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Konrad Weiß DIE NEUE ALTE GEFAHR. Junge Faschisten in der DDR
Yury Winterberg SCHLITZE IN DIE CAPSULA INTERNA

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Konrad Weiß DIE NEUE ALTE GEFAHR. Junge Faschisten in der DDR

 

November 1987, Oranienburg bei Berlin: Hier, am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, wird eine Gruppe junger Faschisten festgenommen. Monatelang haben sie in Zügen, in Gaststätten, auf offener Straße Menschen überfallen und terrorisiert und dabei keinen Hehl aus ihrer Gesinnung gemacht. Bei den Verhafteten findet die Polizei faschistische Abzeichen und die Hakenkreuzfahne.

Dezember 1987, Berlin-Mitte: Vor dem Stadtbezirksgericht wird gegen vier Männer verhandelt, der jüngste siebzehn, der älteste dreiundzwanzig Jahre alt. Sie waren mit anderen Rechtsradikalen in die Zionskirche eingedrungen, um die "roten Punks aufzumischen, aufzuklatschen, aufzurauchen". "Sieg Heil" und "Juden raus aus deutschen Kirchen" brüllend, haben sie feige und brutal junge Frauen und Männer zusammengeschlagen.

Januar 1988, Berlin: Erneut stehen acht faschistische Gewalttäter vor Gericht, die an den Ausschreitungen in der Zionskirche beteiligt waren. Es wird deutlich, daß das eine "gesamtdeutsche Aktion" war; auch Skinheads aus Westberlin sind mit auf die Hatz nach Andersdenkenden, nach Punks und "schrägen Leuten" gegangen.

Februar 1988, Bezirk Halle: Vier jugendliche Täter, die auf dem Städtischen Friedhof in Weißenfels schlimme Verwüstungen angerichtet haben, werden verurteilt. Einer hat sich zudem zu verantworten, weil er bei einer Schlägerei einen Mann roh mißhandelt hat.

März 1988, Berlin: Sechs Jugendliche werden wegen antisemitischer Ausschreitungen verhaftet. Auf dem historischen Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee haben sie mehr als zweihundert Grabsteine umgeworfen, beschmiert, geschändet, zerstört. Mehrere Nächte lang trieben sie, faschistische und antisemitische Parolen grölend, ihr Unwesen. Die Volkspolizei-Inspektion Prenzlauer Berg, die Tag und Nacht besetzt ist, grenzt unmittelbar an den Friedhof. Hätte man dort nicht schon nach den Zerstörungen der ersten Nacht aufmerksam werden und wachsamer sein müssen?

April 1988, Halle: Fünf junge Männer - Schüler, Lehrlinge, Jungarbeiter - stehen wegen eines rassistischen Verbrechens vor Gericht. Gemeinsam haben sie einen jungen Mocambiquaner zusammengeschlagen. "Einen Nigger aufklatschen", so nannten sie das.

Mai 1988, im Personenzug von Riesa nach Elsterwerda: Ohne jeden Anlaß beschimpfen jugendliche Arbeiter zwei Afrikaner, überschütten sie mit üblen rassistischen Parolen. Sie ergreifen einen der beiden Ausländer, schlagen auf ihn ein, treten ihn mit Füßen und stoßen ihn schließlich aus dem fahrenden Zug. Der Mann wird schwer verletzt. Die anderen Fahrgäste schweigen, keiner hat eingegriffen.

Dieses bedrückende Kalendarium der Gewalt, des Antisemitismus und Rassismus ließe sich fortsetzen. Man möchte meinen, es wären Nachrichten aus dem Pogromjahr 1938 oder solche, die aus einer fernen Weltgegend kommen. Daß dies alles sich heute und hier in unserem Land zugetragen hat, macht betroffen und ist schwer zu ertragen. Daran ändert auch das Wissen um die erfolgte Bestrafung nichts. Und es schmerzt mich zutiefst, daß ich junge Menschen, meine Mitbürger und nachgeborenen Zeitgenossen, Faschisten nennen muß.

Dennoch: Was hier zitiert wurde, ist nur die spektakuläre Spitze des Eisberges; längst nicht alle rechtsradikalen Aktivitäten und Gewalttaten sind öffentlich geworden. Die Fälle, die ich genannt habe, wurden in der Tagespresse und in Lokalzeitungen gemeldet. Gelegentlich gab es auch Hintergrundinformationen und Wertungen, so in "Sport und Technik" (Heft 6/1988, S. 20 ff.) und im "Magazin" (Heft 8/1988, S. 32 ff.). Tendenz dieser Veröffentlichungen war es, die faschistischen Ausschreitung als Einzelerscheinung, als Perversion gewissermaßen, und in Form und Inhalt aus dem Westen importiert darzustellen und zu verharmlosen. Nach dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die neuen faschistischen Gruppierungen entstehen und gedeihen konnten, wurde nicht gefragt und sollte nicht gefragt werden. Ein Kommentar in der evangelischen Wochenzeitung "Die Kirche" vom 26. Juni 1988, der dem nachging, wurde Anlaß zum Verbot der ganzen Ausgabe. Lediglich in der "Weltbühne" (Nr. 35 vom 30.8.1988, S. 1115) wird in einem Leserbrief vor Verharmlosung und zu einfachen Antworten gewarnt.

Mittlererweile befassen sich zwei Soziologenteams, das eine für die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, das andere für das Ministerium des Innern, mit Skinheads und anderen faschistischen Gruppen. Die soziologische Analyse dürfte jedoch ebenso wie die publizistische Darstellung des neuen Faschismus in der DDR erschwert werden durch nahezu perfekt funktionierende Selbstschutzmechanismen. Das Wissen, daß schon das bloße Äußern faschistischer Ideen und Ideale strafwürdig ist, und die strengste Kontrolle durch die Gruppe und ihren Führer macht es fast unmöglich, authentische, gar programmatische Aussagen zu erhalten: "Wir sind keine Selbstanzeiger". Das Verschleiern der faschistischen Überzeugung auch gegenüber Vernehmern und Untersuchungsrichtern wird offensichtlich trainiert; sie selbst nennen bezeichnenderweise die Untersuchungshaft ihre "Akademie".

 

Faschisten auf dem Vormarsch

Zu Beginn der achtziger Jahre gab es in der DDR nur vereinzelt Skinheads. Sie ließen zwar auf ein gewisses rechtes Potential schließen, das aber noch amorph und unorganisiert war. Eine ideologische Konzeption war zu jener Zeit nicht erkennbar, Aktionen und Gewalttaten schienen spontan zu sein. Man mußte annehmen, daß die Skinheads eine unter vielen anderen jugendkulturellen Strömungen seien, die zu jener Zeit entstanden waren, und daß sie als Mode irgendwann von selbst verschwinden würden. Es schien undenkbar, daß junge, hierzulande erzogene Menschen zu neuen Trägern faschistischen Gedankengutes werden könnten. Ich selbst habe mich noch vor zwei Jahren in diesem Sinne geäußert.

Ungefähr seit 1983 scheinen sich die neuen Faschisten dann organisiert zu haben. Zuerst sind solche rechten Gruppen in den Fußballstadien in Erscheinung getreten; hier verlief die Entwicklung bei uns ähnlich wie in anderen Ländern. Blieb es zunächst bei scheinbar unpolitischen Randalen und Prügeleien, zumeist unter dem Einfluß von Alkohol, so gehört es inzwischen durchaus zum Fußballalltag in der DDR, daß Gewalttaten mit rassistischen und antisemitischen Beschimpfungen gepaart sind. Auch im irrationalen Haß zwischen Sachsen und Berlinern, der eigentlich immer nur belächelt wird, manifestiert sich faschistische Ideologie. Ein vorläufiger trauriger Höhepunkt war das Spiel zwischen Lok Leipzig und Union Berlin am 23. April 1988 in Leipzig, bei dem die Volkspolizei mit Gummigeschossen gegen die verfeindeten "Fans" vorgehen mußte.

Neben den durch ihr martialisches Äußere auffälligen Skinheads gibt es eine zweite, wie ich meine, gefährlichere Gruppierung: die Faschos. Sie sind die eigentlichen Träger der faschistischen Ideologie. Nach außen hin geben sie sich unauffällig, erscheinen angepaßt, sind gute Arbeiter. Insgeheim aber basteln sie in geschlossenen Zirkeln an ihrer altneuen Weltanschauung.

Von diesen Entwicklungen sind die Verantwortlichen in Staat und Partei wohl überrannt worden. Waren sie zu Beginn der achtziger Jahre zu sehr damit beschäftigt, gegen die gewaltfreien Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen ins Feld zu ziehen? Hat sich auch der sozialistische deutsche Staat als auf dem rechten Auge blind, zumindest aber sehschwach erwiesen? Als am 29. Mai 1985 das DDR-Fernsehen das Massaker im Brüsseler Heysel-Stadion live übertrug, habe ich telefonisch zuerst den Sendeleiter in Adlershof, dann den Chef vom Dienst im Zentralkomitee der SED aufgefordert, die Sendung abzubrechen. Die Antwort war: Wir werden weiter übertragen. Unsere Menschen sollen sehen, was im Kapitalismus möglich ist.

Ähnlich argumentiert Thomas Heubner in seinem Buch "Die Rebellion der Betrogenen" (nl konkret 67, Berlin 1985, S. 167 ff.). Auch noch in der neusten Auflage (1988) delegiert er das Problem ausschließlich an den Westen: "Die Skinheads sind in ihrem Denken und Handeln nur ein Spiegelbild der kapitalistischen Gesellschaft." Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen! Anfang 1988 schätzte man die Anzahl der in faschistischen Gruppen organisierten jungen Leute in der DDR auf ungefähr eintausend. Ab 1986 hatten die Skinheads begonnen, die als links und proletarisch geltenden Punks zu terrorisieren. Inzwischen ist die Punk-Szene bei uns so gut wie ausgelöscht; einige sind zu den Rechten abgewandert. Andere "Bunte", Gruftis, Ausländer, Farbige, Mitglieder gewaltfreier alternativer Gruppen, sind die neuen Opfer der Faschisten. Von 1983 bis 1987 sind ihre Gewalt- und Straftaten ums Fünffache gestiegen, aufgeklärt und verfolgt werden konnte nur ein geringer Teil.

