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Detlef Opitz FAITES VOS JEUX !
Bert Papenfuß-Gorek URLOGIK IM DIALEKTE - 793 FF
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Detlef Opitz FAITES VOS JEUX !

 

So., 5:03 pm; Hoppegrten: - Du: Liebergott; o! Mit kaum Geld mehr in den Taschen, doch 5 Wetten gebucht, da durfte man ruhig auch mal diesen alten Herrn bemühen: - Odu: lieberliebergott!

Finster & grimmig possierte links über den Pappelschönen einiges Wolkengetürm; in angemessener Gebärde dazu warf Brenzig den Kippen fort, an dem er sich eben verbrannt hatte. Der Boxenwagen auf der Gegengeraden wollte sich partout nicht in den richtigen Winkel rangieren lassen: diese Schildbürger aber auch!

Dann waren 7 der 8 Buchten besetzt, nur Karmesina scheute noch einige Sprünge lang, ehe endlich Mr. Jukebox seinen Job tun konnte; irgendwo weit hinten kläffte das Gewitter und Start!

Und wie schon die letzten beiden Sonntage: das Läuten war noch gar nicht verklungen, schon hatte Minzo eine Länge gut und spurtete die Pace; wunderbar schlecht weggekommen hingegen Transit, ein brauner Gestütshengst aus Leipzig, nach der Papierform der schärfste Widersacher des Wallachs.

Auf dem Programm der klassische Sprint. Über die doppelte Distanz am vergangenen Sonntag hatte sich Minzo noch auf dem Zielfoto geschlagen geben müssen von Rosanna, aber die Zwölfhundert heute galten als seine Spezialstrecke, zudem standen die Gewichte günstig für ihn. So der Kurier.

Der Ansager bestätigte, was Brenzig aus seiner Perspektive nicht genau zu erkennen vermochte: 2 Längen voraus Minzo, eingangs des Dahlwitzer Bogens. Und Transit ganz am Ende des Oktetts, gemeinsam mit Hakima, der Stallgefährtin des Wallachs, um die allerdings sich Brenzig nicht sorgen brauchte, er hatte ausschließlich auf Einlauf gesetzt, in 5 Kombinationen. Und Stall zahlt bekanntlich nur auf Sieg & Platz.

Aus dem Bogen in die Zielgerade, keine 400 Meter mehr. Die anfängliche Stille auf den Tribünen verlor sich mehr & mehr im Fiebergeschrei einiger 1000 - so mochte man meinen: Infizierter. Brenzig kaute sich die Kuppe des kleinen Fingers wund und bemerkte nicht den Schmerz, eine versoffene Stimme hinter ihm fluchte auf Kalmus, der Hakima ritt, und zwar erbärmlich! Von ihr abgesetzt hatte sich jetzt ganz außen der Hengst, über den im Kurier stand, er pflege seine Rennen immer erst auf der Geraden zu entscheiden. Auch der Magdeburger hielt mit, Claas, seit dem Start an 2. Position. Transit nun schon gleichauf mit ihm und vorbei. So genau lautete Brenzigs teuerste Wette: Minzo - Transit - Claas!

Doch der Braune attackierte auch den Wallach und ließ den Lärmpegel auf den Rängen ins Unerträgliche ansteigen. Nur noch vorn die Logeninhaber hielt es auf ihren Plätzen. - Zieh doch! schrien die Einen, andere waren laut & zuversichtlich für den Hengst. 20 Meter noch ins Ziel, beide Pferde Kopf an Kopf, 10 Meter, und Transit kam & kam und, irgendwie war es ja durchaus imponierend, holte noch eine glatte Länge übern Strich; Class knapp Dritter.

