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Inhalt

Else Gabriel TEXTE
Cornelia Jentzsch ELSE GABRIEL, AUTO-PERFORATIONS-ARTISTIN / ITERATION

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Else Gabriel TEXTE

 

"HIER BIN ICH - eine Art vierdimensionaler Wurm.
... ich habe eine beträchtliche Ausdehnung
in die Vergangenheit und vermutlich in die Zukunft
und nur eine mäßige Ausdehnung irgendwo anders hin."
(A. Eddington, The Nature of the Physical World, Cambridge 1928)

Ich versuche mich zu erinnern:

Herbst - zerfetzte Wolken dicht über sturmgebeugten Pappeln -
selten dazwischen - tiefblau - und einmal grün - der Himmel -
die liebe, liebe Sonne.
Der Bauer geht hinter dem Pflug.
Schwarz - Krähen fliegen - Gekreisch - die Blätter zappeln noch.

WENN NICHT DAMALS ALLE ÜBER MEINEN KARIERTEN RANZEN GELACHT HÄTTEN ...

Der Bauer geht hinter dem Pflug, bäumt sich und fällt.

"Es ist die Teilung des Wurms (der Mensch JETZT)
die eine Abstraktion ist." (siehe oben)

WÜRDE ICH HEUTE EIN EINFACHES ABER GESUNDES LEBEN LEBEN ?

Ich habe Waffen entwickelt für den täglichen Nahkampf.
Z.B. AUTO-PERFORATION, die Selbstlöcherung, handhabbar zum Unschädlichmachen von Gefühlsüberschuß, der entsteht, wenn sich einer gut- oder bösartig akuten Gemütsbewegung der Gegenstand entzieht, bzw. ihr entzogen wird (ein Ergebnis: "Das Ohr der Strafe").

AUTO-PERFORATIONS-ARTISTIK
ist die Fortsetzung dieses Regulationsprozesses mit anderen Mitteln -
gebohrt wird an den dicken Brettern, die für die Köpfe dahinter die Welt bedeuten.
Auge in Auge sind wir (fast) symmetrisch.

"Es ist das Transplantat des karierten Ranzens,
das meinen Kopf von anderen unterscheidet."
(Else Gabriel, ÜBER(M)ICH)

 

NICHTS WENIGER ALS ...
(aus dem thematischen Zyklus "WURM DRIN - Love is a pattern")

