße". Preußisches
Schöpfungsideal: Schrumpfköpfe nach innen. Professoren
und Studenten, die Weiterführung der Staatsidee. Und auf
der Bühne das Bild die Ahnung auf Aussicht von zerstörten
Landschaften. Atomunfall als Vision ohne dramaturgische Absicht,
jene geistigen Zerstörungen im Innenleben nach außen
gekehrt. Der Höhepunkt der Inszenierung scheint erreicht.
Wortastronomie und ein Hut läßt sich noch draufsetzen,
eine Maske noch rüberziehen, ein Bild noch überkleben,
inspiziert Friedrich mit seinem Hofgast Voltaire, das Landvolk
in den Furchen des Rübenackers, wo der Bauerntanz zum Sklavengesang
auf den Baumwollplantagen gerinnt, die äußere Heiterkeit
für Friedrich zum verklärten Blick wird auf eine "Landschaft
mit Bauern". Dafür schenkt er dem Landvolk seinen Rüben-Traum
von der "preußischen Orange": die Gesellschaftsreklame
ohne Warenangebot.
Geschichte bleibt
nur auf dem Papier zurück, stirbt Friedrich im Herzen des
schwarzen Adlers. Die weißen Bögen der papiernen Erinnerungssinfonie
wehen über die Bühnenbretter. Das Herz schlägt
sich aus als aufgezogenes Metronom, das abläuft: "Er
krepiert."
Auch Heinrich
von Kleist ist ein preußisches Kind, das Michael Kohlhaas
spielt, die typische Figur eines Don Quijote im Kampf mit den
Mühlen. Eine Maske gewandelter Figuren, Kleist ausgetrocknete
Seele wie Sägemehl rieselt, nach sieben Jahren Soldatseins
in preußischen Diensten. Die Armee blieb für ihn "ein
lebendiges Monument der Tyrannei". Sein Spiel ist voller
symbolischer Zeichen auf der Bühne: Pferd, langes blondes
Haar, der Tausch der Köpfe, das ausgestopfte Rosenbluten
um Ulrike, die Halbschwester seiner vergeblichen Liebe. Der rote
Fleck zwischen den Fingern weitet sich aus, um am Ufer des Kleinen
Wannsees zu sterben.
III
In LESSINGS SCHLAF der Vernunft führt der TRAUM zum SCHREI.
Lessings Ringen eine Geste der Vergeblichkeit. Müller nimmt
die doppelte Maske Text vors Gesicht: "Mein Name ist Gotthold
Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe ein/zwei Dutzend
Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen Traum
vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich
über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessieren. Das
ist nun vorbei. Gestern habe ich auf meiner Haut einen toten
Fleck gesehen, ein Stück Wüste: das Sterben beginnt.
Beziehungsweise: es wird schneller. Übrigens bin ich damit
einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein neues Zeitalter
nach dem andren heraufkommen sehn, aus allen Poren Blut Kot Schweiß
triefend jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins
Ziel. Ich habe die Hölle der Frauen von unten gesehn: Die
Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die
Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit
dem Kopf im Gasherd. 30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten
mich aus dem Abgrund zu halten, brustkrank vom Staub der Archive
und von der Asche, die aus den Büchern weht, gewürgt
von meinem wachsenden Ekel an der Literatur, verbrannt von meiner
immer heftigeren Sehnsucht nach Schweigen. Ich habe die Taubstummen
um ihre Stille beneidet im Geschwätz der Akademien. Und
in den Betten der vielen Frauen, die ich nicht geliebt habe,
um ihren lautlosen Beischlaf. Ich fange an, meinen Text zu vergessen.
Ich bin ein Sieb. Immer mehr
Worte fallen hindurch. Bald werde ich keine andere Stimme mehr
hören als meine Stimme, die nach vergessenen Worten fragt."
Situation und Wirklichkeit, die verschiedenen Ebenen, nicht mehr
trennbar. Sag's mir zwischen Traum und Schrei, wo es passiert
das Lebendige einer Hypertatsächlichkeit, als würden
die Augenlider gestutzt, um zu sehen.
Lessing in Amerika.
Die Illusion von der neuen Welt. Endzeit, Endprodukt der Zivilisation:
Autofriedhof, Schrotthaufen Vostellsche Geschichte von Cadillacs
und TV's als Monstren, die die Gesellschaft produziert. Figuren
mit austauschbaren Gesichtern, Etiketten-Körper, erkennbar
durch Namensschilder/Kreditkarten/Parteibücher/Bankkonten...