Der Himmel zog sich immer größere Posten Blau über, in ihrer Ohnmacht begnügten sich die Wolkenlümmel überm Horizont damit, gefährlich auszusehen, grimmig & finster. Der Tag schien versöhnlich abtreten zu wollen, nachdem er noch vor einer Stunde mit Unwetter gedroht hatte. Brenzig aber war dies alles egal. Nur das Applaudieren um ihn herum und die Bravo-Rufe nervten ihn. Er ließ sich auf die Bank zurück und besah sich noch einmal & noch einmal seinen Wettschein, um ihn dann immerhin würdevoll zu zerreißen. Er hatte seinen Favoriten in allen 5 Kombinationen auf Sieg gesetzt, das war unverzeihlich, widersprach jeglicher Wettvernunft. Mühsam arbeitete er sich von den Tribünen herunter, hatte dabei nicht allein gegen den Menschenauflauf anzukämpfen, sondern auch gegen einen Schwindelanfall, der ihn seit Ende des Rennens beherrschte. Er wußte, daß die letzten Münzen, die er in seiner Hosentasche fühlen konnte, nicht einmal für einen einzigen Lauf mehr reichten. Die vergangenen 3 Renntage hatten ihn an die 700 Mark gekostet, mehr als 2 Drittel eines Rundfunkhonorares. Und kein Nachschub stand in Aussicht.

Auf dem Vorplatz zur Rennbahn wurde gefeiert, 4 Rentnerinnen tranken Sekt aus der Flasche. Brenzig hatte sie schon öfter zusammen bemerkt, nie so in Fahrt wie heute. Ein Alter in schmuddeligen Manchestern kontrollierte in den Abfallbehältern die verfallenen Wettscheine, an einem etwas abseits stehenden Tisch hinter der Imbißbude wurde gewürfelt, seven/eleven. Hundertmarkscheine, Fuffis. Mit der Absicht, sich am Abend irgendwo Geld zu leihen, durchblätterte Brenzig sein Adreßbuch, um aber schließlich bloß zu erfahren, was er ohnehin längst wußte: ein Verzeichnis der Gläubiger.

 

Di., 7 pm; Whg. Brenzig: "'hunger auf wahnsinn' - so der titel eines psychoschmökers über magersucht, halb roman, halb krankengeschichte, den kujawa unlängst gelesen haben könnte. 'sehnsucht nach hunger', sinniert er / kritzelt er auf einen zettel und nimmt sich dann viel zeit für etwas: staubsaugen, stuhlgang, aus'm fenster glotzen mit div. emsigkeit draußen; etwas beliebiges. endlich entschließt er sich, tee aufzubrühen, läßt aber auch davon wieder ab (motorisch gestört?!), durchstöbert stattdessen den küchenschrank nach eßbarem. klar, daß er nix findet (vgl. kujawas pekuniäre situation in kapitel 1), klar auch, daß er eher einverstanden ist mit dem resultat: 1. moritaten des selbstmitleides, vielleicht auch kurzer diskurs über allg. anfälligkeit hinsichtl. gewisser leseeindrücke: magersuchtsklamotte.

u. dgl. mehr einige zeilen lang, bis sich endlich gelegenheit bietet, kujawa ins bett zu schicken, fertig mit der welt. ruhe. zeit für details in zimmerbeschreibung. z.b.: ,an dem spitzen pegel, den sie sonne ins zimmer schickt, läßt sich die uhrzeit abschätzen, halb sechs ist es jetzt etwa, in 15
minuten würde sich der pegel über die eckgarnitur hinweg verzogen haben.' (oder besser: über die stereoanlage hinweg; unmöglich, daß kujawa etwas besitzt, das sich eckgarnitur nennt. aber stereoanlage auch nicht! ist seit mindestens 15 seiten verkauft.) (od. sonnenpegel ganz raus, dafür aus ,Wenn Die Blüten Blühen' die beschreibung der bücherwand übernehmen, liegt sowieso schon 2 jahre in der schublade.)

kujawa erwägt, wieder aufzustehen, sich irgendwo zum essen einzuladen. aber: daß ihm der gedanke nun gleich übelkeit bereiten soll, wäre vielleicht zu dick aufgetragen. lieber etwas buttern in der art: 'warum sollte er sich den hunger nehmen lassen?' - hunger als luxus in dieser zeit, in diesem land; bierernst. warum sollte er sich das leid nehmen lassen, das mitleid, das er ja als angenehm empfindet?, und zwar zu recht! (die komik nicht untermauern: 'die sehnsucht nach suicid ist nicht neu, neu ist nur die methode', einsam & allein im kämmerlein etc.)