Von meinem Puderpinsel fallen büschelweise die Haare aus.
Es regnet. Und über den weiteren Verlauf muß ich mir keine Gedanken machen.
In der Nacht. Am Tag. Ein Ziehen zwischen Wirbelsäule und Wirbelsäule.
Und Zirbeldrüse. Das uralte melancholische. Das dritte, das verknöcherte Auge.
"Geschichte haben/ haben wollen/ ach ..." (das alte Lied).
...
Die Entfernung verringern. Im Kopf. Ein geschliffenes Organ operiert sich selbst.
...
Das an mir arbeitende Stück Mensch hält Verbindung zu einem Mund, der aus einer ungefähren Entfernung etwas fragt. "... ?"
"Ich sehe die Errichtung eines Gebäudes von Mann." Ein Regierungssitz. Burgberg Mann. Ein Schloß, ein Prinz, ein Pappenstiel ..., gewohnt zu erobern.
Steht im Raum. Die Natur. Drei Meter zehn. Steht da. Voller verwildeter Augen. Läßt meine Schwäche an sich abfließen. (Das Fenster den Regen). Ein Tier, vor dem das Fleisch schmilzt. Reißt das Fell auf und zeigt ein bronzenes Werkzeug.
"Stolzes Aggregat."
(Klingelt es? Oder weht ein Telegramm?)
"Könnten Sie für mich ein paar Besorgungen machen?" (Das Glück liegt auf der Straße!) ALLES EINBILDUNG. "Natürlich." Was für eine Frage. Muß man sich doch nicht schämen. Vielleicht habe ich sie/Sie auch nur falsch verstanden.
Was ich denke, will er wissen, DER MUND. Hätte ihn anders beschäftigen sollen. (Hab ich nicht dran gedacht.)
Netz nehmen und. Im Hof. Der erste Eindruck. Mit anderen Augen. Andere Worte. "Kälte ist beschnitten und trifft an empfindlicher Stelle." Einsam geschoben verschlägts mir den Atem. (Das kann ich doch nicht sagen.)
Vom schönen Ineinanderstürzen von Personen der unterschiedlichsten Geschlechter in der vollbesetzten Straßenbahn (erst kommt ein Ball/ dann ein Kind/ Bremse!), möchte ich schweigen. (Mich erwischt wohl wieder so ein Mann meines Lebens mit Aktentasche und Webpelzkragen auf raschelndem Stepp ...).
Aus der geplatzten Hose ein vernehmlich feines Klimpern. Flüssiggefüllte Bonbons, denk ich. "Platz für mehr Fahrgastmaterial" dringt an Ohren, die anderes hören wollen.
"Ja, ja, ja ..." Der Prinz blüht auf, bricht knisternd aus und zum Sprung. Bereit ...
In den Flug über Matratzen mischt sich ein Schrei, wie ein Stich, wie ein ein ein Einbruch in den Wohnsitz des großen Gefühls. Verwegen er, stumm wieder ich. Fließende Bewegung. Ort der Begegnung. Neuland unterm Pflug (?) Ob ich einen Kaffee will. ?? Kaffee! Ich? Ja. Ja. An der Maschine verspricht es spät zu werden. Schreiben. Tippen. Denken. Glaube/Liebe/Hoffnung.
Augenblicke später. Oder Jahre. Oder eine Ewigkeit. (Das Vögelchen, das alle tausend Jahre sein Schnäbelchen an einem diamantenen Berg wetzt ...). In der Luft der Geruch einer überfordert schmorenden Steckdose. Ach, dieser (DIESER!) ist zuviel für mich. In seiner Rüstung. Haut ist keine Entschuldigung und Berührung wie mit Metall in Rotglut. Oder den Griff einer Autotür bei minus zwanzig Grad (Schwan kleb an!). Verbrennungen leiden Vampire bei Berührung mit einem Kruzifix. "LIEBER". Lieber nur zusehen (Zirbeldrüse), wie er sich selbst fasst.
Das Schlachtfeld stochert nach Nahrung ab: die Wißbegier. Nebel kommt auf. (Die vierte REM-phase heute!). "Talk dirty to me ..." (Zitat!)
Im Gesträuch längs des Wegs Geraun und Gewisper. Zappelnde Äste wie Schlangen mit Blättern. Luftschlangen. Lustwurzeln. Manöver, denk ich, und geschickt getarnt, die Jungs, die denken an alles. Ach, was ich denke (die Wißbegier). Ach was. Ein Traum:
"Ich liege auf einer kuhligen Couch und kotze." (Reicht schon). Ich kann überhaupt nicht mehr aufhören. Das läuft alles zu einer Pfütze zusammen, in der ich liegen muß. Und ich bin ganz und gar schlickrig. Es ist mir schrecklich peinlich, zumal gegenüber Stuhlreihen aufgebaut sind, vollbesetzt mit Leuten. Und Udo Lindenberg. Der küßt eine der sitzenden Frauen. War ja klar. Doch dann ... kommt er ... zu ... mir ...
Ich zu mir: sollte heizen. (Sowas denk ich nämlich!). Der Nebel: Die Schwaden ringeln sich um die Knie meines Herrscherdarstellers, des Burgbergselbsthelfers, der jetzt in fahlem Violett erscheint. (Träume/Schäume).
