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Edelbert Richter WARUM KOMMT ES IN DER DDR ZU KEINER DER SOWJETISCHEN ANALOGEN UMGESTALTUNG?
Rainer Schedlinski ... DENN DIE ZEICHEN SIND ÄLTER ALS DIE THEMEN. Zwei Kapitel aus einem Aufsatz zur Sprache

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Edelbert Richter WARUM KOMMT ES IN DER DDR ZU KEINER DER SOWJETISCHEN ANALOGEN UMGESTALTUNG?

 

Die Problemlage bei uns ist eine andere.

1. Wir befinden uns an der Front der Systeme. Was das bedeutet, hat sich ja in der letzten Phase der Auseinandersetzung zwischen den Blöcken extrem gezeigt... Wer sich hinter einer Front befindet, befindet sich in einer grundsätzlich anderen Situation: eben in einer Heimat. Und wenn es "Heimat" auch heute nicht mehr wirklich gibt, so wird doch sein Bestreben dahin zielen, sie wieder herzustellen: Man denke an die Strategie der Begrenzung des Atomkrieges! Aber auch in der jetzt eingetretenen Phase der Entspannung bleibt die Spannung zwischen den Systemen ja bestehen und ist bei uns unmittelbarer zu erfahren als in den Weiten der Sowjetunion. Zwar hat sich politisch-atmosphärisch einiges, aber militärisch-real noch sehr wenig verändert.

2. Hinzukommt, daß wir eine halbe Nation sind, d.h. einerseits gar keine, andererseits aber die ganze Nation zu repräsentieren beanspruchen, uns also ständig überanstrengen. Wir haben eine nur krampfhaft bemühte positive Identität, definieren uns hauptsächlich negativ im Gegensatz zum anderen deutschen Staat. (Wir kennen z.B. die Politiker der Bundesrepublik besser als unsere eigenen.) Würde die SED die Offenheit der Kritik und die Eigenständigkeit der politischen und ökonomischen Initiative zulassen, die in der Sowjetunion inzwischen praktiziert werden, so könnte man in der Tat (unterstützt durch die Medien der Bundesrepublik) auf die Frage kommen, warum überhaupt sie und nicht vielmehr die SPD bei uns an der Macht ist. Sie könnte ihre Spezifik und damit ihre Legitimation verlieren.

Außerdem: Was einst ein innenpolitisches Problem der Deutschen war, ist jetzt auf die außenpolitische Ebene geschoben (z.B. die Auseinandersetzung bzw. Verständigung mit dem Liberalismus). Muß daher Friedenspolitik bei uns nicht überhaupt an der Stelle von Reformpolitik stehen? Und andererseits: Wenn bei uns innenpolitisch Druck entsteht, kann er durch das Öffnen eines Ventils, das andere nicht haben, beseitigt werden: Auswanderung statt innenpolitische Veränderung! Aus diesem Grunde scheint die Reform bei uns nicht möglich.

3. Wiederum sind wir aber dem Westen näher als die Sowjetunion. Der Einfluß der westlichen Lebensform auf unsere Bevölkerung ist sehr viel stärker und unmittelbarer als auf die der Sowjetunion. Wir führen ja in der Freizeit- und Konsumsphäre geradezu ein zweites Leben im Westen. Der wirtschaftliche Austausch und der von ihm ausgehende Anreiz sind sehr viel stärker. Wir genießen lange schon mehr Liberalität als die Bevölkerung der Sowjetunion. Eine
solche Despotie wie die Sowjetunion hat sich die DDR nie leisten können. Unser Problem ist also, daß wir uns einerseits wirkliche Liberalität aufgrund der Frontsituation und der Teilung nicht leisten können, andererseits aufgrund der fiktiven oder halb gewährten Liberalität, die wir schon genießen, auch gar nicht recht brauchen!