(und das folgende so schreiben, daß grenze traum/wirklichkeit unklar bleibt): ,als die halluzinationen einsetzen, ist draußen noch tageslicht.' oder was ähnlich konkretes, ein satz aber bloß. angelehnt an die türfassung: susanna. (nix ist aufreibender, als sich einen beliebigen namen ausdenken. 'susanne' z.b. wäre wirklich das letzte; das 'a' am ende macht einiges gut.) sie, die er bislang nur in jeans kennt, trägt ein gepünkteltes leichtes sommerkleid, wie sie vor 20 jahren modern waren, age of petticoat, dazu hochgeschnürte sandaletten. auch das haar offen zu tragen, ist ihm unbekannt an ihr, gewöhnlich schnürt sie sich ein keusches gebündl. sie schaut ihn an, eindringlich, sagt etwas, das er nicht versteht, akustisch nicht, dann ist sie plötzlich wieder verschwunden. (was für ein wort: eindringlich! eindringlich lieben, eindringlich an wen denken...)

er erwacht vom geruch nach gebratenem. erneut susanna. oho: aha! in der einen hand die würstchen, in der anderen eine flasche wein. 'frauen sind seltsame tiere', sinniert er laut & im spaß, nachdem er halb widerwillig/wehrlos, halb gierig das essen in sich gebracht hat. (späteren durchfall nicht vergessen!) 'sie schauen dir ins gesicht und wissen sofort, was dir fehlt, was dir wirklich fehlt.' susanna darauf mit allen gesichtsöffnungen sperrangelweit: entsetztfasziniert.

weitere 10 minuten später: kujawa rauchend, trinkend, plaudernd über einen kinofilm oder politik. (die affaire meißner aus der kartei suchen, der chef der ostbln. akademie d. wissensch., der sich in westbln. beim klaun erwischen läßt, plus ff. geheimdienstrummel.) auch kurzes gespräch darüber, wie susanna überhaupt in die whg. gelangen konnte. sollte er tatsächlich vergessen haben, abzuschließen? man kennt ja den typ selbstmörder, der zuvor noch seine errettung organisiert.

satt also & heiter, weltbetrachterisch/weise: kujawa. nach den depressionen nun euphorisch. time for philosophical flight of fancy: ,das sind die geheimnisse des lebens: wenn ich von 2 stückern bratwurst glücklich zu machen gehe, so kann ich doch vorher beim besten willen nicht unglücklich gewesen sein. mit dem wunsch zu sterben sogar!' - dies gewissermaßen die quintessenz der ganzen episode. susanna zeigt sich ob dergewaltiger geschosse sprachlos/beeindruckt, gibt dann nur zögerlich ihre erwartungen bezügl. gewisser gegenleistungen kund (rutscht auf ihrem stuhl herum, so daß sich ihr kleid verschiebt: oder weniger profan; erzählt etwas und legt dabei wie nebenher ihre hand auf einem seiner schenkel ab...)

als der wein ausgetrunken ist, erhält sie auch promt, was er ihr seit 6 monaten vorenthält, seit ihrer bekanntschaft. (od. hatten die schonmal?) (ein bißchen sex ist immer gut für eine story! literatur hat zu unterhalten!) ob sie vergnügen daran hat, angesichts seines zustandes von euphorie & betrunkenheit, darf offenbleiben, vielleicht einige bissige bemerkungen ihrerseits nach abschluß der kür. die szene endet/beginnt mit: 'er war nicht gut, er war so dankbar...!'

danach der abgang wie stehengebliebener zigarettenrauch, kalt & frustig: sie zieht sich wieder an, bleibt noch auf eine zigarettenlänge auf der bettkante sitzen, spricht natürlich nicht, ebensowenig wie er, und läßt ihn endlich allein. draußen ist es nacht geworden, aus der nachbarwohnung sind brocken eines vermutlichen ehestreits zu vernehmen, od. tv, kujawa schläft ein..."