Im Verfall Literatur/Betrieb, verliert sich im Müll des
Marktes von Verkaufsquoten ohne Lesepublikum. In Videoclips und
Serienlangeweile steht die Entfremdung, eine Scheidewand zwischen
den Menschen. Lessings Nathan und Emilia, die klassische Theaterfiguren
tauschen ihre Köpfe mit den leeren Filmfiguren in einer
Dingwelt der Austauschbarkeit. Beliebigkeit ohne Phantasie, die
Ohnmacht bei der Suche nach wahrscheinlicher Wahrheit.
IV
Heiner Müllers Greuelmärchen kurz vor der Auslöschung
der Collage zur Austauschbarkeit jeden Begehrens. Die Veränderbarkeit
einer Utopie im spielerischen Verlangen. Die Groteste führt
ins Lächerliche, zum distanzierten Lachen im Ausverkauf
der Geschichten. Das Gruseln zu verkaufen in der Endzeit seiner
Entwürfe von Hoffnungslosigkeit. Vor dem Untergang noch
die Rente zu kassieren. Oder verlieren sich die Projektionen
auf der Leinwand, die gesprochenen Szenentexte am Schluß
des Stückes in der vagen Aussicht fern von Europa, in der
Exotik fremder Landschaften? Rimbauds Hochzeit von Feuer und
Wasser wird bemüht, Lautremonts Gesänge des Maldoror,
die Zivilisationsflucht beider zwischen Afrika und Lateinamerika
als Müllers TRAUM? Die Aussicht ist noch offen, vielleicht.
Müller arbeitet mit den Zufälligkeiten der ihm bestimmten
Arbeitssituation, den Informationsstrukturen, die sich in Beliebigkeit
täglich einstellen, in das müllerische Raster fallen
und zum Text werden und das scheint seine Möglichkeit von
Theaterspielen zu bleiben. Aber noch ist Lessing nicht am Ende.
Die Bronze der
Monumente tötet den Geist der Ideen, daß er sich aus
der Umarmung des Gipses befreit, die Verpackung um seinen Körper
löst wie Fesseln um sein Lebendigsein.
Am Ende der
Aufführung stehen auf der Bühne die Büsten der
Klassiker deutschen Geisteslebens wie Marx/Goethe/Schiller. So
enden Ideen als Gipsköpfe auf öffentlichen Plätzen.
"Mord durch Beifall." Vielleicht ist Müllers dazugestellte
Büste die letzte Regie-Ironie, wird/macht sich Müllers
Gesicht zur Bühne, zum eignen Denkmal. So ist zu hoffen,
daß ein Pärchen kommt und Herzen in diesen "öffentlichen
Stein" kratzt und ihn belebt. - Alles Theater.
V
Wichtig sind an den Volksbühnen-Inszenierungen die Programm-Hefte,
jener Möglichkeit von Textveröffentlichung in der DDR,
jener Sprache zwischen Autor und Stück, dem Probelauf der
Arbeitssituation zu erfassen, einen öffentlichen Monolog
über das Theater der Zeit nachzulesen, wird Müller
in der Inszenierung Unrecht getan. Die Aufführung gleicht
einem abgenagtem Knochen, dem erst durch die Situation des Textes
Fleisch draufwächst, ihn aber durch eigenartige "Zwischenräume"
wieder durchfallen läßt. Die Hoffnung auf eine heiter-schaurige
Groteste verliert sich erst recht im hingesetzten, gemachten
treuen Nachinszenieren. Was sich aber durchsetzt ist soziales
Theater, beschäftigt die Form das ganze Ensemble einer Bühne
für das Stück.
(aus KONTEXT
4, November 1988 und KONTEXT 6, Juli 1989)
Heiner Müllers
GERMANIA TOD IN BERLIN am Berliner Ensemble
"Weh dem, der keine Heimat hat!" (Nietzsche)
I
Theater sei etwas für Perverse, behauptet Rainer. Vielleicht
hat er recht. In GERMANIA hinkt Goebbels als schwangere Wanze
mit Pappmachéschritten über die Bühnenrampe.
- Theater, ein exhibitionistisches Vergnügen, um verdrängte
Phantasien zu kultivieren. Aber diese Seite interessiert nicht
mich. Die Parallelen zur Perversion des Politischen machen mich
neugierig. Der Kostümzwang einer uniformierten Gesellschaft.