4. Mit dem zuletzt Gesagten hängt weiter zusammen, daß unser Lebensstandard höher, die Versorgungsprobleme geringer sind als in der Sowjetunion. Die Industrialisierung ist bei uns weiter fortgeschritten, wenn man das Produktionsspektrum, die Qualität der Produkte und den Grad der Intensivierung berücksichtigt. Zwar bestehen für die DDR im Verhältnis zur Bundesrepublik ähnliche ökonomische Notwendigkeiten, aber kann sie sie nicht auch ohne derart revolutionäre, mit mehr evolutionären Veränderungen bewältigen? Die ökonomische Dringlichkeit der Reform bestand in der Sowjetunion jedenfalls in weit höherem Maße. Das legt aber nun umgekehrt die Befürchtung nahe, daß sie sich dort auch in der Bewältigung ökonomischer Aufgaben erschöpfen werde (wobei ich nicht verkenne, daß das Veränderungen in allen Lebensbereichen einschließt); ja es führt zu dem Verdacht, daß die Umgestaltung von vornherein aus dem Machtkampf mit den USA heraus erwachsen ist und nur dazu dient, das ökonomische und technologische Fundament für den weiteren Machtkampf mit ihnen zu schaffen. Sie würde dann weder eine grundlegende Wandlung der internationalen Verhältnisse noch eine solche des Verhältnisses zur Natur erwarten lassen!

5. Hier ist nun der Punkt, an dem wir uns ernsthaft selbst befragen müssen: Hat das Bedürfnis nach demokratischer Umgestaltung bei uns vielleicht auch einen solchen ökonomisch-technokratischen Hintersinn? Für uns kann es aber nicht primär um ein Nachholen von industriellem Fortschritt, sondern muß es um Alternativen zum bisherigen industriellen "Fortschritt" gehen; und schon gar nicht darum, im internationalen Machtkampf obenzubleiben, sondern aus ihm herauszukommen. Unsere ökologische Situation ist auf die Dauer ebenso untragbar wie unsere außenpolitisch-militärische Situation. Und dies trifft zusammen mit einer mangelnden Aufarbeitung unserer konservativ-romantischen deutschen Tradition, die im Nationalsozialismus gipfelte. Die spezifische Herausforderung für uns, zusammen mit den Deutschen in der Bundesrepublik ist es daher, unsere Distanz gegenüber der modernen Zivilisation (in Ost und West), die sich in zwei Weltkriegen so destruktiv ausgewirkt hat, durch einen Umbau unserer Industriegesellschaft und die Entwicklung alternativer Technik konstruktiv werden zu lassen. Mit anderen Worten: Wir haben uns um das ökologische Fundament des Friedens zu sorgen und nur in diesem Kontext auch um Demokratie.

6. Eine Umgestaltung ist also auch bei uns unumgänglich, aber sie muß tiefer ansetzen. Und weil die DDR unter dem Druck steht, mehr und anderes tun zu müssen als die Sowjetunion, tut sie gar nichts!

Noch einmal:
Warum ist die Reform bei uns schwer möglich? Wegen der Frontsituation und der Teilung. Warum ist sie zugleich gar nicht recht notwendig? Wegen der Nähe zum Westen und dem höheren Industrialisierungsgrad.
Mit dem Letzteren hängt aber unsere prekäre ökologische Situation zusammen. Aus ihr ergibt sich als tiefere Notwendigkeit die einer Abkehr vom Industrialismus. Bekämpfen wir aber den Produktionsgötzendienst, so schließt das die Notwendigkeit der demokratischen Umgestaltung ein! Denn dann muß die Ersatzbefriedigung durch Konsum ersetzt werden durch echte Befriedigung: freie Kommunikation! Außerdem ist auch die Frontsituation nur zu beseitigen, wenn die Produktionshetze abgebaut wird. Erst eine (schrittweise) Ökologisierung der Produktion brächte echte Entspannung und mit ihr auch die Möglichkeit echter demokratischer Reform.