Draußen ein Schneemann, der "Freude im Advent!" ruft und mit der Nase in Knecht Ruprecht drängt. "Nicht wieder mit der Nase" ... Mein Besatzer stutzt.
Der Nebel steigt. Auf Nebelhöhe des ausschweifend arbeitenden imaginären Akteurs in der Zimmermitte. Ach, der Dampf. Fällt aus seiner Lendenzigarre.
Seinem Glimmstengel. Ringlein blasen. Schießte mir ein. Ich nenne ihn meinen lieben guten Knöterisch und er wird lyrisch. "Die eine Hand ins Bauernfrühstück geschoben, mit der anderen hab ich nur an Dich gedacht." Oder noch einen Kaffee? Nein. Jetzt nicht. Danke.
"Ja, ja, ja ..." Jetzt denk ich ein jugendliches Pärchen mit hochgetürmten Rucksäcken und viel Frisur. Auf der Landstraße. Überrannt. Straff durchtrainierte Muskeln müssen sich beweisen, wenn wallendes Blut dem Abwurf von Gepäck keine Sekunde billigt. (Knirschend berstende Mitbringsel beim Geroll übern Randstreifen und Unfallgefahr!). Aber damit macht man keine Witze!
"Im Container auf dem Hof brennen Matratzen." Lodern wie nie. (Sag nichts und frag nicht, ich küss dich ...) Der Nebel, der Nebel. Neben dem Container steht ein Freund mit einem Einweckglas. Dreiviertelgefüllt mit sämiger Flüssigkeit.
"Alles von Heute." Er erzählt von der Sammlung seiner Freundin, die die schwarzen Röllchen, die ihr "die Männer" von der Haut gerubbelt haben, in kleinen Behältern aufbewahrt. (Name/Datum).
"Zeitalter einer neuen großartigen leiblichen Erlebnisbereitschaft." Grenzenloser Genuß. "Puddingspeitsche", sag ich. (Unter Sexualstörungen leidende Männer bei einem zwischenunmenschlichen Magazin gekochte Spaghetti in rohe Makkaroni fädeln lassen. Rote, heiße Ohren ...). "Frauen sind schrecklich und Männer schwul oder dumm." Ach, du, das kann ich dir doch nicht erzählen, doch nicht jetzt. "Mein Fischers Unzertrennlicher (Vogel, also ein Tier, also nicht
du!) hatte HINTERHER immer einen epileptischen Anfall." (War das jetzt falsch?) Na gut, vielleicht besser: "Die Matratzen schlagen wilde Flammen (MANNSHOCH!), Qualm und Nebel überall. Die Luft wird knapp. Der aufgebaute Gigant pumpt sich in tiefes LILA. Der Freund im Hof schraubt sein Glas
wieder auf. Die Militärs reifen in aufkommenden Fön. Und all die andern ...".
Ja, ja, ja. "Ich denke an Sodomie und war auch schon dreimal da, weil sich das so gehört." (Wieder falsch!). Dreimal schwarzer Kater. Ich liebe dich. Du bist gut. Und das stimmt auch. Ich sehe die andern nicht mehr. "Elke, die Ratte, du weißt, hatte mal einen Freund und der Freund wohnte auf einem Berg, der war fünfhundertzweiunddreißig Meter hoch und glitschig, weil es immerzu geregnet hat, so wie heute ... und ..." zu dunkel. Nacht in meinem Reich. Wir halten uns das Maul und. Halten. Kurs. Kuss und. Materie verdichtet sich und steigt. Lebensschub. Kraftquell. Steigt. Rappelt sich. Aus Schleuderrümpfen, Zeppelkriegern, Heckenschützen, Fleischhaken, Kurztretern ... ALLMACHTSQUEEN ...
Ja, der Mann meiner Träume, den Handanleger, links Köpfe, rechts Frauengestalt und Eiffelturm (Tätowierung/"Junge Welt" vom ?), zerreißts in der guten Stube im Stück. Blödes Stück. Großkotz. Fantomas: Ah, das leuchtet ja! Lachsfarben! Phosphoreszierend aus der Röhre steigt, erhaben und grandios, eine Säule, eine Fontäne - ein Feuerwalzenwerk. Knatternd und glitzernd zu Boden. Ein feiner, brüchiger Staub. "Stopfpilz" (-wucht!). "Atommorchel" (-schlag!). Sinne schwinden. Von irgendwoher plötzlich Musik. (Wessen? Spieluhr??) H O C H B A R O C K. Sinne geschwunden.
So fuhrwerken die Organe vor sich hin.
SO MUSS DIE LIEBE SEIN.
Im Licht einer entzündeten Wirklichkeit. Entziffere ich. Die erbrochene Tür. Das aufgerissene Fenster. VIEHTRIEB! Das Zimmer wie nach der Explosion eines Schnellkochtopfes. Tapete schlägt. Blasen. An den Scheuerleisten ...
"Zum Schluß hab ich ihr (Elke) einen Gummifrosch gekauft und versucht, sie auf den Stöpsel zu setzen."