Ihr Bemühen dem Theater den Rang abzulaufen, auch auf die
Gefahr hin, eine Bühne zu bespielen, ohne das Publikum geladen
zu haben. Versagen ist ein weites Feld. Das heißt auch,
daß die ursprünglichen Bedingungen für meinen
Text, also die Kraft der Auseinandersetzung mit dem "Thema",
mit der gleichen Geschwindigkeit schwindet, wie die Allgewalt
der täglichen Veränderung in der Gesellschaft sich
an deren Stelle setzte und das Denken okkupiert. Aber Theater
funktioniert wie ein Verdauungssystem für das große
Fressen. Ein Schlingen an den unverdauten Geschichtsmonumenten.
So daß Heiner Müller dessen Rachen mit seinem Menü
von Geschichte stopft: mit den zwölf Jahren NS-Herrschaft,
dem Mutterboden der SED-Republik, den späteren Querelen
zwischen Ost und West und mit den illustrierenden Worten eines
Mao-tse-tung, die Atombombe sei nur ein Papiertiger. Und dies
alles spielt sich vor dem Hintergrund einer Landschaft ab, wo
die Strukturen des politischen Systems zum Verwechseln denen
des Theaters glichen. Das reichte, um dieses mit Mißtrauen
über die Zeit zu verfolgen. - Die Klassenschlacht mit dem
eigenen Spiegelbild.
Und das SYSTEM, ein ideologisches Trauma, durchorganisiert wie
der Ablauf eines Sportfestes, von der Bockwurst bis zur Fahne.
Das theatralische Bewußtsein gestärkt mit dem Schein
vom Sein der Ästhetik des Politischen. Hier wurde das Spiel
mit den Symbolen der Macht zu einer inszenierten Glaubenswirklichkeit
stilisiert, vom Vaterunser der Partei bis zum Kreuzzeichen von
Hammer und Sichel.
II
Der Tausch der Masken, ein Status quo. Wir schlagen uns ins eigne
Gesicht. Die WENDUNG treibt uns die Schläge ins Kreuz, die
gestern von Staats wegen den Ausgebürgerten galten. Das
FORTGEHEN war nicht nur für das System ein Verlust und Regulat,
und die Unbrauchbarkeit der 40jährigen Hysterie von Persilscheinantifaschismus,
für die deutsche Bevölkerung östlich der Elbe,
war längst bewiesen. Sein geschlossenes Prinzip funktionierte
nur bei der Gleichzeitigkeit einer "Bedrohung von außen"
und der Fiktion der "Weltrevolution", wie der Mißbrauch
dessen für die Macht einzelner an der Spitze des Eisberges.
Ansonsten mag jeder Verfall vorbestimmt gewesen sein wie der
plötzliche Verlust der "Vaterfigur" der Diktatur.
Der Ruf nach Einheit ist nicht zuletzt ein psychologischer Ausgleich
mit Anlehnungsbedürfnis.
Der Blick nach draußen galt als subversiver Akt, jede Frage
ein existentielles Mißtrauen gegen das System selbst. Die
Stasi beantwortete jedes Raunen mit stereotypen Blicken und reagierte
mit Augenzwinkern... Das Mißtrauen gegenüber der eignen
Bevölkerung rechtfertigte die totale Kontrolle als staatliche
Notwendigkeit des Überlebens. Eine vollendete Inszenierung
an der Spitze. Von hier aus die Macht ausging und sich festigte
mit dem Glauben an die Gläubigkeit der anderen. Der
Engel der Geschichte ist aber kein blinder Engel. Der Engel der
Geschichte ist ein glückloser Engel im Angesicht des Schweigens.
III
Die Straße hat die Bühne eingeholt. Und das scheint
sich auf jeden Fall geändert zu haben. Heiner Müller
kreist noch um sein Zentrum und benutzt das Gesicht als Bühne.
Inzwischen beginnt ihn die Geschichte zu denunzieren. Das Modell
zerfällt wie die verbrauchten Strukturen eines Systems,
das permanent wiedergekäut, nun am eignen Haken hängt.
Die Spielformen der Revolution verschleißen sich auf der
Bühne. Das Eingreifen der Panzer mußte herhalten wie
für die Texte der Liedermacher. Die Interessen verlagern
sich. Das Theater verschwindet von der Bühne.