 

Das war die Arbeit eines Nachmittags. Brenzig schrieb schon länger als 2 Monate an einem Roman, von dem er immer weniger wußte, wohin er führen sollte. Ursprünglich hatte es eine Ganovengeschichte werden sollen, im Laufe der Zeit allerdings war er mehr & mehr abgetriftet in allgemein-existenzielle Betrachtungen, bei denen er sich jetzt zunehmend unwohler fühlte, mochte er sie auch noch so raffiniert ironisch zersetzen. Von einem bestimmten Erlebnis ausgelöst (und er war sich noch nicht einmal schlüssig darüber, ob es eine harmlose Ehescheidung sein sollte, gar die Erkenntnis des Helden über seine wirkliche sexuelle Präferenz, oder ein anderes Malheur), verliert Kujawa, ein Mann in den Dreißigern, binnen eines Jahres sämtliche Kontakte zur Außenwelt,
geht nicht mehr arbeiten (eine Erbschaft wäre günstig), bricht Freundschaften ab usf., verfällt in eine gewollte Einsamkeit, die er gewissermaßen kultiviert, indem er sich eine schrullige Existenz einrichtet aus Phantasie & Wahn. So etwa das Konzept, Genaueres war jetzt, nach 2 Monaten, noch nicht zu sagen. Eine kleine Anleihe bei Joris Karl Huysmans ("Wider den Strich") durfte, so wollte es Brenzig, durchaus erkennbar sein.

Er verspürte tatsächlich Hunger, bereitete sich Spaghetti zu, richtete sie mit Käse & Ketchup an. Wie weit darf man die Eitelkeiten treiben? überlegte er, unzufrieden mit sich und der Arbeit des Nachmittages. Hunger als Thema ist wahrscheinlich bloß eitel, einigermaßen selbstgefällig. Die ständig, auch schon im vorigen Kapitel untergejubelte Frauenfeindlichkeit natürlich auch. Ein pubertäres Gebaren. Brenzig gefiel sich als misogynes Monster. Er setzte sich zum Essen an den Schreibtisch und las noch einmal die Notizen des Nachmittags. Zunächst hatte er einige Korrekturen einzubringen, dann verwarf er die Aufzeichnungen gänzlich. Erst einmal müsse geklärt werden, wohin das Ganze überhaupt soll, beschloß er und wars zufrieden für heute. Das Wort 'eindringlich' notierte er auf eine Karteikarte, darunter einige zotige Anwendungsbeispiele.

 

Di., 9:15 pm; Whg. Flurts: Brenzig tat, was nie einer tut: hob die Augenbrauen verschiedenweit an - er hatte es lange geübt -, versicherte sich einige Zehntel lang der Wirkung dieserart Akrobatik und rochierte lang: 0-0-0.

- Wir könnten ja verdoppeln, den Einsatz, schlug Flurts prompt vor, scheinheilig, nippte genüßlich von seinem Rotwein, um nun von f6 kommend den Springer e4 zu schlagen.

Brenzig, der schon die 200 Mark des einfachen Einsatzes nicht zahlen konnte, gab sich einige Sekunden lang unwirsch, nachgerade entsetzt über den Verlust, ließ die Brauen weiteren Unsinn treiben und sprach mit sich selbst: -Den krieg ich doch zurück, müßte ich doch, oder? Wenn ich nun den Turm bringe? Unbeirrt von dem unangenehm milden Lächeln Flurts, gab er sich wieder etwas zuversichtlicher und nahm das Angebot an. Statt aber nun wirklich e1 zu spielen mit Angriff auf e4, opferte er kurzentschlossen die Dame mit Schach auf d8 und sagte Matt in 2 Zügen an.

Es dauerte seine Zeit, ehe Flurts dies einsah, ohne Muse für physiognomische Raffiniertheiten.

- Eine ganz läppische Eröffnungsfalle, sagte Brenzig. Steht in jedem Lehrbuch für Anfänger: Réti-Tartakower.

- Wer auf solchen Unsinn reinfällt, sollte besser aufhören, entgegnete Flurts auf Brenzigs Angebot einer Revanche. Von den 400 Mark jedoch brauchte er nur die Hälfte zu zahlen, der Rest wurde mit ausstehenden Schulden verrechnet.

 

Di., 10:30 pm; Nante-Eck: Wie immer dienstags: Dixieland & brechend voll. Die 3-Mann-Band verursachte Lärm für ein ganzes Militärkorps. Einige Leute vor dem Podium klatschten den Takt mit zu den immer gleichen New-Orleans-Nummern, manche fanden sogar Platz zum Tanzen. An dem langen Tisch in der Nische nahe des Eingangs eine Frauenbrigade, vermutlich. Aufgedonnerte Matronen, grell & bunt, die die Musikpausen nutzten, lauthals "so ein Tag, so wunderschön wie heute" zu verkünden, schaukelnd; ganz das Klischee der 'Ehehälften im Ausgang'.