Inzwischen muß das "Potential politisch motivierter Gewaltbereitschaft" viel höher eingeschätzt werden; die Faschisten haben Zulauf. An den Berufsschulen rechnet man mit zwei bis drei Rechtsradikalen pro Klasse, große territoriale Unterschiede soll es nicht geben. Der größte Teil, etwa dreiviertel, rekrutiert sich aus den Jahrgängen 1962 bis 1970. Älter als sechsundzwanzig Jahre sind nur wenige. Auf Vierzehn- und Fünfzehnjährige hingegen übt die rechte Szene eine
starke Anziehungskraft aus.

Unter den neuen Faschisten finden sich sowohl Arbeiterkinder wie Söhne und Töchter aus intellektuellen und bürgerlichen Familien. Skinheads sind häufig proletarischer Herkunft oder Jungarbeiter. Die faschistischen Gruppierungen sind, anders als die übrigen informellen Gruppen, in denen junge Männer und Frauen numerisch ausgewogen vertreten sind, maskulin dominiert; Mädchen und junge Frauen machen weniger als ein Fünftel unter den rechtsradikalen Jugendlichen aus. In der Regel sind die der rechten Szene zuzurechenden jungen Männer und Frauen alleinstehend, sie heiraten, soweit dies gegenwärtig zu erkennen ist, überdurchschnittlich spät. Die entscheidende Frage, ob solche soziotypischen Merkmale zufällig entstehen oder Bestandteile eines Programms sind, ist gegenwärtig kaum zu beantworten.

 

Das Programm der neuen Rechten

Wer Skinheads und Faschos lediglich als prügelnden randalierenden Mob betrachtet, als eine Horde haltloser und von westlichen Idolen verführter Krimineller, für den stellt sich die Frage nach einem politischen Programm natürlich nicht. Das aber, der historische Vergleich drängt sich auf, war schon einmal in der deutschen Geschichte der verhängnisvollste Irrtum der Linken wie des Bürgertums. Heute, so scheint mir, ist es für viele Antifaschisten der ersten und zweiten Generation geradezu zum Glaubensbekenntnis geworden, daß der Aufbau der neuen Gesellschaft und eine vierzigjährige antifaschistische Erziehung, die es ja zweifellos gegeben hat, einfach nicht vergebens gewesen sein können; sie verdrängen jeden Gedanken an eine neue faschistische Gefahr in unserem Land. Es ist undenkbar für sie, daß junge Deutsche, die vom schrecklichen nationalsozialistischen Terror und von den faschistischen Massenmorden wissen, erneut dem Wahn der Rechtsideologie verfallen könnten.

Was überhaupt weiß man über die Gedankenwelt der neuen Faschisten bei uns im Land, der Skinheads und Faschos? Beiden Gruppierungen gemeinsam ist, daß sie ihre Identität aus dem Prinzip Gewalt beziehen. Nicht Demokratie oder gar Gewaltfreiheit, nicht die Ideale der französischen Revolution, nicht die des Sozialismus oder des Christentums werden als gesellschaftstragende Werte verstanden, sondern allein das Recht des Starken, des Herrenmenschen. Und das ist durchaus in politischen Dimensionen, nicht nur für die Gruppe oder die Gemeinschaft Gleichgesinnter gemeint. Deutlicher als die Skinheads beziehen sich die Faschos auf nationalsozialistisches Gedankengut. Hitlers "Mein Kampf", so ist zu hören, kursiert unter den neuen Rechten in der DDR. Aber auch aus antifaschistischen Schriften und Darstellungen bezieht man, unter ganz anderem Vorzeichen, Material für die ideologischer Schulung.

Skinheads und Faschos gemeinsam ist die Ablehnung des sozialistischen deutschen Staates, bei den Faschos sind auch Vorbehalte gegen die westdeutsche Demokratie auszumachen. "Wir treten ein für ein vereinigtes Deutschland. Die ganze Linke, das kotzt einen ja an in diesem Scheißstaat". "Rechtsradikal sein heißt, konsequent einzutreten gegen diese totalen Phrasenschreier, gegen die ganzen Jasager. Wir sind keine Jasager, wir stehen zu unserer Meinung." Die Faschos wollen die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1938. Sie lehnen es konsequent ab, aus der DDR auszureisen; hier, in der Beseitigung der sozialistischen Gesellschaft und im Kampf um ein vereintes Großdeutschland sehen sie ihr Wirkungsfeld. Bei den Skinheads ist eine solche politische Motivierung weniger deutlich ausgeprägt; die Haltung in dieser Frage dürfte beim anstehenden Differenzierungsprozeß innerhalb der neuen Rechten maßgeblich sein.

In Ansätzen sind auch "außenpolitische" Aktivitäten der neuen Faschisten zu erkennen. Konsequenterweise richtet sich ihr Haß gegen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die den faschistischen Staat zerschlagen haben. Bekannt ist eine rege Reisetätigkeit in die sozialistischen Nachbarländer; zur ungarischen, tschechoslowakischen, baltischen und ukrainischen rechten Szene scheint es Beziehungen zu geben. Manches spricht dafür, daß es auch ideologische Übereinstimmungen und eine gemeinsame Logistik gibt, zum Beispiel zur Beschaffung von Propagandamaterial, Wehrsportausrüstungen und Waffen.

Daß es auch Kontakte zu den Skinheads in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Ländern gibt, ist bekannt; Verbindungen zum politischen Neofaschismus in Westdeutschland sind zu vermuten. Ich meine aber, daß die Intensität dieser Kontakte, wohl infolge der offiziellen SED-Argumentation, eher überschätzt wird. Die Drahtzieher und führenden Köpfe des neuen Faschismus in der DDR, das ist meine feste Überzeugung, sind jedenfalls nicht im Westen zu suchen, sondern haben hier "überwintert" oder sind hier großgeworden.

In jüngster Zeit bildet sich bei den Faschos ein ausgesprochener Antiamerikanismus aus; die Rechten brauchen neue Feindbilder. Antisemitismus und Rassismus sind latent vorhanden; es gehört nicht viel Weitsicht dazu, um für die nahe Zukunft antisemitische Aktionen und Schmierereien vorauszusehen. Auf den Fußballplätzen, in den Kneipen der rechten Szene sind antisemitische Sprüche und Witze ohnehin an der Tagesordnung. Zu glauben, daß in der DDR die Wurzeln des Antisemitismus ein für allemal ausgerottet sind, wie das in diesem Herbst so oft zu hören war, ist reines Wunschdenken. Wenn in Arbeits- und Schulkollektiven antisemitische Äußerungen als harmlose Verirrung abgetan werden, wenn der §220 (2) StGB, die Verfolgung öffentlicher Äußerungen militaristischen und faschistischen Inhalts, eher zögernd zur Anwendung kommt, so ermuntert und bestärkt das nur die neuen Rechten.

 

Die Werte der neuen Rechten

In Arbeits- und Ausbildungskollektiven erfreut sich der Rechtsradikalismus ohnehin einer zunehmenden Akzeptanz. Die antifaschistische Abwehrfront in der Bevölkerung, so ein Insider, bröckelt ab. Das hängt ganz sicher mit den Werten zusammen, die von den Faschos propagiert werden. Dem unpolitischen Betrachter, dem Kleinbürger zumal, erscheinen sie offenbar als arbeitssame, ordentliche, disziplinierte junge Mitbürger, die nicht einfach in den Tag hinein gammeln, sondern wissen, wofür sie leben.

In der Tat wendet sich die neue Rechte vehement gegen die ansonsten recht verbreitete Null-Bock-Ideologie, gegen Ausreiser und Aussteiger, gegen eine gewisse Larmoyanz und Resignation mancher alternativer Gruppen. "Der Großteil der Jugend hier hat keine Vorbilder, die leben in den Tag hinein, haben bloß Kniff im Kopp. Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, haben sie nicht" so ein Skinhead aus dem Prenzlauer Berg. Anders die neuen Rechten: Sie sind stolz darauf, etwas zu wollen, ein Lebensziel, Ideale zu haben. Sie verabscheuen jede Form von Anarchie, lassen sich nicht hängen. Körperliche Ertüchtigung und gesunde Lebensführung gehören zum politischen Programm, in der Regel sind sie körperlich hervorragend trainiert: "Wir sind die Elite der deutschen Jugend". In dieses Bild paßt die gegenwärtig zu beobachtende Abkehr vom Alkohol bei einem Teil der rechten Szene. Andere bestimmende Werte und auch hier sind die historischen Vorbilder unschwer auszumachen, sind Persönlichkeitskult und Kameradschaftsgeist. Bei den wöchentlichen Zusammenkünften erzieht man sich gegenseitig zur unbedingten Gläubigkeit an die Idee und an die Idole. Ein Elitebewußtsein, ein gewisses rechtes Selbstwertgefühl wird in diesen Zirkeln regelrecht antrainiert. Jedes Gruppenmitglied hat sich dabei bestimmten Bewährungsritualen zu unterziehen, durch die die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt bewiesen und stimuliert und moralische Hemmungen allmählich abgebaut werden. Feige, hinterhältige Angriffe auf völlig Unbeteiligte sind dabei als "Mutprobe" üblich. An den Wochenenden sollen manche Cliquen sich zu regelrechten "Wehrertüchtigungscamps" treffen oder paramilitärische Übungen durchführen.

Nicht zufällig werden soldatische Werte kultiviert, Disziplin, Gehorsam, Ausdauer, Verläßlichkeit; insbesondere wird der Kameradschaftsgeist der faschistischen Wehrmacht beschworen. Man versucht, die rechte Ideologie an Soldaten der Nationalen Volksarmee heranzutragen und sucht unter ihnen Verbündete. Ob die faschistischen, verdeckt operierenden Propagandisten unter den Wehrdienstleistenden Zuspruch haben, ist schwer zu beurteilen; ausschließen kann man es sicher nicht. In bestimmten Einheiten jedenfalls, zum Beispiel bei den Fallschirmjägern, sollen ehemalige Skinheads besonders häufig anzutreffen sein.