Der Dichter Andreas Koziol erzählte seinen Traum: Er saß
an einer langen Tafel mit einer Reihe von Gästen bei H.
M. und wunderte sich über die Eigenartigkeit des Geschehens,
von dem er nichts zu verstehen glaubte. Er äußerte
sein Befremden. Dann entdeckte er eine Plastik am Ende des Tisches.
Es war ein Torso, der sich bewegte und ihn anschrie: "Hast
du denn jemals etwas von mir gelesen?!" Vielleicht werden
durch Mißverständnisse die Schwierigkeiten mit den
Stücken Müllers offensichtlicher. Diese beginnen nicht
erst bei der Interpretation von Prozessen, die in der DDR-Realität
abgelaufen sind - Bühne oder Straße? Es geht um die
Situation der Arbeiter und ihr Protestpotential als ungefilterter
Übergang vom deutschen Faschismus in die "neue Gesellschaft",
die im Antifaschismus untertauchte. D.h., dessen Entwicklung
zum Juni '53 als faschistischen Spätrülpser und den
zur "feudalsozialistischen Variante" (Müller)
interpretierten Sozialismus. Ich bin aber davon ausgegangen,
daß die Folgen der gescheiterten Demokratie der Weimarer
Republik zum Faschismus führten und die Strukturen des Stalinismus
- die als Perversion des Sozialismus gehandelt werden -, ähnlichen
Wurzeln entsprangen. Dadurch den nahtlosen Übergang von
einem System in das andere überhaupt ermöglicht haben.
Also nicht der Mangel der "Reinigung", sondern die
gewaltsame Basis beider Systeme die Fehlentwicklungen ermöglichten.
Die Extreme lassen sich leichter bedienen mit einer Bevölkerung,
die einen Prozeß der Demokratisierung bisher nicht kennengelernt
hatte. So sind die "Ausrutscher" der Geschichte der
DDR keine Störfälle durch äußere Feindbilder.
Der Spiegel ist nicht blind und das eigne Gesicht ist die Maske,
die aufschrecken läßt und meint: das können wir
doch nicht gewesen sein.
V
"Weh dem, der keine Heimat hat!" (Nietzsche)
Das verlorene Exil. Mit dem Verfall der Mauer ist der Fluchtpunkt
im Kopf zerstört. Die Hoffnungen, als letzte Konsequenz
auf einen Abgang gesetzt, scheinen verweht. Ein Niemandsland
ist verlorengegangen. Der Freiraum zwischen den Kulturen ist
tot. Das Gegenüber als Rechtfertigung für eignes Versagen
- von welcher Seite auch immer - hilft niemandem mehr weiter.
Der Verlust einer Identität mit dem Nischedasein macht sich
bemerkbar. Die Umkehrung der verhaßten Symbole wird zum
Haltepunkt der Mitsprache. Und mit dem plötzlichen Freiraum
des Reisens wurde selbst die Mauer zum optischen Empfinden
von Heimat - von außen gesehen. Das "Volk"
spielte verrückt, die Extreme tauschten sich aus wie die
Larven der Macht, daß der Brechreiz schon im Halse steckte:
Der aufhaltsame Aufstieg des Aturo Schnur. Der Fall des Wolfgang
S., eine Entdeckung fürs Theater. Sein Weg vom Verteidiger
der Bürgerrechtler zum Vorsitzenden einer neuen Partei,
die sich mit Coca-Cola verkaufte, der Sturz im Machtrausch über
die eigne Stasi-Vergangenheit, und der erneute Aufbruch als Vertreter
von Bundesbürgern in Grundstücksfragen auf dem Gebiet
der DDR. Das bietet den Stoff, aus dem die Wende-Dramen sind.
"Wir haben unsere Sprache wiedergefunden", sagt
ein Mann zum Reporter. "Der Niedergang eines Gemeinwesens
beginnt mit dem Verfall der Sprache.", schreibt Müller.
Darum war gerade die Sprache der Literatur subversiv, die für
das System nicht faßbar wurde. Eine Sprache, die nicht
die Terminologie benutzte, die in ihren Machtbereich fiel. So
war das "asoziale" dieser, eine größere
Bedrohung ihrer Ordnung, da sie als Un-Ordnung dem System widersprach.