(aus KONTEXT 4, November 1988)

 

 


Rainer Schedlinski ... DENN DIE ZEICHEN SIND ÄLTER ALS DIE THEMEN
(zwei kapitel aus einem aufsatz zur sprache)

 

I
was mich bewog, einen text über die (un)sichtbarkeit der zeichen zu schreiben, war der paradoxe sinn einer abwesenheit: die verdrängung der wahrnehmung zugunsten der vorstellung, das verschwinden der elementaren organe im thematischen körper, der verlust der bedeutung im utilitären gebrauch. etwas macht die worte verschwinden, und dieses etwas ist die sprache selbst: als herrschte in ihr eine abwesenheit, die zugleich so präsent und so verschüttet ist, die den blick so sehr anzieht und ihn dabei derart entleert, daß man ihren sinn ganz und gar erfinden muß, um ihn sichtbar zu machen, denn es gibt nur die materielle wirklichkeit der zeichen selbst, die, um einen sinn anzunehmen, stets unsichtbar werden, und um über sich hinauszuweisen, stets zurücktreten müssen. man kann die natur der zeichen paradoxerweise also wahrhaft nur sichtbar machen, indem man ihnen ihre transparenz nimmt, das heißt, indem man ihren wirklichen hintergrund entfernt. man kann ihr spiel, ihre zirkulationen, nur außerhalb ihrer verbalität beobachten, nur in einem schwanken zwischen dem fernsten blick und der nächsten berührung - nur in dieser geteilten aufmerksamkeit kann man dem theam entgehen, das jeder blick ihnen zuweist.

wendet man diesen gebrochenen blick auf die zeichen der dinge, ist es, als würde ihr thema zerfallen in die bloße ordnung der sprache. dieser form der beobachtung liegt dann nicht mehr nur ein rein geistiges interesse, sondern eine ganz existentielle erfahrung zugrunde: die erfahrung vom versagen der sprache, und dem nullphänomen des bedeutungslosen: wir überraschen es quasi in seiner nichtbedeutung, so, wie wir die dinge überraschen, wenn wir sie benennen, und wie die zeichen vor den dingen zurücktraten, treten nun die dinge vor den zeichen zurück. wir verkehren nur die richtung der projektion: wir sehen nicht durch die sprache die welt, sondern durch die welt auf die sprache: wir sehen den sinn des bedeutungslosen, die sprache der sprache.

doch kann man über sprache reden, die nicht gesprochen wird? der sprache geht keine überlegung voraus - sie ist ein offenes gefängnis - in ihr gibt es kein draußen. man muß über den sinn ihrer grenzen reden, die übergänge markieren, die schwellen und siebe, über die die welt eindringt. man kann einen (flüchtigen) blick durch die gitter werfen: die sprache "lauert lautlos hinter den dingen ... unter einem zerfetzten plakat, auf einem verirrten stein, zwischen den rostigen stäben eines kellergitters, in einem durchlöcherten fahrschein, einem entwerteten stück himmel, dem zertretenen rauch zwischen den mauern, dem durchweichten brot unter dem rechten schuh, dem licht auf dem rest eines verkehrsschildes, dem abgebrochenen ast eines nichtvorhandenen
baumes..." (michael thulin, "die wand lehnt in der geöffneten tür") die dinge sprechen aus diesen zerrissenen resten einer "aufgegebenen bibliothek der wirklichkeit" (michael thulin) in jeder sekunde, in der wir sie vor augen haben - doch nur in dieser unmittelbaren, sofort kommunizierten präsenz - sie haben kein sichtbares archiv, keine ordnung, auf die wir zurückgreifen könnten. und alles, was man darüber sagen kann. ist wie die "Geometrie des Magmas" (pier paolo pasolini).

wie aber entsteht die wirkliche ordnung der zeichen, durch die es ihnen gelingt, einen in form, sprache und gebrauch jeweils unterschiedlichen sinn anzunehmen, der - je nach dem - außerhalb ihrer formalen bedeutung, außerhalb ihres themas oder außerhalb ihrer utilitären bestimmung liegt?, und welche ist ihre eigentliche organisationsform? denn außer, daß die dinge zweckmäßig sind, "füllt sich ihre Funktion mit Sinn; diese Semantisierung ist unabwendbar; sobald es eine Gesellschaft gibt, wird jeder Gebrauch zum Zeichen dieses Gebrauchs." (ein hut z.b. hat eine andere bedeutung als eine baskenmütze). "Da die Gesellschaft nur standardisierte, normierte Gegenstände erzeugt, sind diese Gegenstände zwangsläufig die Realisierung eines Modells, die Worte einer Sprache; die Substanzen einer signifikanten Form; um einen unbedeutenden Gegenstand zu finden, müßte man sich ein absolut improvisiertes Gerät vorstellen, daß in nichts einem existierenden Modell gleicht." (roland barthes, "Elemente der Semiologie") es gibt also keinen unbedeutenden gegenstand, selbst die fremdesten objekte (etwa mythische oder künstlerische) sind suche nach sinn. "Reales gibt es nur, wenn es intelligibel ist" (roland barthes). was immer auch die menschen haben tun wollen, haben sie gesagt.