'Rächer suchen Opfer - ein Stilleben': eine Handvoll Rocker langweilte sich weiter hinten am Toilettenausgang. Sie hielten große Biertroge in den Händen, ließen ihre Ledermonturen wirken und schauten dem unwürdigen Treiben zu, bös' & zu allem bereit.

Gleich daneben an einem Vierertisch 2 Pärchen, graumeliert & hennabehandelt; wohl beseidet. Die Herren in Anzügen, Präsent 70, einer mit, einer ohne Weste, die Damen in schicken Kostümen; Weißwein vom Teuersten in den Mehrzweckgläsern. Einer der Männer sagte etwas zur Nachbarin, diese lächelte nur g'schamig=kokett. Wie verabredet man einen Partnertausch, dachte Brenzig und tat gut daran, sich wieder mehr dem Geschehen am eigenen Tisch zuzuwenden. Hier saßen die Spieler und Leute, mit denen er gelegentlich kleinere Geschäfte gemacht, das heißt, Geld getauscht hatte, Mark gegen D-Mark, Mark gegen Dollar. Brenzig war bekannt für die Vermittlung solcher Transaktiönchen.

Womöglich wegen seiner Unaufmerksamkeit eben hatte er nun schon zum 3. Male hintereinander beim Knobeln mit Streichhölzern verloren. Die verbleibenden 50 Mark nicht auch noch loszuwerden, stand er auf und gesellte sich zu einigen Bekannten an der Theke. Dies war der Ort in der kleinen
stilbrüchigen Edelkneipe, wo gewöhnlich die sogenannten anspruchsvolleren Gespräche geführt wurden, soweit der Lärm dies überhaupt zuließ. 'Die Intellekten vom Tresen', hieß es deshalb, was aber natürlich so zu pauschal war.

- Man müßte zunächst einmal klären, meldete sich eben einer der Beteiligten zu Wort, ob der Begriff nicht a. grundsätzlich französisch auszusprechen ist, und b., ob man nicht überhaupt sich auf einen anderen Terminus einigen sollte wegen des allzu inflationären Gebrauchs.

- Nach meinem Dafürhalten gehört ,Dekadenz' allein in den Bereich der Literaturkritik und also nicht so primär angewendet für gesellschaftliche Belange, gab der Ire zum besten, der allerdings Deutscher war, seit kurzem sogar Mitglied der kleinen jüdischen Gemeinde. Ire wurde er nur genannt wegen der Farbe seines Haares.

Ein langes, Brenzig um mindestens einen Kopf überragendes Mädchen lauschte nicht nur aufmerksam der Unterhaltung, sondern hatte auch schon mehrmals Gelegenheit, mit Brenzig kurze Blicke auszutauschen. Zumindestens bildete Brenzig sich dies ein. So also sah er sich genötigt, auch sein Scherflein beizusteuern, rasch brachte er es hinter sich: -Im Prinzip liegt der Fall ja klar, sagte er. Man muß sich nur an Huysmans orientieren, da wurde doch das 1. Mal von Dekadenz gesprochen in der Literaturkritik. Oder irre ich?

Das Mädchen wirkte nicht uneinverstanden mit dem Gesagten und bald fand er Gelegenheit, sie aus der Runde zu entführen. Mit einer schmalen, feinen Nase, hellen, kaum auffallenden Augenbrauen und etwas hervorstehenden Wangenknochen, entsprach sie zwar nicht unbedingt dem, was man als 'seinen Typ' bezeichnen könnte, was immer er als solchen definiert hätte, jedoch fand er es zumindest reizvoll, zu ihr aufschauen zu müssen. Zudem hatte er um diese Zeit schon so reichlich dem Alkohol zugesagt, daß ihn wahrscheinlich auch Buckel, Klumpfuß & Silberblick nicht gehindert hätten, eine Erfahrung darüber anzustreben, wie sich diese Überlänge bei anderen Gelegenheiten bemerkbar machte. Also arbeitete er artig, ließ sie reden, ihre letzte Lektüre aufsagen; Joyce, Musil & Proust miteinander vergleichen (!) und den Lyriker Bukowski gegen den Geschichtenschreiber Bukowski verteidigen...