Zum rechten Persönlichkeitskult schließlich gehört, daß verurteilte Gewalttäter zu Helden hochstilisiert werden. "Kamerad" Ronny Busse zum Beispiel, einer der Schläger beim Überfall auf die Zionskirche, wird in der Szene geradezu verehrt. Es ist zu fürchten, daß ohne sozialtherapeutisches Programm für viele die Haft tatsächlich zu einer "Akademie" wird, in der sich ihre Anschauungen festigen und ihr Selbstwertgefühl aufgebaut wird. Für die Faschos und Skinheads draußen sind die Verurteilten willkommene "Märtyrer der Bewegung". Das wiederum könnte nur dann verhindert werden, wenn man die ganze Feigheit und Erbärmlichkeit dieser neuen "Kameraden", die Frauen und Mädchen und friedfertige Mitbürger zusammengeschlagen haben, wirklich öffentlich macht und sich auch die schmerzlichen Details nicht erspart.

 

Die Logistik der neuen Rechten

Ist es noch relativ einfach, bestimmende Charakteristika und gemeinsame Wertvorstellungen für die unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Gruppierungen zusammenzutragen, so ist der Nachweis von Führungsstrukturen und -mechanismen fast unmöglich. Da alle neuen faschistischen Gruppen streng nach konspirativen Regeln operieren, gibt es dafür keine direkten Indizien, zumindest sind mir solche nicht bekannt. Vor Vernehmern und Richtern wird eher versucht, derartige Zusammenhänge zu leugnen, zu verschleiern oder herunterzuspielen. Indirekt verweist jedoch die Logistik der Faschos und Skinheads auf zentrale und ideologisch untermauerte Führungsorgane; letztlich aber muß das Hypothese bleiben.

Die rechten Cliquen sind in der Regel zehn bis vierzehn Mann stark, das ist eine auch von den Soziologen als ideal angesehene Gruppenstärke. Derartige Kleingruppen sind in der Lage, sich nach außen hin total abzuschirmen und jeden unerwünschten Informationsfluß aus der Gruppe heraus zu unterbinden. Wird eine bestimmte Mitgliederzahl überschritten, trennt sich die Gruppe auf. Die Führer setzen sich durch ihre starke Persönlichkeit durch, demokratische Wahlmodalitäten sind nicht üblich. Der einmal akzeptierten Autorität wird bedingungslos Gefolgschaft geleistet. Gruppenführer zeichnen sich in der Regel durch überdurchschnittliche Intelligenz, durch eine starke Persönlichkeit, durch den Willen zu Macht und Gehorsam aus. Sie verfügen über ein Elitewissen, das auf übergeordnete Autoritäten schließen läßt. In einzelnen Fällen waren fünfzehnjährige Kinder die Anführer von Gefolgschaften älterer Jugendlicher.

Auch manche abgestimmt und gleichzeitig verlaufende Aktion und Aktivität der neuen Rechten deutet auf ein ideologisches Konzept und eine gruppenübergreifende Logistik hin. Dazu gehört der Mitte der achtziger Jahre massiv unternommene Versuch, junge Faschisten in Wehrsportgruppen der GST und in Ordnungsgruppen der FDJ einzuschleusen. Es heißt, daß sie dabei nach einem durchdachten Konzept vorgingen und nicht selten erfolgreich waren. Inzwischen ist diese Taktik erkannt und greift nicht mehr.

Gegenwärtig versucht man, sich unauffällig zu machen und auf das martialische Äußere zu verzichten. Auch eingeschworene Skinheads lassen sich in diesem Herbst die Haare wachsen und haben die Uniform an den Nagel gehängt, und das landesweit - ein bloßer Zufall? Verbunden ist das Streben um ein neues bürgerfreundliches und angepaßteres Images mit der Kampfansage an den Alkohol. Bei Schlägereien ist es üblich geworden, den Nachwuchs zum Provozieren vorzuschicken, selbst aber nur mal kurz "hinzulangen" und schnell wieder zu verschwinden.

 

Die braune Stafette

Zahlreiche Traditionslinien, das dürfte deutlich geworden sein, verbinden die neuen Rechten mit dem deutschen Nationalsozialismus. Wie konnte die schreckliche Saat in der Mitte der achtziger Jahre, in einem antifaschistisch tradierten Staat, in einer sozialistischen Gesellschaft erneut auf so fruchtbaren Boden fallen?

Sind doch bei uns faschistische Täter und Mitläufer konsequenter bestraft und geächtet worden als im anderen Deutschland. Bis Mitte der siebziger Jahre wurden 12876 Naziverbrecher rechtskräftig verurteilt. Seitdem hat es Jahr für Jahr weitere Prozesse gegeben. Die jüngste Verurteilung eines Naziverbrechers, die mir bekannt ist, erfolgte im Juli 1988 in Halle. Antifaschismus ist in der DDR Verfassungsauftrag und Staatspolitik.

Das alles aber sagt nichts über den psychologischen, den moralischen Zustand der Deutschen in diesem Lande aus. Viele, die Hitler 1933 zugejubelt haben oder die als schweigende Mehrheit den Krieg und die faschistischen Verbrechen mitgetragen haben, sind 1945 nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht wirklich umgekehrt. Manche, sie haben oft wohl am lautesten "mea culpa" geschrien, haben zwar Fahnen und Uniformen und Parteibücher gewechselt, sind im Innern aber die alten geblieben. Für die meisten aber, für all die Mitläufer und Stillschweiger, mag die Erkenntnis, zwölf Jahre lang von Verbrechern verführt und mißbraucht worden zu sein, so schrecklich und so unerträglich gewesen sein, daß sie einfach verdrängt wurde. Das übermenschliche Maß der Schuld wie der Scham hat eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erschwert.

Weder von den Kirchen noch von der Gesellschaft wurde das erkannt. Sie haben den im Dritten Reich schuldig Gewordenen nicht wirklich die Möglichkeit zum öffentlichen Bekenntnis, zur öffentlichen Diskussion ihres Handelns und Unterlassens eingeräumt. Die Verbrecher wurden bestraft. Die Millionen Mitläufer aber und alle, die durch schweigende Zustimmung schuldig geworden waren, blieben weiter zum Schweigen verurteilt. Ihnen wurde die Gnade der Reue verweigert. Die Deutschen in diesem Land sind zu schnell zur Tagesordnung der neuen Ordnung übergegangen.

Behindert wurden Scham und Reue auch dadurch, daß viele Antifaschisten, unter ihnen besonders die Kommunisten, für sich eine übermenschliche Reinheit und Edelmenschlichkeit beanspruchten. Dem lauthals verkündeten humanistischen Anspruch aber stand alsbald der stalinistische Terror der Nachkriegsjahre entgegen. Das diskreditierte gerade bei den sich schuldig wissenden Proselyten den antifaschistischen Staat und die antifaschistische Idee. Alle Fehler, alle Mängel dieses Staates und dieser Gesellschaft wurden Argumente für die eigene moralische Überlegenheit und führten zur erneuten Hinwendung zum Faschismus. Die latente Bereitschaft zur Umkehr schlug um in einen neuen, jedoch in der tiefsten Seele gehaltenen Fanatismus.

Diese rückbekehrten Faschisten lebten vierzig Jahre lang nach außen hin angepaßt, als politisch indifferente oder sich sozialistisch gebärdende Bürger. Sie sind es, denke ich, die geduldig auf ihre Stunde gewartet und nun an ihre Enkel den braunen Stafettenstab weitergereicht haben. Sie, die unauffällig sind und harmlos scheinen, die schwer zu packen sind, halten die Fäden in der Hand; nicht jene Handvoll früherer SS-Leute und Parteibonzen, die hier und da unter falschem Namen oder mit gefälschten Papieren untergekrochen sein mögen.

Das alles, es ist mir bewußt, ist Hypothese. Vielleicht ist alles viel einfacher. Vielleicht gibt es wirklich Familien, in denen die faschistische Idee offen und ungebrochen gelebt und ein faschistisches Elitebewußtsein gezüchtet wurde. Vielleicht sind es die Witwen der Gehenkten, die an die Söhne und Enkel das Vermächtnis der Männer weitergereicht haben. Vielleicht sind auch nur die Mauern um unser Land oder um die Gefängnisse durchlässiger, als wir es uns denken können.

 

Die Last der Gegenwart

All das aber erklärt nicht den Zulauf, den die Rechten gegenwärtig haben. Das ist, denke ich, allein aus der Gegenwart heraus zu erklären. Faschistische Traditionslinien, personelle wie strukturelle, finden sich auch im sozialistischen Staat. Selbst bei denen, die eine ehrliche Umkehr vollzogen haben, blieben im Unter- und Unbewußten Spuren des Dritten Reiches. Vieles an unserer Alltagssprache verrät das. Unsere Alltagskultur wurde nicht völlig entnazifiziert: Nicht das Individuum, das Einmalige steht zuoberst auf der Werteskala, sondern die Masse, das Allgemeine. Nicht Originalität und Innovation haben den höchsten Stellenwert, sondern Unterordnung und Konvention. Nicht Widerspruch und Kritik sind wirklich geschätzt, sondern Anpassung und Duckmäusertum.

Das kleinere Deutschland hatte nie die Chance, die demokratischen Traditionen der 1848er Revolution oder die der Weimarer Republik aufzugreifen und fortzuführen; ihm wurde eine proletarische Diktatur stalinistischer Prägung aufgezwungen. Die antifaschistisch-demokratische Gesellschaftsstruktur hat nicht wirklich alle Lebensbereiche durchdrungen; oft genug ist sie Entwurf geblieben. Die kommunistische Kaderpartei beförderte nicht die Entwicklung demokratischer Tugenden, sondern schuf ein System neuer Privilegien zur Belohnung von Maulheldentum, Untertanengeist und Parteidisziplin. Das Führerprinzip, das sich für die Deutschen als verhängnisvoll erwiesen hatte, erlebte unter anderem Vorzeichen eine Renaissance: erst der Stalinkult, dann der unbedingte Anspruch der kommunistischen Partei, Avantgarde und Vorhut zu sein. Eine basisdemokratische Kontrolle der Mächtigen und ihrer Organe gab es nicht und wird bis heute nicht geduldet.