 

II
bei der arbeit an diesem text erinnerte ich mich an klemperers LTI, das in den 70er jahren besonders populär wurde. erst jetzt lieh ich mir ein zerlesenes und mit vielen lesernotizen versehenes exemplar der inzwischen sechsten auflage aus der stadtbibliothek. es liegt auf der hand, daß das interesse an klemperers sprachkritik nicht einfach ein interesse an der analyse der sprache des dritten reiches ist. es gibt ein allgemeines wie ein spezielles interesse an den zeichen einer ära, einer gesellschaft oder einer kultur, das über den bedeutungshorizont dieses buches hinausweist und es auf eine andere, allgemeinere (denkgeschichtliche) oder speziellere (tagespolitische) verständnisebene umschreibt.

diesen transformationen, denen jeder historisch, kulturell oder individuell entfernte diskurs unterliegt, wenn er in anderer verantwortung, von anderen imperativen aus gelesen wird, setzt klemperer seine analyse aus, indem er als philologe eine traditionelle pragmatische und semantische exegese unternimmt, und sich auf jene bedeutungsebene bezieht, die der diskurs des nationalsozialismus tatsächlich, d.h. von sich aus, meint oder zu meinen vorgibt, also wörtlich oder schweigend, etwa in höhnischer nebenbedeutung oder als sublime metapher zum ausdruck bringt.

wo klemperer sich nicht nur den notorischen, sondern auch den geheimen bedeutungen zuwendet, vermutet er, daß jenen ehedem skandalösen oder verrufenen begriffen wie beispielsweise "fanatisch (fanatische Liebe zum Führer)" oder "aufziehen (eine großaufgezogene Veranstaltung)" durch deformation und wertumkehrung jeder "pejorative Nebensinn" abginge, und sie nunmehr die quasi tugendhaften attribute "beharrlich und repräsentativ" bezeichneten. wäre aber ihr sinn nicht ein doppelter, hätte er nichts zu verdrängen; bliebe dieser abweichende sinn, wie klemperer annahm, ganz und gar "unbemerkt", käme ihm keine sublime bedeutung zu, und die tugendhaftigkeit des wortes wäre mit der der menschen identisch. der deformierte wortsinn könnte nicht
"wie winzige Arsendosen den Volkskörper vergiften", denn eine fälschung, deren original für immer getilgt ist, ist keine fälschung mehr. klemperer unterstellt die verschiebungen der bedeutungen der willkürlichen intelligenz der subjekte - doch gerade die versteckten, geheimen, parasitären bedeutungen sind doppelt motiviert: sie schreiben sich der sprache unwillkürlich ein, nämlich gemäß ihrer arbiträren bedeutung und ihres unwiderstehlichen schweigens.

victor klemperer untersucht die zeichen nicht auf der seite des (sie selbst) bezeichnenden, sondern lediglich auf der des bezeichnens, also der ihnen gegenüberliegenden seite, auf die ihnen von der macht mehr oder weniger wissentlich zugewiesenen bedeutungen hin, so, als läge unter einer verfälschten, deformierten oder verschobenen, unbemerkt und unbeschadet noch eine wahre oder wirkliche bedeutung verschüttet, die quasi unterirdisch fortbestünde, und nun dank ethischer, logischer oder psychologischer aufklärung sodann nach ermessen geläutert wieder hervortreten könne, mit hilfe eines zeitlosen bezugssystems, das jene äußerlichen vergleichs- oder behelfsformen stiftet, die dem untersuchten diskurs schließlich beigemessen werden können. so entdeckt er nur die ideellen verfehlungen und abweichungen vom maß des überlegten diskurses - die leere negativität und willkür einer sprache, die zum objekt einer sprache wird, vor der sie sich zu verantworten hat, und die deren bedeutung spricht. victor klemperer schreibt eine chronik der umwertungen und fälschungen, und so schreibt er, ganz uneigentlich, eine abgehobene, historisch relativierte chronik der wahrheit und der moral. eine metasprache, die über eine vergangene sprache spricht, trägt in dieser historischen relativität - einer quasi provisorischen objektivität - ihren eigenen tod in sich: sie wird eines tages ihrerseits zum stummen objekt einer ihr fremden sprache.