Das "Nein" der politischen Opposition auf das "Ja"
des Systems wurde von den Regeln des Systems selbst bestimmt
und bestimmte somit auch die Antworten. (Das "Ja" ist
wie das "Nein") Eine Sprache, die keine Macht hat,
konnte auch nicht von ihr mißbraucht werden. Der Abstand
zur herrschenden Doktrin, die als Wirklichkeit verab-reicht wurde,
ließ die Regierenden wieder in den Widerstand ihrer Vergangenheit
flüchten, spürten sie die Kluft, die sie selbst aufgetan
hatten durch die Lüge. So formte sich eine konspirative
Elite, die meinte, sich gegen die Übermacht des Klassenfeindes
in der eignen Bevölkerung zur Wehr setzen zu müssen.
Die Wahrheit als Privileg einer Kaste, die sich vor sich selbst
rechtfertigte mit dem Wind im Gesicht, den ihnen das selbstgeschaffene
Feindbild entgegenblies. Es mußte ständig versorgt
werden mit Dissidenten, die nicht existierten, die erst von der
Stasi durch die Anwendung repressiver Maßnahmen produziert
wurden. Und die zwanzig Jahre Westfernsehen bildeten für
diese Inszenierung den teleoptischen Hintergrund.
V
Es ist wie mit dem kalten Rauch meiner Zigarre - ein Ritual,
das sich wiederholt. Oder wie der Anfang am Endpunkt, der nicht
existiert, nur zu existieren scheint als Nachdenken über
die Prozesse, die ablaufen. Und ich bleibe unbeeindruckt von
den Bildern der nervösen Fahnen, die sich im Wind drehen
und drehen. Die Bewegung stirbt im Uhrzeigersinn. Mit der Überhöhung
der Bilder, dem Theater im Krebsbereich der Straße kann
ich wenig anfangen. Den Schmerz zu spüren im Zivilisationsstoß
wie das Stechen beim Rauchen oder den Druck im Kopf, bleibt das
stärkere Empfinden. Das Land ist ein Auto, das kopfsteht.
Das Ritual wiederholt sich, wie einstudiert, beim Fall der Mauer,
der Währungsunion, der Weltmeisterschaft: Jubel, Sekt, Fahnen,
Parolen, Autokorso. Die Kameras und Mikrophone der Medien saugen
alles gierig auf und werfen es uns wieder vor. So produzieren
sie den nächsten Effekt. Deutschland als Weltmeister und
auf dem Berliner Alexanderplatz wird Jagd auf Vietnamesen gemacht.
Der Rand ist eine Erscheinung der Mitte.
Die Erinnerung an die Wirklichkeit entsteht wie ein spätes
Bild, das wir erleben, als hätten wir das Bild schon gekannt,
bevor die Worte dafür vorhanden waren. Diese Übereinkunft
von gedachten Strukturen aus Angst und Hoffnung, die bildhaft
werden im Moment sozialer Solidarität. Die unsere Sprache
in den Bereich bringt, wo sie wirklich existiert. Im Stottern
die Laute erkennen zu lassen, die zu uns gehören. Und die
vielleicht auch wieder den Weg zu den Bildern beschreiben werden,
die noch im Voruns stehen und die wir im Begriff sind einzuholen
als Annäherung an die Selbstähnlichkeit unserer eignen
Identität. Was mich darum interessiert, ist das Chaos der
Ordnungen als möglicher Prüfstein ihrer Stabilität.
Oder, wenn die Revolution ihre Kinder frißt und die Korrektur
regiert: Sozialdemokratie aus der Retorte und die Vergangenheit
im Kostüm der Gegenwart.
Die Worte, bühnenreif geschlagen, wappnen sich zum Gegenangriff.
Die Helden kämpfen mit dem Tod und die Standbilder röcheln
ums Versagen, den Blutsturz bekämpfend wie die Negation
der Worte im Niemandsland Bühne. Der Hahn kräht um
so dringlicher: Zeitung oder Zeitgeist, Kopf oder Verstand, Etwas
oder etwa Nichts. Der Mensch in der Konstruktion seiner Verneinung.
Die Maschine als ästhetische Variante. Der unausgesprochene
Verlust, das Verletztsein, die Bedrohung. Die Verlorenheit der
Szenerie im Schatten des Schweigens. Das Pathos schluckt die
Worte aus einer vergangenen Zeit: "Die Steine, die sie
heute auf uns werfen, passen morgen in die Wand." (Müller).
Die Bühne, ein verlassener Raum.
(aus KONTEXT
11, September 1990)
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