Auch die sozialistische Gesellschaft nimmt für sich das Prinzip der Gewalt in Anspruch, anerkennt und praktiziert es. Immer wieder wurden und werden Konflikte gewaltsam gelöst: Kritiker wurden ausgebürgert, Andersdenkende eingesperrt, Bücher und Zeitungen verboten. Gewalt, im Klassenkampf ausgeübt, gilt als hoher moralischer Wert. Gewalt gegen ungeborenes Leben wird gesellschaftlich sanktioniert. Die Mauer endlich ist die vollendete Materialisierung des Prinzips Gewalt. Gewaltfreiheit und Pazifismus andererseits werden von der sozialistischen Gesellschaft nicht geschätzt, bestenfalls geduldet.

All das ist nicht Faschismus. Aber die grundsätzliche Bejahung von Gewalt und der Mangel an demokratischer Kultur haben den Propagandisten der neuen faschistischen Bewegung ein leicht zu beackerndes Feld bereitet. Menschen, die hierzulande aufgewachsen und in unseren Schulen erzogen sind, sind ungenügend gegen den Bazillus radikaler Ideologien immunisiert.

Hinzu kommt, daß seit mehr als einem halben Jahrhundert das Nationalgefühl der Deutschen gestört ist. Nach dem krankhaften Nationalismus in den erste Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wurden unter dem Eindruck der deutschen Teilung alle nationalen Gedanken und Gefühle künstlich unterdrückt. Viele Jahre lang war es eher eine Schande, ein Deutscher zu sein. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein wurde das Wort Deutschland krampfhaft gemieden; der schöne Text unserer antifaschistischen Nationalhymne wird deshalb bis heute nicht gesungen. Patriotismus sollte durch Internationalismus ersetzt werden - wie aber kann ich Internationalist sein, wenn mir die nationale Identität fehlt! Die künstliche Konstruktion einer "sozialistischen Nation", aus tagespolitischem Kalkül heraus geschaffen, ist von den Deutschen in der DDR niemals wirklich angenommen worden. Schlägt nun das unterdrückte, verdrängte Nationalgefühl um in einen extremen Nationalismus? Die Geschichte bietet dafür mehr als nur ein Analogon...

Die Hinwendung einer großen Anzahl, wohl der Mehrzahl der Deutschen in der DDR zu kleinbürgerlichen Werten und Lebensformen, der so augenfällige Rückzug in private Nischen, die Flucht aus dem gesellschaftlichen ins private Sein haben gleichfalls die Anfälligkeit für faschistische Gedanken erhöht. Niemand verkraftet auf die Dauer eine solche Doppelzüngigkeit, ein solches Doppeldasein, wie sie sich hierzulande breitgemacht haben. Die allabendliche Massenemigration per Fernseher ist deutlicher noch als die Ausreisewelle ein Indiz für ein gespaltenes gesellschaftliches Bewußtsein. Ein Gemeinwesen, dessen Bürger dauernd etwas anderes sagen als sie denken, die dauernd etwas anderes tun, als sie wollen, die etwas anderes scheinen als sie sind ist krank und geschwächt und empfänglich für Radikalismen jeder Art.

Junge Menschen, die in unserem Land aufwachsen, sind von Kindheit an diesen sozialen Defekten ausgesetzt. Unser Bildungssystem unterstützt die unreflektierte Übernahme kränkender Verhaltensmuster aus Familien und Kleingruppen: Fast regelmäßig werden nicht Kritik und eigenes Denken gefördert und belohnt, sondern Nachplappern und Angepaßtsein. Junge Menschen, die alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle durchdenken und erproben wollen, müssen erfahren, daß sie als staatsgefährdend angesehen und behandelt werden. Die Erziehung ist intellektualisiert, die Seele, die Gefühle werden nur ungenügend gebildet. Häufig ist in der Schule die Auseinandersetzung mit der Geschichte unsinnlich und dogmatisch verklemmt, die Gesellschaftslehre wird kalt und leidenschaftslos vermittelt, eine gebetsmühlenartige Wiederholung soll die kritische Aneignung ersetzen.

"Die Verarmung und Verirrung des Gefühlslebens, Kaltschnäuzigkeit und Brutalisierung, der Abbau des Gefühls für das Schöne bereiten ein Vorfeld für Faschismus. Der Faschismus vernichtet den ganzen Menschen, seine ganze Humanität. Deshalb müssen wir den ganzen Menschen gegen dieses Gift widerstandsfähig machen. Dafür reicht die nackte Information, das bloße Wissen nicht aus." Diese Mahnung Konrad Wolfs, 1979 ausgesprochen, scheint, wie manches andere, bei den verantwortlichen Jugend- und Bildungspolitikern ungehört verhallt zu sein. Ein "emotionaler Nährboden für aktiven Antifaschismus" (Konrad Wolf) sind die meisten Schulen bei uns jedenfalls nicht. Antifaschistische Kampagnen und Demonstrationen können die mühevolle stete Arbeit
einer humanistischen Bildung der Herzen und Hirne nicht ersetzen.

 

Gewalt und Gegengewalt

Wir müssen begreifen, so schmerzlich es auch sein mag: Diese jungen Faschisten sind das Produkt unserer Gesellschaft; es sind unsere Kinder. Wir dürfen sie nicht, nicht einen, verloren geben. Wir haben uns vor Vorurteilen zu hüten, wie oft sind Vorurteile der erste Schritt zur Verurteilung. Selbstverständlich kann es nach allem, was die Nationalsozialisten der Welt und Deutschland angetan haben, keine Toleranz für faschistische Anschauungen und Taten geben. Barmherzigkeit, Wärme und Gesprächsbereitschaft aber sind wir auch den schlimmsten Tätern schuldig.

Das Bemühen des Staates, den neuen Faschismus einzudämmen, erscheint hilflos und wenig wirkungsvoll: Gegengewalt wird anscheinend als Allheilmittel angesehen. Viele Maßnahmen sind überzogen und treffen nicht selten die Falschen; manchmal mögen junge Menschen erst durch übertriebene und gewaltbetonte Reaktion der Staatsmacht in die Arme der Rechten getrieben worden sein. Jugendliche mit geschorenem Kopf und gar in Skinhead-Kluft, auch reine Mode-Skins, haben es schwer, werden bevormundet und gegängelt. Zu Discos und Jugendclubs haben sie kaum noch Zutritt. Selbst völlig friedfertige Jugendliche werden auf der Straße von der Volkspolizei kontrolliert - nur, weil sie ein wenig ungewöhnlich gekleidet sind oder sich vielleicht etwas temperamentvoller äußern. Wenn sich, das gilt zumindest für größere Städte, ein Club oder eine Gaststätte zum Treffpunkt solcher Cliquen entwickelt hat, werden sie häufig unter einem Vorwand, aus "technischen Gründen" oder wegen einer plötzlich notwendig werdenden Renovierung, geschlossen. Die Gruppen suchen sich woanders einen neuen Treffpunkt; das Problem wird von einem Stadtbezirk zum anderen geschoben.

Die Ordnungsgruppen der FDJ bringen gleichfalls Probleme mit sich. Denn offenbar gibt es unter den Ordnern auch solche, die die ihnen übertragene Macht gegen ihre Altersgenossen mißbrauchen und anstelle von Argumenten die Fäuste sprechen lassen. Eine sorgfältige und verantwortungsvolle Auswahl, eine psychologische Schulung sollten selbstverständlich sein. Die ständige Kontrolle ist notwendig, auch geringste Übergriffe müssen geahndet werden. Denn überzogene Reaktionen von Ordnungskräften und Polizisten können Aggressivität und Widerstand erst provozieren; manche Verurteilung wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt indizieren das jedenfalls.

Eine öffentliche demokratische Kontrolle der machtstützenden Organe - der Polizei, der Justiz, des Strafvollzugs, des Staatssicherheitsdienstes - würde gerade jungen Bürgern mehr Rechtssicherheit und Vertrauen geben und Aggressionen abbauen. Die gegenwärtige Eingabenpraxis, undurchschaubar und ohne Begründungspflicht, ist ganz und gar unbefriedigend und leistet dem Mißbrauch von Macht Vorschub. Strafgesetzgebung und Strafvollzug schließlich, das ist selbst für den Laien offensichtlich, bedürfen dringend der Revision. Wenn überhaupt, wird wohl nur ein humanistisches sozial- und psychotherapeutisches Programm junge rechtsradikale Straftäter zum Nach- und vielleicht Umdenken bringen können, nicht aber der unwürdige sinnleere Alltag einer langjährigen Haft.

Viele der verurteilten Skinheads sind in geordneten Verhältnissen, in "guten Familien" großgeworden, waren gute Schüler und Arbeiter. Zuweilen kamen sie aus Familien mit antifaschistischer Tradition, waren die Eltern Funktionäre; selbst Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes haben ihre Kinder an die neuen Faschisten verloren. Der Gedanke liegt nahe, daß es manch einem, der in die rechte Szene hineingeraten ist, zu Hause an Wärme und Verständnis gefehlt hat, daß er autoritär erzogen wurde oder daß ihn die Eltern ihre Werte und Weltanschauungen nicht vorgelebt, sondern eingebleut haben. Der besonders für junge Menschen legitime und für ihre gesunde Entwicklung doch unerläßliche Zweifel an allen Autoritäten, ihre gesunde Opposition mag nicht selten mit den antiquierten Mitteln der "schwarzen Pädagogik", mit psychischer und physischer Gewalt gebrochen worden sein. Das wurde der Nährboden für den Haß auf alle Autoritäten. Und die Kinder wußten nur zu gut, daß sie gerade durch ihre Hinwendung zum Faschismus den Eltern, den gesellschaftlichen und staatlichen Autoritäten, den allerheftigsten Schmerz zufügen würden. Wieviel Trauerarbeit haben sie und wir alle zu leisten, um diese Flut von Haß und Schmerz zu integrieren!

 

Alternativen

Die Gefahr einer neuen faschistischen Bewegung, getragen von jungen Menschen unseres Landes, ist denkbar geworden. Es ist für uns alle eine Herausforderung. Jeder hat sich selbst zuerst die bitteren Fragen zu stellen, jeder wird eigenes Versäumen und Versagen zu bedenken haben. Staat und Kirche, Schule und Jugendorganisation müssen, jeder für sich, fragen, was sie unterlassen und worin sie gefehlt haben, wenn Zwanzigjährige in unserem Land wieder "Sieg Heil" und "Juden raus" brüllen.