 

Di., 11:55 pm; Nante-Eck: Nein, es sei nicht eine Frage der Lust, das Gespräch weiterzuführen bei ihr oder bei ihm, vielmehr die Gegebenheit mangelnder Toleranz eines zu Hause gebliebenen Ehegattens, entgegnete sie wohlformuliert auf seine Einladung.

- Man kann das nie genau wissen, floskelte er zurück, und hätte nicht sagen können, was man nicht genau wissen könne. Zumindest aber konnte sie nicht wissen, wie sehr ihn dieses Geständnis nur zusätzlich stimulierte. Sie ließ sich knapp 8 Minuten Zeit, ehe sie ihn endlich bat, für noch 2 Flaschen Wein zu sorgen.

 

Mi., 2:50 am; Whg. Brenzig: Warum bevorzugt Brenzig verheiratete Frauen? - Verheiratete Frauen bleiben nicht bis zum Frühstück. (Aber vermutlich ist das nicht die ganze Wahrheit.)

 

Mi., 11:00 am; Whg. Brenzig: Andererseits: daß er während der letzten Nacht um die angestrebte Erfahrung reicher geworden wäre, läßt sich nur bedingt sagen. Was nutzt eine Erfahrung, an die man sich nicht erinnern kann? 2 Flaschen Wein waren mindestens 2 zu viel. Er glaubte beim Aufstehen, es würde ihm jeden Moment der Schädel zerspringen. Zum 1000. Male gelobte er, seine Lebens=Trinkgewohnheiten zu ändern. Dann schleppte er sich zum Clo.

 

Fr., 2:17 pm; Hausflur Brenzig: Im Postkasten 2 Briefe. Einmal aus Bonn. Eine mittelgroße Zeitung will eine Reihe bringen von & mit Schriftstellern, die etwas über ihre Arbeit schreiben, ihren Alltag, ihre Konzepte, die Erfahrungen beim Veröffentlichen/Nichtveröffentlichen und dieses ganze Pipapo. Sie schrieben von 130.000 Lesern, was Brenzig Rückschlüsse ziehen ließ auf ein zu erwartendes Honorar. Der 2. Brief von einem Verlag in Rostock. 3 Seiten lang etwas darüber, von wie feiner Beobachtungsgabe die eingesandten Manuskripte zeugen, und wie hoffnungsvoll & vielversprechend... Leider aber sehe man keine Möglichkeit, sie ins derzeitige Verlagsprogramm zu integrieren.

Es war nicht so, daß einer der beiden Briefe Brenzig sonderlich berührt hätte. Er fand sich wieder in seiner Wohnung und begann zu arbeiten, so wie die meisten Nachmittage. 130.000, dachte er und schreib diesen Satz: "Finster & grimmig possierte links über den Pappelschönen einiges Wolkengetürm."

 

So., 3:40 pm; Hoppegarten: Sieg für Minzo über die Achtzehnhundert! Auch die Plätze stimmten. Damit hatte wohl keiner mehr gerechnet, der ewige 2. hatte es doch einmal geschafft. Und das, obgleich der Kurier und alle anderen Zeitungen 3 andere Favoriten genannt hatten. Die Quoten lagen bei Sieg auf 98, der große Einlauf bei 12.000 zu 10. Brenzig ließ sich 3.000 Mark auszahlen und stieg nun voll in die verbleibenden 5 Rennen ein.

Ende, dop

(aus KONTEXT 1, Februar 1988)

 


Bert Papenfuß-Gorek URLOGIK IM DIALEKTE - 793 FF.