NACHSATZ:
Eine Schweißperle verliert den Halt und stürzt, platzt mir zwischen den Augen in zwei Teile ... Otto von Guericke ...

 

VOLLZUG/ HAARKLEIN

Biographie erfinden - und - in Gang - gesetzt - den Fall - dem Selbstlauf - gelassen - die eigne - parallele - Existenz - unmittelbar - neben sich - gewußt - wie
- gewitzt - wittert - wie - im Traum - wie in Bildern - im Guten - Glauben - allein - der Leib -

wie Billard - der Schädel - die Hand - das Auge - Karambolage - übern Tag - haarklein - gerissen - die Zähne - die Hand - beißen - die füttert - Geschichten
gehn hoch - gespreizt in die Ziele - die leeren - Hülsen - nach der Detonation - im Raum - verteilte - Rollen - überall unaufgeräumt - die Orte der Handlung -
vervielfacht - zerstückelt - und neu - montiert -

Ereignisse anziehn - damit man nicht friert - übereinander - gute Stücke - mit der Naht - nach außen - manchmal - mit Absicht.

(aus KONTEXT 5, März 1989)

 

 

Cornelia Jentzsch ELSE GABRIEL, AUTO-PERFORATIONS-ARTISTIN

 

Das erste vis á vis mit Else Gabriels Fotografien hatte ich vor gut drei Jahren an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, als einige Bühnenbildstudenten, u.a. Gabriel, Görß und Brendel, die handwerklichen Pusseleien an den Puppenbühnen der schulischen Ausbildung mit eigenen Aktionen ergänzten. Einen ganzen Gang lang hingen fotografische und malerische Versuche, Dokumentationen von außerschulischen Bewegungen eingeschränkter Studentenkörper. Else fiel mir auf ob ihrer durchdachten und detaillierten Konzeption einer Zwei-Mann-und-Karton-Aktion in einer ehemaligen Räucherei, deren Ergebnisse sie fotografisch und textlich dokumentierte. Für sie heute ein Anfang, über den fast nicht mehr zu reden lohnt, für mich damals eine Entdeckung, wobei mich weniger die spartanischen Dokumentations-Fotos interessierten als insgesamt die umgesetzte Idee.

In einer ihrer Ausstellungen ("ONE WAY/SchwarzSchild") begann deutlicher zu werden, was sie inzwischen am Foto zu faszinieren begonnen hatte: die Manipulierung eines solchen in Prozeß und Ergebnis. Aus den anfangs fast beiläufigen und visuell unattraktiven Fotografien waren Fotoinszenierungen geworden. Aus der konzeptionellen Fotoarbeit - die Idee einer Aktion umzusetzen und mittels Foto festzuhalten - schälten sich Bilder heraus, die immer mehr Elses inneren, eigenen Bildvorstellungen entsprechen. Dabei durchwandert sie die technischen Gefilde der Fotografie, ohne in die Spitzen-Stickereien der Haus-, Hof- und Familienfotografen der fünfziger/sechziger Jahre mit ihren Fotogrammen, Solarisationen und ähnlichem zu verfallen. ("Es geht nicht um technische Spielereien, sondern um ein Ausloten von technischen Möglichkeiten, um meine Faszination von Fotografie mit adäquaten Mitteln festhalten zu können.")