Ich fürchte, wir werden auf absehbare Zeit mit einem gewissen rechten "Potential politisch motivierter Gewalttätigkeit" leben müssen. Staatliche Gegengewalt ist kein taugliches Therapeutikum. Es wird darauf ankommen, dem Rechtsradikalismus die schillernde Verführungskraft zu nehmen und junge Menschen humanistische Alternativen zu bieten. Das ist, nach meiner festen Überzeugung, nur durch die konsequente demokratische Umgestaltung unserer Gesellschaft und durch die Absage an die Gewalt als gesellschaftsbildende Kraft zu erreichen. Ein gewaltfreier sozialer Dienst anstelle der Militärpflicht sollte endlich möglich werden. Wir müssen lernen, auf Gewalt auch gegenüber dem ungeborenen Leben und gegenüber der Natur zu verzichten.

Eine neue Kultur des öffentlichen Dialogs muß erworben und gepflegt werden; unser Land braucht Gedanken- und Pressefreiheit und ein Spektrum unzensierter Medien. Für junge Menschen muß es eine rechtliche und soziale Basis geben, um alternative demokratische Lebensmodelle, zum Beispiel nach dem Vorbild der israelischen Kibbuzim zu erproben. Nur wahrhafte Demokratie kann auf Dauer die Jugend unseres Landes gegen faschistisches Gedankengut immunisieren.

(aus KONTEXT 5, März 1989)

 

 


Yury Winterberg SCHLITZE IN DIE CAPSULA INTERNA

 

1
Ich war gegen drei doch wieder wach geworden, und es hatte sich als nutzlos erwiesen, frühzeitig zu Bett zu gehen und die zuständigen Segmente der daunengefüllten Steppdecke energisch über den Kopf zu ziehen - mußte mich, erhitzt und beengt, schlafend freigewälzt haben, und der wilde Wein, den der Vormieter vergessen hatte mitzunehmen und der nun über mein Gesicht raschelte, hatte ein übriges getan, von meinem Speichel glänzend; ein Blatt der Monstera wuchs sich zu meinem dritten Ohr aus, empfing jedes Knistern -: damit, daß man die Kopfseite seines Bettes falsch wählt, beginnt es, dachte ich; war wohl bereits dabei, den nächsten Tag meines Arbeitsurlaubes zu vergeuden, stand jedoch erst einmal unten hinter der halben Treppe und stellte fest, daß das Licht auf der Toilette ausgeblieben war und ich zurück in die Wohnung gehen müssen würde, wo sich der betreffende Schalter befand: scharf zeichnete sich schon vor meinen Augen ab, daß eine jener Verkettungen von Fährnissen in der Verzahnung begriffen war, mich um die Nachtruhe zu bringen, um mich dann erneut einen Tag verschlafen zu lassen; und ich bemerkte dann auch zu spät, nachdem ich zurückgegangen und wiedergekommen war, daß ich versäumt hatte, den Stiefel in den Türspalt zu schieben - sonst hatte ich dabei immer gedacht, das sähe aus, als ob einer sein Bein in die Tür
gestellt hätte, um eine Frau an ihrer letzten Verteidigungsmöglichkeit zu hindern, nach ihrer zu zögernden Flucht, obwohl es doch ein Mädchenstiefel war: ein Gegensinn der Urworte also -, und schon waren Bündel von Luftströmungen durchs Treppenhaus gewirbelt, wo Tag und Nacht alle Fenster offenstanden, seit allen Rauchern ihrem Laster in den Wohnungen nachzugeben geschlossen verwiesen worden war; schon war die Wohnungstür hinter mir zugeschlagen, während ich merkwürdigerweise, nicht, wie üblich, in meinen Pyjama gekleidet war, sondern in Mariannes langes Fleischerhemd: hatte das Unheil demnach geahnt, wo ich, selbstverständlich, ja keinen zu wecken wagen würde, weder die Altweiblein, noch, erst recht nicht, die Kleinkinderfamilien - wo, wie ich noch anschaulich aus der Zeit wußte, da ich selbst Kinder zu zeugen pflegte, keine Minute des hart errungenen Schlafes vertan werden durfte -, und die andren im Haus würden sich wie stets ihren Nachtschichten überlassen haben: dies waren nun also die augenfälligen Folgen meiner Einbettung in den sozialen Gesamtorganismus - erst jene Ausnahmesituation verdeutlichte es mir, da Marianne nach Berlin gefahren war, um Mariette vom Flughafen abzuholen (haßte sie nicht eigentlich dies Umherreisen - aber es ist wohl Frauen eigen, ihre Gefühlswelt in einer Schwebe zu erhalten, Aversionen mit Lüsten zu amalgamieren: da mußte ich meine Mundwinkel verziehen -; und ich hatte auch nie begriffen, warum sich Marianne und Mariette auf einmal so urplötzlich treffen wollten, nach diesem, freilich ebenso merkwürdigen, Kontaktabbruch vor fünf Jahren) -; unerfreulich wie nächtliches Sturmläuten war allerdings auch die Vorstellung, noch drei Stunden im Schneidersitz auf dem Klodeckel auszuharren, um den hallenden Tritt der nachbarlichen Schnürschuhe im Treppenhaus zu erwarten - sofort ließe der, mitten im Nesteln, die Bändchen fahren und spränge ertappt an seinen Werkzeugkasten, um mir Schraubenzieher und Zange zu reichen -: ich würde mich schon selbst auf irgend einen Weg machen müssen, und während ich nachspülte, fiel mir ein, daß Harthfeld ja vor Jahren ein Haus gekauft und daß längst nicht daran zu denken sei, es zu bewohnen, wenn er die Sprache darauf gebracht, hinzugefügt hatte - Licht brannte noch im Haus gegenüber bei jener Frau, der vor dem Abendbrot beim Duschen zuzusehen ich mir gewohnheitsmäßig zu eigen gemacht hatte, worauf mich selbst Marianne in der Regel hinwies, wenn ich es, in Grübeleien getaucht, einmal vergessen. Während Marianne sich schon angeschickt hatte, den Schnittlauch zu waschen, das Wurstmesser aufzuklappen: ob ich dort klingeln sollte? -; und öfters war ich bei meinen Gängen zum Fotoarchiv schon an Harthfelds Haus vorübergegangen; die Hintertür stünde offen: es sei ja nichts von Wert in den Räumen, im Gegenteil sei doch hin und wieder was hinzugekommen - letzter Ausweg der Anwohner angesichts vollgepfropfter Container -: ein Sofa zuletzt und eine Kiste mit Schuhen: so hatte Harthfeld beteuert und seine Finger geleckt.

2
Der Wind draußen leckte mir zwischen den Beinen; es war etwas zu kalt in Mariannes Hemd, doch Mißbilligung konnte mein Aufzug kaum erregen unter den wenigen Bezechten, die noch umhertollten, und den einzelnen Herren im Nadelstreifenanzug, abgeklärte Melancholie nach dem Vollzug, was mich hätte ermuntern können, jene drei Schritt, die ich am Nachbarhaus vorüber war, zurückzulaufen: träumte ich doch oft genug, nachts in Häuser einzudringen, fremd, aber nicht labyrinthisch; und geschah mir dies dazu in einem Klartraum: welche Daseinserfüllung!, dachte ich dann: träumte, und hatte durchschaut, daß ich träumte; eben noch ertragbarer Überfluß an Freiheit; Taten ohne kalkulierende Sophisterei vorzubereiten, konnte ich dann in Angriff nehmen, glückselig und folgenlos ihre Anbahnung; es galt nur, nicht zaghafter oder brutaler aufzutreten, als es mir tatsächlich entsprechen mögen würde, um weder die Fäden aus der Hand zu geben, noch erschreckt aufzuwachen

- war auch einmal ins Nachbarhaus gegangen, hatte den Flur dunkel vorgefunden, mich verlaufen, keine Rede von einer Frau, geschweige denn von zweien, Mutter und Tochter oder wie auch immer, wie ich es mir gedacht hatte, entdeckte nur im obersten Stockwerk einen Ausgang, mußte eine Feuerleiter ersteigen, Aluminiumrosten um Ecken folgen, in ein anderes Haus hinaus, eine Wendeltreppe hinab, in einen Keller, sagen wir, niedrige Gänge, durch Heizrohre zu Löchern geworden, die zu durchkriechen waren; dann aber begann ich zu wählen, bog ab ins Tageslicht und lenkte mich in das Viertel der Abrißhäuser, dessen Draufsicht mir der Blick aus unsrem Bodenfenster wöchentlich beim Schlüpferaufhängen bescherte, verfügte jetzt recht frei über meine Handlungen und systematisierte mein Suchen, Straßenzug um Straßenzug, Bruch, Nässe und Schmierereien als Wegweiser deutend, bis sich die Zeichen von Bewohnbarkeit verdichteten: glitt durch die angelehnte Tür und vernahm das Pumpengeröchel einer Duschkabine, in der Küche lagen Kleider und Unterwäsche zweier Mädchen, die hinter dem geblümten Vorhang miteinander kälberten; sah mich flüchtig in der Wohnung um, kramte etwas in ihren Schränken, alles war doppelt vorhanden, bis mich ein Quietschen an der Wohnungstür zu interessieren begann: eine Frau war eingetreten, Mitte vierzig, sagte ,Ach Sie sind das', nicht ohne Verständnislosigkeit zu zeigen; nahm ihr den Mantel ab und legte für mich eine Reihenfolge fest -;