kein diskursives system ist mit hilfe logischer, phänomenologischer oder philologischer kriterien überschaubar, nachvollziehbar oder gar verifizierbar. man kann die logik eines satzes oder eines postulates überprüfen, nicht aber die des gesamten textualen systems der sätze. sie erschließt sich nur der strukturalen oder empirischen formanalyse. es gibt keine logik des diskurses, die allein aus der logik der sätze und propositionen hervorginge. die kontrolle der diskursiven formationen übersteigt die pragmatische, semantische oder logische analyse, ihre instrumente sind dafür zu klein, und die zwänge geistiger kohärenz, denen der diskurs unterliegt, sind nicht mehr sprachlicher ordnung, die ganze logik eines textes ist demnach ein nichtvorhandensein von irrtum innerhalb seiner propositionen, die organisation eines textes aber folgt morphischen regeln, die das thema nicht ausdrücklich definiert. der text entzieht sich auf diese weise sozusagen dem eigenen wahrheitsanspruch.

das thema aber verschweigt seinerseits alles signifikante, daß nur außerhalb seiner selbst thematisiert werden kann: die bezeichnenden eigenschaften eines textes können nur gegenstand eines anderen textes sein - eine art unschärferelation, die in der natur der zeichen liegt, die sich dem gegenstand opfern, und unerkannt bleiben in der idee, die sie bezeichnen. kein diskurs kann seine bezeichnende gestalt innerhalb seiner selbst definieren, die stets auf einen ganz und gar äußerlich zirkulierenden sinn verweist. definiert ein anderer diskurs diesen zurückliegenden sinn, hat er das thema verlassen.

was die sprache einer ära, einer gesellschaft oder einer kultur tatsächlich sagt, kann allein innerhalb deren themen und deren bedeutungen, die der diskurs ursprünglich und in eigener verantwortung meint, und die ihm entstammen, nicht entschlüsselt werden. kein zeichen hat seine ganze bedeutung allein dort, wo man ihm begegnet, es offenbart sein ganzes zeugnis erst, wenn es außer gebrauch, oder vom thema verworfen ist, wenn auch seine nicht-verbale bedeutung hinzutritt, der es entnommen wurde; erst dann wird jene bedeutung sichtbar, die ihm vordem niemals in den sinn gekommen wäre. erst in dieser versteinerung kann es die wahrheit über seine zeit hinaus verlängern. wenn es richtig ist, daß alle öffentlichen ideen formen unterworfen sind, die alles sprechen nach gesetzen redigieren, die dem thema selbst nicht eingeschrieben sind, und wenn diese formen, die immer anders und immer gleich ihren sinn vervielfältigen, der allgemeinen sprache angehören und sich dem freien arrangement des sprechenden entziehen, dann hätte klemperer eine philologie des syntagmas schreiben müssen, eine morphosyntax der massensprachen überhaupt.