Sie baut ihre Bilder gleich Vexierbildern. Nach genauem Studium - sofern man nicht den Bildern in ihrer Gesamtheit erliegt - kommt man erst zum Ausgangsobjekt: Regenwürmer, Schneebälle, ein kleines Blechköfferchen mit der schönen Aufschrift ONE WAY, die eigene Haut... Dabei bevorzugte Else bislang Fotoobjekte, die Relikte (Aufhebenswertes, Teile eines gewesenen Wichtigen) aus eigener Kinderzeit sein könnten. Die Fotografin wiederholt platonisch die unschuldigen Lustanwandlungen und Grausamkeiten eines Kindes wie: Was passiert, wenn ich den Wurm zerteile? Else läßt ihn sich statt dessen in ausgedehnten Belichtungszeiten (bis zu Stunden) übers Papier winden und seziert übers Kameraauge. Die Perversionen eines Erwachsenen. Das Sprach-Los des Fotografen, Bilder als Endlosschleifen produzieren, als Möbiusbänder (sooft man sie zerteilt - sie bleiben immer miteinander verbunden).

Im Verlaufe ihrer Liaison mit der Fotografie wurde zunehmend das Ausgangsfoto uninteressanter. Wichtig dagegen die erneute Bearbeitung, im Moment durch Umkopierungen, Einarbeiten von Papierkontakten und Abfotografieren von Negativen. Else bevorzugt die "Arbeit im Dunkeln, das Fischen im Trüben". Die Dunkelkammerarbeit wird so zum eigentlichen fotografischen Prozeß - anders als für den Dokumentarfotografen, der das helle Tageslicht nicht scheut und hand- und bißfeste Abbilder bevorzugt. Die Sinne und Augen verblitzt an den Geschehnissen einer sogenannten Realwelt, kriecht statt dessen Fotograf Else ins Innerste und betreibt dort ihre Wühlarbeit. Die Arbeit an den Bildern wird zur Meditation. Eine Zwiesprache, in der sich etwas gegenseitig klärt und beeinflußt.

Eine Entwicklung unter der Hand nahmen Elses Texte. Das Wort wurde erstmals zur Räucherei-Aktion hinzugezogen, um die Idee mit einer Gebrauchsanweisung und technischen Beschreibung flüssiger zu machen. Während der Arbeit an der darauffolgenden Ausstellung "ONE WAY/SchwarzSchild" veränderten sich die Texte. Die Aneinanderreihung von Assoziationen, die während des Entstehens der Ausstellungsfotos auftauchten, bekamen plötzlich das Gesicht eines literarischen Textes. Seit dem behält sie das textliche Parallelogramm bei. Stellenweise löst es sogar das Foto ab. Nicht aber das Bild. "Die Sprache ist kein Konkurrent des Bildes. Sie ist mein Mittel, um Bilder auszudrücken." An der Sprache reizt Else die Spontanität, in der sie mit ihr umgehen kann. Unmittelbarer als beim Foto läßt sich ein gesponnener Faden verfolgen, eine Kette von Assoziationen bilden, findet sich ein Satz, mit dem man weiterarbeiten kann. Und noch einen Vorteil bietet die Sprache dem Fotografen, der ohne seine aufnahmebereite Kamera in der Hand, seine zahlreichen Filmrollen, Entwicklerlösungen und Vergrößerungsgeräte aufgeschmissen ist: sie ist immer parat und platzsparend.