war meine derzeitige Lage auch wenig dazu angetan, Unterschiede zu Klarträumen zu betonen, so war ich mir des l'art pour l'art meines Tuns nicht gewiß genug; Weg und Häuser waren mir in allen Details noch übervertraut, konnte nicht mit Sicherheit irrationale Einschlüsse nachweisen und lief also fürs erste weiter; lief weiter, und eine Streife kam mir entgegen, zeigte keine Reaktion, auch der Eindruck der Straßen wurde grober und verschliffen: eine Vermischung schien vollzogen; verfügte jetzt vorzüglich über meine Handlungen, so daß ich an den Kreuzungen lange grübelte; entdeckte jedoch kein Haus, das mich zu einer Visitation gelockt hätte, bis ich schließlich doch vor Harthfelds Garten stand, mich hineinschlich, auf Gras traf, so nachgiebig, daß ich aus meinen Schuhen fuhr und barfuß die angelehnte Tür aufstieß; kein Lichtschalter in der Nähe - bedauerlich schien mir, dachte ich, die derart erzwungene Simplifizierung der Situation zu sein, so stockdunkel war es: wenn ich träumte, sah ich -; tastete und holperte mich eine Treppe hinauf zu einem plattformartigen Flur, und meine Knie beulten sich in eine ungestalte Masse: das war wohl das Sofa - obgleich ich die Beine doch anziehen mußte, ähnlich wie Marianne, mußte ich denken, als ich mich gelegt hatte, die sich öfters auf einen Tisch gelegt in der letzten Zeit, wenn sie zu denken vorgab, rücklings mit angezogenen Beinen - jedenfalls ein Kopfteil war vorhanden; und sofort stieg mir ein schwerer, öliger Geruch in die Nase, so daß ich mir Mariannes chronischen Schnupfen herbeizusehnen begann,

und ich lag in einem Güterwaggon zwischen auseinandergezerrten Maschinenteilen - Zahnrädern, Rohren, Kolben - auf einer Seegrasmatratze; Mariette kniete auf mir, und ich versuchte, mit den Händen mein Glied in ihr unterzubringen; wollte und wollte nicht gelingen, und ich hatte das Gefühl, wußte, dies nur zu träumen; es ist nur ein Traum, sagte ich mir, einer, der Impotenzangst symbolisieren würde, falls ich jetzt erwachte; mühte mich daher hartnäckig, den Schwanz unter allen Umständen hineinzukriegen; die Einführung scheiterte, und das Symbol blieb bis zum Schluß, was es gewesen war,

auch noch am Morgen, als ich sah, daß ich zwischen Kartonstapeln geschlafen hatte - da mußte ich hineingegriffen haben im Kampf gegen das Ab- oder Herunterrutschen -: Töpfe klirrten in einer Kiste, jetzt früh, Matratzenwollen filzte und Lumpen stiebten neben einer Pyramide aus Schuhen, hochhackigen und Stiefeln - allesamt von Damen -; mein Kopfteil war mit einem schmierigen Lappen bezogen gewesen: der Autowerkstattdunst die ganze Nacht über.

3
Harthfeld mußte, angetan mit den Arbeitshosen und der Wattejacke, die ich mir jetzt provisorisch übergestreift hatte, in den Kammern ringsum auch den letzten Putzkrümel heruntergeschlagen und beiseite gefegt haben, so daß jetzt die schiefen Ebenen vor den Wänden die Räume, die ohnehin nur Platz für je einen Schrank und zwei Stühle vielleicht gewähren mochten, derart verkleinerten, daß sie diese für die experimentelle Erzeugung von Agoraphobie als geeignet erscheinen ließen: warum Harthfeld nur dieses Haus erstanden hatte, wo doch nun über Jahre hinweg seine behutsamen Aufbauversuche lediglich zu Zertrümmerungsapotheosen eskaliert sein mußten, war ich versucht, mir zu sagen, angesichts der Spuren gewalttätiger Einschläge einer Spitzhacke in die maroden Ziegel: gähnende Schlünde waren aufgebrochen - doch hierin erkannte ich Harthfelds Handschrift sofort: seine Gier, in Höhlungen zu kramen; Nester würde er in den Hohlräumen anlegen, Notizbücher vermauern -; während andererseits in den Deckenbalken zweifellos der Schwamm saß: zusammenbrechen würde der obere Flur mitsamt dem Sofa über Harthfelds Schädel, mußte ich zu fürchten beginnen, wenn wie unvermeidlich zu geschehen es sich anschickte, Harthfeld, der rastlosen Destruktion müde, anfangen würde, Heizrohre und Klingeldrähte an den Decken entlangzuführen, Haken und Spreizdübel einzubringen, Folien mittels Spanndrähten und Umlenkrollen überzubreiten, um etwaige Rinnsale des Heißwassers zu zerstreuen; gegen neun wird es sein, dachte ich, könnte nun wohl gut aus dem Haus gehen, wenn der Tag nicht ohnehin schon verschwendet wäre: begänne ich noch zu arbeiten, würden ja doch allzu alsbald Mariette und Marianne, kaum daß sie, umso schneller wohl, eingetroffen wären, meinen Eifer mit dem Zweiklang ihrer Schritte, den Flur knisternd und raschelnd in ein futuristisches Musikinstrument verwandelnd, ersticken, kaum daß ich erste Bilder und Fotografien den deskriptiven Passagen meiner Studie, die dafür vorzusehen waren, zuzuordnen begonnen hätte; was bliebe da also außer einer Flucht nach vorn für heute, beschloß ich, begriffen darin, Harthfelds Waschhaus zu durchqueren und einen riesigen Kessel zu erblicken, der kurioserweise - Harthfeld, das hatte ich immer anerkennen
müssen, war unübertrefflich in seiner Fähigkeit, Wesen und Funktionen aller ihn umgebenden Dinge nicht schlechthin zu nutzen, sondern harmonisch zu fördern, zu vernetzen - peinlichst frisch gescheuert war; acht Koben entdeckte ich dahinter in einem Nebengelaß, die der Angorakatzen- oder Kaninchenzucht gedient haben mochten; vielleicht war aber auch Harthfeld der Urheber des Gestankes gewesen, denn direkt daneben schloß sich das Klo an: ich mußte eine Bretterpforte entriegeln, um ins Freie zu gelangen; ein Gärtchen im Garten lag, nochmals umzäunt, dem Haus gegenüber, mit einer Efeulaube - die Sitzbretter darin schienen sauber ausgewischt -: warum hatte Harthfeld nur dieses Haus gekauft, bohrte es in mir, und wendete mich wieder zur Hauswand um: ich hatte im Flur fünf große Schlüssel hängen sehen; daß dies der Zahl der oberen Räumlichkeiten entsprechend mußte, bestätigten nun meine Überlegungen hinsichtlich der Anordnung der Fenster des Stockwerkes; also konnte ich mich nun den Schuppen und Anbauten zuwenden: der Aufenthalt im Mangelraum von Kindern unter zwölf Jahren würde nicht geduldet werden, entnahm ich der Tafel einer verschlossenen Tür; dagegen dürften ältere Kinder und Jugendliche, die das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hätten, nur unter Aufsicht erwachsener Personen zum Mangelraum zugelassen werden; also würde da drin erst recht noch alles gefegt und poliert sein, dachte ich, nachdem ich schon den Geldschein in Harthfelds Jacke an der richtig vermuteten Stelle ertastet und mich auf den Weg zur Kaufhalle um die Ecke gemacht hatte.

4
In einem anderen Schuppen fand sich ein Ponykarren, großzügig mit Heu gepolstert, und komplementär hierzu fand ich auch einen niedergehauenen Kreis an der Wiese hinterm Haus, fand einen sich anfügenden Pfad durchs Gesträuch: stieg behutsam über die Reste eines gerodeten Baumes, den jemand in einem Wutanfall zerstückt haben mußte - vor fünf Jahren vielleicht, wollte ich schon mutmaßen - und stand unversehens in einem zweiten Kreis, einer Brandstätte, aschgrau und kahl; was suchten hier die rostigen Spiralfedern, die Porzellanscherben, das angesengte Schreibmaschinenfarbband in dem Schlackengekröse, die zerschmolzene Parfümflasche, der ausgeglühte Öltrichter

- hatte nicht auch ich einmal in einer Baumhütte, die jedoch durch eine Stahltür gesichert war, versucht, gefangene Damen ungefesselt (aber dennoch drängten sie sich dicht zueinander) zu verbrennen, doch mit Penetranz stellten sich mir Hemmnisse in den Weg, bis mir der Gedanke kam, es doch im Freien zu versuchen; augenblicklich hatte Erfolg mein Werk gekrönt -?

eben noch zur rechten Zeit war ich gekommen; schon sättigten erste Regentropfen die Asche - all das würde bald in ein ungestaltes Schlammloch eintauchen, in später Zeit erst erneut zum Vorschein kommen -, und ich, hatte genug gesehen, konnte den Rückzug antreten: Rückzug war wohl das treffende Wort, wobei ich Harthfeld kaum um die Lage seines Hauses beneidete: von drei Fronten her begrenzten Fachwerkbauten den Garten, nicht die Spur einer Andeutung einer Abtrennung, keine zwischengeschobene Auflockerung, die puffernd wirken könnte, denn mit Brettern und Teer verkleidete Durchgänge verbanden, sorglich mit Fenstern versehen, die Giebelseiten; auch für die scheinbar toten Winkel hatte man sich etwas einfallen lassen: hier fehlte eine Schindel im ansonsten intakten Dach, da war zwischen Vorbau und Schuppen ein Ziegel abhanden gekommen - nicht der geringfügigste Moosansatz, sah ich sofort -; ja, sollte ich Harthfeld bewundern, der dennoch allzu hohe Hemmschwellen schwerlich entwickelt haben konnte, wenn ich die Vergegenständlichungen seines Wütens in Betracht zog - ich hatte schon seit längerem die Ansicht vertreten, daß ein Zusammenhang bestünde zwischen Kinder- und Verantwortungslosigkeit (denn obwohl ich meine beiden Töchter (Jacqueline war eigen in dieser Frage) schon seit längerem nicht hatte sehen
können, wäre es einer Unterstellung gleichgekommen anzunehmen, ich kümmerte mich nicht um sie (selbst jetzt, da ich darüber nachsann (während Marianne und Mariette vielleicht schon die Autobahnauffahrt erreicht hatten oder (und dies wahrscheinlicher angesichts des aufziehenden Gewitters, welches in Mariette eine Stimmung erzeugen mußte, der sie sich (zumindest früher) mit Besessenheit hinzugeben pflegte) in einem Café festsaßen), ob ich nicht wirklich