 

erbfolgestreitigkeiten, versorgungsschwierigkeiten
eisiger machtkonzentration, argem bevölkerungswachstum
& wohl auch unglücklicher ökologischer verhältnisse wegen
vergleichbar den kryoturbationen, die der schleunigen talfahrt
des talers & der beiden mark, die eben rumdallern, folgten
& zwar in den dalles, der uns einzubehalten dräuen tut
kam es zu auswanderungen, einige gefällt durch das los
andere durch unternehmergeister motiviert & durch die wut
die den üblichen ökonomischen rückschlägen entkrochen kam
der rute der eigenen bedürfnisse nach asengläubige wikinger
die ausgebufftesten kartoffeldiebe des binnenmeerraums
bahnten sich einen offensiven zugang zu den herrengedecken
kultsymbole & monumente aus der zeit des glaubenswechsels
in die ohren gestopft, um am eigenen lärm nicht abzubrechen
pferdeamulettchen umgehängt & ohrringe des typus tempelhof
& halbmondförmige voll prallen rankenornamentfiligrans
kandelaber im vendelstil, um & um umwunden von spiraldekor
& bergkristallanhänger in allen erdenklichen hautfältchen
steigeisen an den füßen & unter den pelzmützen hornkämme
in den zahlreichen nie gewaschenen & ungekämmten haaren
ihre hofverbandsstruktur in voller militärischer demokratie

die sterne des gürtels

der tag, an dem die sonne oder sonsteine
im westen aufgeht, ist fern
aber die erinnerung wach
reinheit, verantwortung & freie wahl
seufzen unten, oben schwimmt fett
ein prüder abglanz der pracht
im hosenstall des demokratismus
scharrt die totenstille wunder

von keulen beulenübersät, bis zu den nägeln tätowiert
mit bischofsstäben, sonstwo ergattert, wild um sich predigend
bündelweise thorshämmer in ihren düsteren hosentaschen
gehandicapt von komplizierten wehrgehenken an wampe & stirn
auf ihren drachenhäuptern eisenhauben in greiftierstil
jeder einzelne gewandet in einen ergiebigen textilfund
die überwürfe übersät, konserviert könnte man meinen
von spangen, schweren bronzeschnallen, schalenfibelpaaren
dosenfibeln, hufeisenfibeln & mit perlbändern verschnürt
die hälse noch & noch umwürgt von billigen torques-kopien
nielloverzierte vogelfanggeräte an jedem vorhandenen finger
& all ihre buckelschilde fest auf den rücken geschnallt
krauchten sie angerannt nachdem sie ihre schiffe verbrannt
einige von ihnen kopflos & mit dem gegenteil von angst behaftet
breiteten sie ihr promiskuitives flair über mecklenburg aus
mit einschneidigen schwertern, deren griffe silbertauschiert waren
mit wurf- & streitäxten, mit eiserner bartäxte siegesseligkeit
mit jeder beschreibung spottenden kampfhämmern & feilen
mit an's absurde grenzenden speeren sowohl als auch waagen
kaufleute aus lauterer passion, pauschal auf frauenraub aus
die heute verhökernd, kaum daß sie sich ihnen in den weg stahl
erbarmungslos verkaufte einer den anderen, selbst sich selbst
saufhändel, autopiraterie, selbstsicherer auftritt & die wucht
der nordischen, alles zu überlegen, was in den unterlagen stand
überspannte ihr trachten, allerlei luxus an sich zu schmiegen

eine spekulation des herzens

am saum der welt harren unserer selige landstriche
voll lockender haine, üppiger pracht, entrückung dichtbei
arbeitslosen genusses & einhelligen minnetrinkens
einflußreiche hörner & der demut blechpfeifen quietschen
die gegenwart ist der gipfel der vergangenheit
die verlängerung des diesseits macht keinen unterschied
gnadenlos verlangt jeder neubaute sein opfer
& so manche tilgen der ungnade wegzehrung unter uns