In der Fotografie liebt Else "Bilder, die aus dem Nebulösen kommen" - in ihren Texten verarbeitet sie Traumbilder, die sie in Schlaf- und Wachzuständen überfallen. Analog den REM-Phasen eines Traumes setzen sich ihre Texte als rapid brain movements frei. Ein vermutlich nur vom Urheber zu entwirrendes Puzzle aus Traum-Versatzstücken und traumatischen Satz-Stücken. Wie sie als Fotograf die Negativstreifen ihrer Fotos sammelt und sortiert, so hortet sie auch mittlerweile an die 50 Träume in einem Traumbuch. (Als unentwegter Materialsammler verwertete sie ebenso allerlei angeschwemmte Nutz- und Fundobjekte als ready mades, siehe "Tänzertitte und Bürste", in der Gemeinschaftsausstellung an der HfBK Dresden 1987).

Obwohl sie als sich mit Träumen Befassende vermutlich auch die dazugehörige obligate Portion Freud genossen hat, dienen besagte Träume weniger einem psychologischen Tiefenschlüssel als dem Auffüllen ihrer Bilder-Vorratskammern. Auf diese Weise entstanden die längeren Texte wie "Nichts Weniger Als", den sie für eine im Selbstverlag herausgegebene Mappe schrieb. Else nennt das, was sie tut, auch "Unschädlichmachen von Gefühlsüberschuß". Oder anders gesprochen, sind es kalte Umschläge gegen die kalten Anschläge (Titel einer Ausstellung: ONE WAY/SchwarzSchild/Kalte AnSchläge) nicht nur ihrer eigenen Finger auf der Maschinentastatur, sondern gegen allerlei Realitätlichkeiten, Überschläge einer Künstlerseele und mitunter auch kalter Aufschläge. Sich selbst
nennt sie AUTO-PERFORATIONS-ARTIST - wobei das Schreiben nur ein Weg ist, ihr Innerstes nach außen zu kehren und andersherum. (Perforation ist die Bezeichnung für die Durchlöcherung einer ansonsten dichten Verpackung, um Luft hindurchzulassen und den Inhalt vor Fäulnis zu bewahren. Und Artistik bedeutet sowohl die abstrusen und unsinnigsten Verrenkungen einer Kautschuktänzerin als auch Hochseilbalanceakte und einen Kopf im Löwenrachen.)

Im Gegensatz zu ihren längeren Texten, die bildorientiert entstehen, sind ihre Kurztexte assoziative Wort- und Gedankenspiele und nicht selten oft nur aus ihrer Biographie entschlüsselbar ("Es ist das Transplantat des karierten Ranzens, das meinen Kopf von anderen unterscheidet"). Jedoch ist die Inflation und Abgeschliffenheit deutscher Sprache nicht ihr Thema. "Meine gesamte Arbeit entsteht eher aus einem gigantischen Spieltrieb heraus - und das ist nicht unbedingt einfacher."

 

 

ITERATION*

für diese überlegungen gab es zwei anregungen.

zum einen einen längeren artikel in einer wissenschaftlichen zeitschrift, der beschrieb, daß zunehmend computer in den naturwissenschaften aufgaben der materiellen wirklichkeit simulieren: in der computerchemie werden hypothesen nicht mehr durch praktisch durchgeführte experimente bestätigt, sondern durch berechnungen und erprobungen vermittels computer für wahr erklärt. in gleicher zeit kann der computer mehr experimente durchführen als der chemiker, und er vermag detaillierter zu arbeiten. da aber die chemie traditionell eine experimentelle naturwissenschaft ist, lehnen viele chemiker diese "chemie ohne chemikalien" ab. es sind vermutlich weniger die ergebnisse, die sie nicht überzeugen können, als die herkömmliche auffassung von "wahr" und "wirklichkeit", die sie davon abhalten.