(und ich dachte daran, wie ich versucht hatte, Mariette in der Oper, im Rosenkavalier, zu verführen: öffnete den Hosenschlitz, und wir vollzogen es, was ausgezeichnet gelang, von Klappsitz zu Klappsitz, während ich den Glauben nährte, es könne keinem recht auffallen, obwohl es im Saal taghell war und wir in der ersten Reihe vor dem Gang saßen, und die Oper auch schon begann, weshalb wir uns schließlich voneinander losrissen und das Bühnengeschehen in mir den Wunsch erweckte mitzuspielen, wobei ich wußte, daß ich dergleichen öfter träumte und die größte Schwierigkeit darin bestand, den Weg hinter und auf die Bühne zu finden - erst dort angelangt, fand ich jegliche Erfüllung - (weil ich mir bewußt war zu träumen, sahen mich die Leute dann wohl auch nicht); geriet dann aber tatsächlich, vielleicht, weil ich zu sehr fürchtete aufzuwachen, falls ich mich verirrte, in mir unbekannte Nebenräume, zwischen Stellwände und Abhänger, zuletzt wohl sogar auf den Schnürboden, stieß an Stuckdecken, wurde von Stuckdecken eingeschlossen, sah nur noch eine weiße Wand und anschließend meine freigestrampelte Decke (doch das war immer noch im Traum, denn sofort erschien eine Frau mit feuerroten Schamhaaren), deren Knopflochraupen unter mein Kinn geraten waren) diese mir, von wem eigentlich?, aufgezwungenen Trennungen von Traum und Klartraum und Tagtraum und Alltag fallen lassen sollte, vielleicht, um nichts mehr ernstnehmen zu müssen, nur noch ernstnehmen zu wollen, dachte ich: was wäre schon dabei, wenn ich in der Oper den Hosenschlitz aufknöpfen würde - es galt doch nur, eine Frage von Intelligenz und Delikatesse, im wohlausgewogenen Balanceakt psychiatrischer Zwangseinlieferung und rechtlichen Belangungen aus dem Wege zu gehen, und wer konnte hierzu berufener sein als ich! -, selbst jetzt klammerte ich meine Töchter nicht aus meinen Erwägungen aus, mußte daran denken, daß sie noch immer, Jacqueline hatte nichts ändern lassen nach der Scheidung, meinen Namen trugen, Gefahr bestand, daß meine ureigenen Entscheidungen womöglich später an ihnen heimgesucht werden könnten, war mir meiner Verantwortung in jeder Tragweite bewußt), obgleich einzuräumen war, daß es mir noch weit tiefgreifender möglich gewesen wäre, meiner Verantwortung gerecht zu werden, wenn sich Jacqueline nicht affektierterweise wegen meiner kameradschaftlichen Beziehung zu Marianne von mir hätte trennen wollen; dennoch: auf wen hatte Harthfeld denn in seinem derzeitigen Zustand der Bindungslosigkeit jemals Rücksicht zu nehmen, hemmungslos konnte er sich ausleben, und tat er es nicht auch?), ohne Harthfeld deshalb etwa verurteilen zu wollen -? und zu guter Letzt bildete die Hauptstraße mit vier Straßenbahnlinien - aller zwei Minuten eine Bahn, und alle Augenpaare darinnen mußten sich unvermeidlich auf Harthfelds Haus richten: einen solchen Anachronismus verursachte es an dieser Stelle - die vierte Außenfront des Gartens; schleunigst mußte ich in den Hauseingang flüchten, so goß es bereits, rasch vorbei an Harthfelds Schnittlauchbeeten.

5
Natürlich verfügte Mariette über sehr aufregende Waden, dachte ich, und sich da anschmiegendes Leder vermochte die Wirkung noch erheblich zu steigern; dennoch hatte es sich eher so verhalten, daß Mariette nur aufgrund ihrer unansehnlichen Füße auf Schnürstiefel verfallen war; vielleicht hatte sie sich sogar erst darauf ihren herben und aggressiven Schritt zugelegt, der für sich genommen schon für eine Erektion gut war, erst darauf jene wortkarge Überlegenheit in ihrem Wesen, die in Herren die Empfindung aufkeimen lassen mochte, ihr besser nie anders als gebeugt und mit gesenktem Kopf zu nahen, die Augen nie höher als bis zur Medianfurche zu erheben, wobei Mariette eher von kleiner Statur war; trotz allem hatte ich freilich die richtige Wahl getroffen, denn der Wunsch nach Mariette konnte nur als Folge des Zusammenlebens mit Marianne begriffen werden, wenn man noch bedachte, daß Marianne, sofern es irgend ging, ausschließlich hochhackige Schuhe trug, auch schlanker und aufgeschossener war als Mariette, daß ich daher mit meinen Blicken über ihren Körper zu schweifen liebte, ohne irgendeine Gegend besonders auszuzeichnen, geschweige denn mich an eine solche zu fixieren: selbstverständlich war diese Spannbreite, die Marianne und Mariette repräsentierten, von ihnen in unermüdlicher Abgrenzung vom Typus der Schwester bewußt kultiviert worden, und welches dritte hätte die weibliche Welt wohl noch zu bieten gehabt, dachte ich angesichts der Kiste ausgetretener Damenschuhe. Zuordnung ohne Rest, das wußte ich längst; welch ein Strauß, den es mit Marianne auszufechten gegeben hatte, um schließlich doch die abgewetzten Lederstiefel Mariettes als Keil für die Wohnungstür, damit diese nicht zufiele, benutzen zu können; womöglich, begann ich zu wägen, trägt Mariette überhaupt keine Stiefel mehr, wo wir sie doch fünf Jahre nicht gesehen haben, wer weiß, und die wirklichen Abenteuer warten eher im Mangelraum, dessen Tür mir bisher immer noch verschlossen geblieben war: was zwang mich denn, augenblicklich nach Hause zurückzukehren, um Mariette rechtzeitig mit Handkuß und dem Aperitif mit Zitrone zu empfangen - warum sich nicht auch ihr verweigern, mochte ich mich doch nicht mehr unter Druck setzen lassen wollen, war doch nur mit Reaktionen, nicht mit Konsequenzen zu rechnen; ohnehin regnete es zu stark, um so einfach loszulaufen -;hatte ich aber nicht ausgerechnet den Entwurf meines Kapitels über die Abwendung der Gefahren des Mißbrauchs der Techniken der Hypnotisierung für sexuelle Praktiken durch unberufene Hände auf dem Schreibtisch liegen lassen, was mir nicht eben als angemessen für die ersten neugierigen Blicke der frischangekommenen Frauen schien, zumal es sich um bloße Randbemerkungen handelte, denen in meiner Studie kaum wirklicher Stellenwert zukommen würde; doch solange es regnete, würde sich auch Mariette nicht aus dem Café losreißen wollen, konnte sie doch stundenlang durchweichte, mit den Zähnen klappernde Männer kühl betrachten, ohne sich zu langweilen; es sei denn, das Café würde sehr zeitig schließen.

6
Wo konnte Harthfeld nur den Schlüssel für die Wäschemangel verborgen haben; ich versuchte, in meinem Hirn die obskure Gedankenwelt Harthfelds nachzubilden; suchte im Ponykarren und an der Brandstelle, in der Efeulaube und im Waschkessel; war durchnäßt und dreckverschmiert im Regen, Mariettes Ideal, ohne einen rechten Zeugen, nur, in die Brandstätte unterwühlt, einen Ring von Mariette hatte ich gefunden - von wem sollte er sonst sein -; Wachträume und Klarträume trügen nur noch Unwesentliches zur Aufrechterhaltung meiner seelischen Homöostase bei, würden in dem Maße aufgesogen, wie ich den konventionellen Ballast abtäte, dachte ich; nur ein paar Träume sollten bleiben zur Analyse und als Gaukelspiel: würde doch beispielsweise ganz sicher von Harthfeld träumen in der nächsten Nacht - was sonst -,

würde mich nachts aus einem Bett schleichen, und Marianne schliefe neben mir - oder hätte plötzlich Hunger verspürt -, strebte einem abgelegenen Haus zu - oder suchte einen Fleischer, bei dem trotz der späten Stunde einige Leute stünden, und spielte, um nichts bezahlen zu müssen, einen Somnambulen, bis mir auffiele, daß ich tatsächlich somnambul geworden zu sein schien, und käme dann vom Fleischer an einem Haus vorbei, auf dessen Dach eine riesige Rotbuche, von wildem Wein überwuchert, wachsen würde: niederstürzen solle sie, wünschte ich mir, und es geschähe in eben diesem Moment, in ein Trümmerfeld wäre der Garten verwandelt, und ich hätte den Entschluß gefaßt, den Leuten im Haus den Ausgangspunkt der Katastrophe begreiflich zu machen -, stände dann also, so oder so, im Hausflur und suchte nach einem Lichtschalter, fände ihn nicht, so daß ich die Treppe vorsichtig hinaufstolperte und mich in einem Lumpenhaufen verwirrte; ich schliche mich in ein Zimmer, um etwas, um den Beweis zu suchen, kramte in den Papieren und Karteikarten, dächte, seltsam doch, daß um diese Zeit hier keiner ist, denn es wäre das Schlafzimmer, aber, so würde ich mir dann sagen, Harthfeld hatte schon immer diese Angewohnheit, nebenan gleich auf dem Sofa zu schlafen, und eine Frau würde neben ihm, im erhellten Raum knien - oder ich kröche wieder ins Bett zu Marianne, und wir beide hätten auf einmal keinen Hunger mehr und schliefen schnell wieder ein -; zwei Schwestern zu beschlafen!, oder brauchte es da am Ende mein Konzept?, doch es galt, kühl zu überlegen, ohne spekulative Verirrungen: was hatte ich von Mariette - das Animalische im Menschen wittert nach Verwandschaft - geträumt?: Güterwaggon, Maschinenteile..., und unter Harthfelds Öllappen war ich eingeschlummert!: ich rannte nach oben und fiel über Harthfelds Sofa her, prägte mit Lehm und Wasser das Negativ meiner Gliedmaßen in die Bezüge, grub, so wie es meinem Namen entsprach, Gruber, meine Finger in die Polsterspalten: in der Höhe des Öllappens fand ich den Schlüssel zur Mangel; Harthfeld war mir nicht gewachsen gewesen, das zweifellos letzte noch fehlende Indiz in der langen Kette der deutlichen Fingerzeige hatte er mir ungewollt in die Hände - seine Gier, dachte ich, hat ihn mir ausgeliefert - gespielt; jetzt würde ich erfahren , ob es sich um eine Heißmangel oder eine Trockenmangel handelte, ob sie noch der Nutzung, und - wenn ja - welcher zu dienen vermochte, während Marianne und Mariette jetzt in der Autobahnraststätte sitzen mußten, denn Marianne, wie ich wußte, schätzte es, in der Dämmerung, über die Abfahrt zur Waldstraße, heimzukommen, würde zum Zahlen den Augenblick abwarten wollen, da sich die vorbeischnellenden Wagen mit Fernlicht zeigen würden; vielleicht, fiel mir allerdings eben ein, war Mariette bereits in der Raststätte zum Telefon gegangen, und Harthfeld würde demnach schon heute in unsrer Wohnung vorbeischauen: ja, Harthfeld war nicht wirklich - er täuschte das wohl nur gern vor - sentimental, ohne ein Zögern würde er kommen.