doch die bezeichnende seite des sprechens unterliegt der historischen kontinuität der formen und verschließt ihren sinn jeder pragmatischen oder semantischen exegese, die sich naturgemäß nur auf das bezeichnete bezieht. die verschiebungen der bedeutungen erscheinen nicht in ihrer wirklichen
intelligibilität, sondern ganz und gar willkürlich, als entschieden unmotiviert. klemperer umgeht die intelligibilität der zeichen, die buchstäblich nicht sichtbar wird, indem er ihre intelligenz beschwört: "... und Goebbels war doch vielleicht begabter, als ich ihm zugestehen wollte, und die wirkungslose Dummheit war weder so dumm noch ganz so wirkungslos." er beschreibt die sprache des nationalsozialismus als "Enthumanisierung und unmerkliche Gewöhnung", als "Verseuchung", als "Krankheit" und "Virulenz", die einen vordem "gesunden Volkskörper befallen" habe, durch: "Die absolute Herrschaft, die das Sprachgesetz der winzigen Gruppe, ja eines einzigen Mannes ausübte, und die sich über den gesamten deutschen Sprachraum erstreckte. ... Ja im letzten war es vielleicht der einzige Goebbels, der die erlaubte Sprache bestimmte", so, als könne eine sprache in dieser pansemie gänzlich aus freien stücken erfunden oder bestimmt werden durch: "die wilde Phantasie eines aus dem Gleichgewicht geratenen Einzelnen".

die sprache des dritten reiches erscheint als skandalöse "Verfehlung" und "Verkennung des ganzen Ausmaßes" ihrer "verheerenden Wirkung", nicht auch als eine erkennung der individuen in den formen ihrer zeit. sie erscheint nur als mißgestalt, nicht auch in ihrer gestalt, nur als deformation, nicht auch als formation; nur als fälschung, nicht auch als wahrheit, mit der sie in allen ihren signifikanten tatsachen aus ihrer zeit hervorging, in der sie auch authentisch war - denn in diesem sinne logen "Goebbels allzu plumpe Lügen", und fälschte "Hitlers schamlos offene Rhetorik" keineswegs.

so gerät klemperer durch den imperativen eingriff einer metasprache auf der ebene des themas in unlösbare widersprüche: zwischen der künstlichen aufgezwungenheit dieser sprache und deren verheerender popularität; zwischen ihrer massenhaften entfremdung und ihrer völkischen authentizität; zwischen der instinktbetonung und emotionalisierung ihrer rhetorik und deren logismen und verismen; zwischen ihrer profanität und ihrer religiosität; zwischen ihrem fatalismus und ihrer geschichtstüchtigkeit; zwischen ihrer innovativität und ihrer archiaik; zwischen der versächlichung des einzelnen und der individualisierung der macht, usw.

er sieht in der betonung des "instinktiven, organischen, wuchshaften der Organisation" eine opposition gegenüber dem vormals "vernünftigen System" (der weimarer republik), und erklärt so den ersatz der "Philosophie, als Vernunftsystem", durch die "Weltanschauung", als "organisierter Gesinnung", und betrachtet sodann den nationalsozialismus als ein "Erbe der Romantik", nicht auch der aufklärung, in der gegenüberstellung des schwärmerischen und des rationalen, und verkennt schließlich den terror der vernunft, dem die aufklärung ihre stärksten und fürchterlichsten instrumente lieh.

so überholen klemperer die formen der sprache des dritten reiches, wie er sie kurz vor seinem tode als "sprache des vierten reiches" beschrieb: das weiterleben der heldischen und völkischen themen, die emotionalisierung der motive, die ritualisierung aller öffentlichen handlungen, die rhetorisierung der gesten, die ideologisierung des öffentlich-imaginären, die plebejische ignoranz und arroganz anderen kulturen gegenüber, die marginalisierung der übertretungen und des entarteten, die funktionalisierung der wünsche, die öffentliche konspiration der ungeschriebenen gesetze, die sportliche verkörperung der macht, die pädagogisierung des charakters über den körper, die institutionalisierung der kunst und deren waffenfunktion, (die auch ein aufklärerisches thema ist), usw.

die kontinuität der formen ist unübersehbar. man erbt nicht nur autobahnen, eisenbahnnetze und kanalisationen, sondern auch sprachliche bedingungen, deren kontinuität kein machtereignis berührt, denn die zeichen sind älter als die themen, und ihr sinn schreibt sich ihrer bestimmung nicht ausdrücklich ein - sie sind auch vom thema nicht reformierbar.

(alle zitate im zweiten kapitel: victor klemperer, LTI)

(aus KONTEXT 6, Juli 1989)

 

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