die bilder, die ein computer beispielsweise von den strukturen eines moleküls aufzeichnet, ähneln eigenartigerweise in ihrer konstruktion und farbigkeit den abstrakten bildern der expressionisten, den farb- und formenkompositionen eines klee oder kandinsky. auch die künstler mußten ihre bilder erst als "wahr" beweisen, denn erst das prädikat wahr bedeutete (in der maßtabelle von: übereinstimmung mit dem, was als realität empfunden wird) eine gesellschaftliche relevanz. klee konterte mit dem vielbenutzten satz: "kunst gibt nicht das sichtbare wieder, kunst macht sichtbar." und so könnten die chemiker aus dem gleichen aufsatz ("schöpferische konfessionen") weiter zitieren: "früher schilderte man dinge, die auf der erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern
gesehen hätte. jetzt wird die relativität der sichtbaren dinge offenbar gemacht und dabei dem glauben ausdruck verliehen, daß das sichtbare im verhältnis zum weltganzen nur isoliertes beispiel ist und daß andere wahrheiten latent in der überzahl sind. die dinge erscheinen in erweitertem und vermannigfachtem sinn, der rationellen erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend."

es wiederholt sich eine irritation, die sich in der kunst bereits lange zuvor gezeigt hat und auch die philosophie ist davon nicht verschont geblieben, die philosophen ernähren sich noch immer von der ungeklärten frage, was das kriterium sei, das etwas für eindeutig wahr erklären konnte. und noch immer funktioniert die abbildbare realität als juristische instanz. dabei hat längst die natur selbst die irrsinnigkeit dieser frage widerlegt (mit hilfe jener modernen technik, die nicht unwesentlich ursache dieser irritation war): frauen sehen, wenn sie auf die gleiche rote farbtafel wie männer blicken, ein rot in einer anderen farbnuance als jene, und keiner von beiden könnte dem anderen zeigen und nicht einmal erklären, WAS er sieht, denn beide benutzen den begriff "rot" - allein die tatsache wäre als wahr zu benennen, DASS beide sehen, was aber nichts zur frage nach dem rot beiträgt (oder fast nichts). derjenige, der hier ein urteil zu fällen hätte, würde den trojanischen krieg auslösen.

die zweite anregung kam aus der intensiven konfrontation mit einem farbfernsehgerät während des auskurierens einer grippe. daraufhin war folgender text entstanden:

das fern-sehen ist teil einer versuchten manipulation (handhabung) der wirklichkeit im sinne von: begriff BILDen, um mittels begrifflichen und bildlichen ordnens die wirklichkeit nach erdachtem muster zu arrangieren. jede handhabung benötigt ihr besteck: buchstaben-, zeichen-, farb- und klangmaterial sowie kombinationen aus diesen mit seelischen und geistigen prozessen wie schrift, bild, musik ...

in diesem sinne bedeuten fernsehen, video, film (bedingt fotografie) eine neue technisch-philosophische generation, denn sie bestehen als abbild der wirklichkeit aus reinen kombinationen von ihr mit sich selbst, die angehalten und vermittels der genialen verknüpfung von licht und schatten wiederholbar gemacht wurden.

das farbfernsehen, ebenso wie die anderen medien der lebenden bilder, enteignet die wirklichkeit nahezu in perfektion, indem es die gestalt des realen benutzt: beweglichkeit, akustik ... farblichkeit. im medium der geschriebenen sprache (buch, zeitung...) läßt sich das reale im prozeß des rezipierens erkennbar abgrenzen, da sich die symbole der übertragung - papier, farbe, buchstaben - in unveränderter gestalt zeigen, obwohl verschiedene inhalte transportiert werden (die musik wäre vielleicht gesondert zu untersuchen, ebenso die malerei... möglicherweise müßte der ansatz überhaupt ganz anders erfolgen?). es besteht eine autarkie des rezipierenden, da während der gedanklichen einverleibung des nachempfundenen/-gestalteten abbildes zwischen ihm und dem original eine bewußte unterscheidung möglich ist und die bilder erst im kopf und nicht davor entstehen. im farbfernsehen ist dieser trennungsstrich verschoben, er liegt bereits im medium selbst, irgendwo im labyrinth dieser technischen apparatur oder genauer: die manipulation liegt bereits im machen.