7
Ich mußte die Neonröhren einschalten, um etwas zu erkennen, so dunkel war es draußen inzwischen geworden; alles blitzte, so wie ich es vermutet hatte, und ebenso offenbarte jedes Detail die Funktionalität, die in dieser Form bloßzulegen ich überzeugt gewesen war, dicht war der Rolltisch an die Mangel herangerückt, seine Platte in die entsprechend nötige Schräge geklappt, ein sauberes Badetuch darüber gebreitet worden; die Dockenklammern an der erhöhten Seite des Tisches wiesen zur Mangel, und eine Rolle war eingelegt - also war es wahr -; ich überflog die Betriebsanleitung (wenn die Docken schief untergelegt werden oder Wäsche zu Trocknen ist oder zu locker aufgedockt wurde, schieben die Docken, der Kasten verliert das Gleichgewicht, und es besteht die Gefahr eines Bruches) und setzte die Maschine, etwas wehmütig, in Gang: so also hatten es Mariette und Harthfeld getrieben: erst im Ponykarren, und Mariette war mit ihren Waden links und rechts zwischen die Verstrebungen geglitten - und so fest verdrahtet war in Harthfelds Hirn das Bild des ausgehauenen Kreises auf der Wiese mit der Erinnerung an Mariette gewesen, daß er jenen auch noch nach der Scheidung und schon über fünf Jahre hinweg wieder und wieder erneut, den Ponykarren rituell mit Heu gefüllt, nach dem sich seine Wut gelegt, in der er wohl die Bäume zertrümmert und, Reflex auf Mariettes Fruchtbarkeitskreis, die Brandstätte angelegt hatte: magischer Tod und Ähnlichkeitszauber, ich kannte mich da ein wenig aus -, im Winter aber hatte Harthfeld Mariette dann zweifellos anstelle zum Karren in die Mangel geführt; anders mußte Harthfeld es dagegen mit Marianne angestellt haben, hinter meinem Rücken, nachdem Mariette auf und davon war: in der frischgescheuerten Efeulaube mußte er mit ihr gesessen haben, ehe er sie in den Kessel im Waschhaus hob, sie ihm ihre Kleider reichte, er deren Zeugenschaft und Durchnässung zu verhindern suchte, indem er nochmals aus dem Haus trat und die Wäschestücke quer auf dem Tisch in der Laube arrangierte, ehe er wieder im Waschhaus erschien und den Gummischlauch über den Wasserhahn stülpte, so wie ich es vorgefunden hatte, um ihn darauf entschlossen auf Marianne zu richten, die sich im Kessel niedergelassen hatte und die Hände hinter ihrem Hals zusammenbog, sobald Harthfeld den Hahn öffnete und das kalte Wasser in Rinnsalen beharrlich Wege über Mariannes Körper erkundet haben mußte, um in die siebartige Ausflußöffnung zu gelangen, die mit energischem Zugriff zu verschließen, Harthfeld jedoch sicher nicht versäumt hatte, bis endlich Marianne aus dem Zuber gehoben und in den Mangelraum getragen zu werden gewünscht und Harthfeld sie umsichtig auf dem Rolltisch niedergelassen haben würde, um gleich darauf ins Waschhaus zurückzukehren und die Feuerung des Waschkessels zu entfachen, so daß dieser eben zur rechten Zeit erhitzt sein würde, um Mariannes Haut wieder Geschmeidigkeit, ihrem Geist wieder Entspannung zu gewähren; die Mangel - eine absolut vollkommene Maschinerie, die Harthfeld nur so ersonnen zu haben schien, um mit ihrer Hilfe die so gegensätzlichen Naturen Mariettes und Mariannes auszusöhnen, und vielleicht bildete sogar allein etwas derartiges den Grund des mysteriösen Treffens: zu dritt würden sie jetzt in unserer Wohnung lagern, Harthfeld würde interessiert in meiner Studie stöbern, während die Damen den kargen Raum in der Duschkabine miteinander teilen würden, um sich nach der Fahrt zu erfrischen, während ich hier in die Gefahr geriet, durch den majestätisch monotonen Lauf der Wäschemangel in eine Absence versetzt zu werden -: so mußte es Mariette und Marianne geschehen sein: auf dem Rücken liegend, hatten sie ihren Nacken über die Docke nach hinten gebeugt, so daß sie das Auf und Ab des gewaltigen Kastens, der die eingeschobenen Rollen unter sich hertrieb, bequem verfolgen konnten, während Harthfeld am Tisch seiner Schuldigkeit nachkam; am nervösen Flattern der Transmissionsriemen würden sie sich erregt und über das Eintakten und Umlenken der Zahnstange unter und über den Zahnrädern mit halbgeschlossenen Augen nachgedacht haben, während Harthfeld die schwitzende Klebrigkeit ihrer Haut mit dem Wäschesprenger zu lindern unternommen haben würde, und im regelmäßigen Ächzen des drückend schwer belasteten Holzrahmens würden sie danach den ihnen gemäßen Rhythmus rasch wiedergefunden haben; am Geruch des Maschinenöls hatte sich Mariette berauscht; im süchtigen Blick in die subtil aufeinander angestimmten Getriebe würde Marianne, im Vergegenwärtigen der elementaren Urgewalt des Stampfens und Knisterns um den Kasten würde Mariette ihre Ekstase zum Höhepunkt aufzugipfeln verstanden haben. Harthfeld war nur, und immerhin, ein Motor zur Inbetriebnahme ihrer Phantasien gewesen, die - weibliche Schwäche? - entschlossener Aufreizung bedurften, um zur Entfaltung zu gelangen: im Grunde ärmlich dran, begriff ich, wenn sie der Harthfeldschen Virtuosität nicht entbehren können, die Frauen.

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Ich begriff, daß alle allgemeinen Ideen, die man aufstellt, ihrem Wesen nach nichts weiter als Vorwände sind: ich hatte die Wohnungstür ja wohl eher zugeschlagen, als daß sie von selbst ins Schloß gefallen wäre; mein Vermischungskonzept, so dachte ich, hatte mir dazu dienen können, endlich die langersehnten Indizien zu finden; und nun würde ich nach Hause eilen, urplötzlich auftauchen, müßte Marianne und Harthfeld und Mariette, würde sie überraschen, wobei? versuchte ich mir vorzustellen: und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen; und ich mußte an den wilden Wein denken, der mir heute Nacht den Schlaf geraubt hatte, an den Schnittlauch, der in Tontöpfen über die ganze Wohnung verteilt im besten Safte stand, an die quadratischen Segmente der Steppdecken und, als würde dies nicht hinreichen, daran, daß Harthfeld ja eben in diesen Augenblicken sein Studium meines Kapitels über die verwerflichen Kombinationen von Hypnotisierung und Geschlechtsverkehr abgeschlossen haben und - noch vollständiger hätte ich ihn nicht rüsten können - zur Tat schreiten würde, all die Ingredienzien, die ihm zu Füßen lagen, zu einem berückenden sensuellen Aphrodisiakum zu komponieren, welches ihm ermöglichen mußte - letzte Daseinssteigerung -, Mariette und Marianne gemeinsam in ein Bett zu locken, mit Verheißungen, die auszumachen und zu deuten ich mehrere Tage, wenn nicht Wochen bedürfen würde: an all dies hatte ich noch irgendwie gedacht, auch daran: ich müsse sie unter allen
Umständen schon zu einem Zeitpunkt überführen, wo der drei Vergnügen, zwar im Anschwellen begriffen, noch weit entfernt von jenen Schwellen ablief, deren Erreichung letztlich jede, selbst die extremste Form eines Skandals mit Leichtfertigkeit aufgewogen haben würde, vergessen worden von mir war nur die Bagatelle, daß ich in meiner derzeitigen Lage nicht über meinen Wohnungsschlüssel verfügte: zeitlebens war mir Harthfeld immer einen kleinen, entscheidenden Schritt voraus gewesen; mir oblag nur, seine Geniestreiche bis ins Mark, mit jeder Fiber meines Geistes zu rekapitulieren; nicht gegeben war mir Zeit, sie zu ahnden; nur dämmern wollte ich noch und schlafen, als mich diese Gewißheiten durchzuckten, und ich sank über den Rolltisch, hätte
träumen mögen von Harthfeld, vielleicht davon, seinen Schwanz in den Mund zu nehmen und behutsam durchzukauen und zu schlecken, doch dann waren da nur Häute und Haare, eine Knochenschale, Lymphe und etwas Liquor; etwas Graues; war mittendrin; grub mich durch die Gyri und Sulci des Cerebrum, gelangte in die Kerngebiete: das wäre es freilich gewesen, hätte ich jetzt am Palladium etwas durcheinander gebracht - doch wie sollte ich gesichert erfahren, ob das nun mein Hirn war oder eben dasjenige Harthfelds -: um Harthfelds zügellosen Antrieb wäre es geschehen gewesen!, doch meine sich anschließende Idee war noch verführerischer: nichts weiter hatte ich zu tun, als die Capsula Interna zu besetzen, das Nadelöhr, durch welches alle Bahnen zum Großhirn zogen; einen Schlitz würde ich anbringen und wie vor einem Guckloch Posten beziehen, nicht der kleinste infernalische Gedanke konnte mir verborgen bleiben;

dann weckte mich Harthfeld.

(aus KONTEXT 7, September 1989)

 

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