enteignet werden die wahrnehmungen, der augenschein ist kein verläßliches mittel mehr, nur noch der gedanke an den augenscheinlichen gegenstand, die fünfheit der sinne muß dichter zusammenrücken, ein verlust der kontrolle über das, was wirklichkeit ist, ist unvermeidlich. die art des eingriffs wird der wirklichkeit immer ähnlicher, benutzt ihre gestalt, um in ihre bewegungsabläufe vollständiger und wirkungsvoller einzutauchen. letztendlich bleibt, daß sich
ursprüngliche und kopierte wirklichkeit im abbildabdruck vollständig überdecken, gleichstark und ähnlichkomplex. die ereignisse finden nicht mehr in der wirklichkeit statt, sondern im spiegel, weil sie aus dem abbild heraus die empfindungen auslösen, die wirklichkeit kann zum bild werden, wenn die bilder sich als wirklich einprägen.

farbfernsehen ist reproduzieren, ohne ein eigenes muster wie in der malerei oder der (schrift)sprache zu erfinden, der begriff perfektion wird der simplifizierung zugeordnet, die struktur der sprache, ihr hoher abstraktionsgrad wird überflüssig, die beweglichkeit des geistes für die decodierung einer information wird eingebüßt. der sinn fürs originale ist gestört und wird in der redundanz zerstört werden. das gerät ist das blaupapier für eine wirklichkeitskopie. der prozeß der übertragung gleicht der abnahme einer totenmaske: es ist gips, was zurückbleibt. das, was es verlassen hat, ist das, was es trägt, ihm seine bedeutung gibt.

ging es im fall der abstrakten bilder darum, daß etwas für "irreal" erklärt wurde, weil es dafür keine entsprechung im realen gibt, so geht es hier darum, daß etwas real sein muß, weil es alle merkmale des realen trägt, aber nach den üblichen erfahrungen mit dem realen nicht als solches anerkannt wird. es ist die "agonie des realen", wie baudrillard es formulierte, denn "heutzutage funktioniert die abstraktion nicht mehr nach dem muster der karte, des duplikats, des spiegels und des begriffs... es geht um die substitution des realen, d.h. um eine dissuative (dissuasion: (frz.) das abbringen, das widerraten, das abraten, das abwiegeln) operation, um die dissuasion realer prozesse durch ihre operative verdoppelung, eine programmatische, fehlerlose signalmaschinerie, die sämtliche zeichen des realen und peripetien (durch kurzschließen) erzeugt."

die welt wird zum second hand shop. sie wird es nicht wirklich, sie wird dazu erklärt, weil die begriffe, mit denen wir diese erklärungen vornehmen (wahr, wirklich), in eine krise geraten sind. wenn der begriff seine eindeutigkeit verliert, muß er abgeschafft werden. kandinsky gab, bei der analyse seiner bilder, eine anregung: "die vom geiste aus der vorratskammer der materie herausgerissenen verkörperungsformen lassen sich leicht zwischen zwei pole ordnen. diese zwei pole sind: 1. die große abstraktion, 2. die große realistik. ... ebenso, wie in der realistik durch das streichen des abstrakten der innere klang verstärkt wird, so auch in der abstraktion wird dieser klang durch das streichen des realen verstärkt."

das heißt, dort, wo das bild eines moleküls existiert, kann nicht das molekül selbst sein, und dort, wo das fernsehbild strahlt, hat das original seinen platz verloren. oder: in mein spiegelbild passe ich selbst nicht mehr hinein. nicht die begriffe "wahrheit", "wirklichkeit", "realität" dürften eine relevanz bestimmen, sondern allein die tatsache des begreifens von der existenz einer AUSSCHLIESSLICHKEIT. das, worin meine individualität und möglichkeit liegt, ist zu unterscheiden, welches von beiden jetzt für mich relevant ist. nichts mehr, aber auch nichts weniger.

* iteration: in der mathematik schrittweises rechenverfahren zur annäherung an die exakte lösung.

(aus KONTEXT 5, März 1989)

 

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