mit knapper not an der küste gelandet, legten sie gleich los
mit wahren worten, den kopf voll betrügerischen geheimplans
& verblendet durch die verschwendete aussicht auf geschenke
zogen sie das tau & sogen unmassen dicker luft in sich hinein
die flüsse waren ihnen der ersehnten verheißung aufschluß
& wenn die flüsse versiegten, ging's per bootsschlepp weiter
zeitraubend zwar, aber nicht weniger gründlich heerten sie
sand & urstromtal, die mark, das erzgebirge, den böhmerwald
versprengte keltische briganten überrannten sie unerkannt
rom, das leer stand, & madagaskar machte ihnen keiner streitig
das kap der guten hoffnung war ihres stolzes letzte ruh
so manch ihrer bannführer einer entschwob von dort von hinnen
heimtückisch erschlagen auf seiner auslandsreise, hieß es
oder: er fand den tod draußen in albanien in weißen kleidern
oft gingen die überfälle verlustreich aus, sie waren zuviele
der blutige auftakt des ausgriffs nach süden war eine sudelei
die könige & jarle heuerten kerle, so sie sie nur ergriffen
mit gedungenen finnen, balten, bolgaren, kuren & versprechen
versuchten sie, ihre ausdeutungsverhältnisse anzudeuten
die pökelnden svea heerten unter der devise "svea-svea-hejé
hyperbore-é", die besten gedanken hatten sie unter ihrem schwert
verröchelnden irischen häretikern abgetrotzt, häuptling hasting
alles niedermachend, was sich zur wehr erdroß, verwechselte viel
schleppte kettenbelastet zu schiffe, die nun ohne glieder waren
einhalt war ihm nicht zu gebieten & die gebiete zu ausgedehnt
die küstenregionen fielen ihnen anheim, sie siedelten spontan
nach vollbrachter unterjochung verlieh ihnen das schicksal
ländereien, die nurmehr zur gründung von großstädten taugten
unweit von anklam ließen sie sich nieder, die peene stromauf
die warnow, die trave - auch wurden sie als degen benutzt
zur durchsetzung der macht & herrschaft slavischer fürsten
es verband sie die liebe zum ornament, die freude am flechtwerk
an der waffen zierde & des vertrauen in den feuchten ornat
die fürsten der aufstrebenden staaten ließen wälle ausheben
im unteren warnowgebiet schützte man sich durch warnsysteme
die wikinger, abgeschreckt vom aufwallenden küstenschütze
verlegten sich nun auf plünderungen der baltischen eilande
meine experimente, der angst vor der angst mit dem wunsch
zum wunsche beizukommen, erheiterten keine meiner verfluchten
nach all den niederschlägen erweiterte ich mein fun-spektrum
& mein kampfgeheul durchdrang die betäubnisse der masturbation
der anarchismus hat viele namen, der seinerzeitige sumsiismus
ein brachiales toleranzsystem, wich dem rationaleren antagonismus
es gibt ein "l", das wie ein "r" klingt, & eins ganz wie ein "k"
doch auch nur die geringste erschlaffung des küstenschutzes
ließ ihre inbrunst auf's neu' hochlodern & ihr begehren
fix zusammenzuhauen was zusammenzuhauen rühmlich anmutete
ihre ohngefähren zeitgenossen tristrant & lancelot hingegen
ein jeder von beiden zu stolz, um als eitel weggebracht zu werden
gewannen ihren ruhm nicht, so sie in schlachten um sich hauten
sondern indem sie im tadellosen schatten unaufgefundener wälder
mit zwergen hellebardierten, das nachdenken über die grausamkeit
der jeweiligen geliebten machte sie zu berserkern ihrer art
vollgeschlagen mit bier & yoghurt, wildbret & knäckebrot
& fasziniert von dem, was sie auf ihren fernfahrten gesehn
gründeten die wikinger die städte, die die kelten vergaßen
so gründeten nicht sie berlin, sondern die gälen im vorbeigehen
repulsion jedoch war ihre domäne seit der vorzeit explosion
tribut, galle & gift nochmal, so gründeten sie nicht etwa
hallstadt, eisenhüttenstadt, la-téne, rhein, neckar, main
lahn, ruhr, lippe, isar, iun, taunus, belgien, belgrad (eigtl.: singidunum),
ankara, murmansk, lyon, london, laon, léon, leiden in holland,
liegnitz in schlesien, wien (eigtl.: uindobona), dänemark,
großbritannien, u.s.a. u.s.w., serien sind eine vorform der
wahrheit, mit der zeit werden sie wahr, wohl aber gründeten sie
schwedt, schweden, brandenburg, bützow, bautzen, belfast,
schwerin & dublin (eigtl.: baile átha cliath)
die handlungen des einen machten den anderen eifersüchtig
ihrer bemächtigte sich eine kuriosität ohne eine vernünftige
oder auch nur irgendwie zu rechtfertigende ressentimentalität
um einander nicht zur last zu fallen, streckten sie sich nieder
groß wie dattelbäume, starben sie mit dem becher in der hand
so hörten selbst die bösesten auf zu beunruhigen, die besten
prosteten sich zu & die trotzigsten hielten's am längsten aus
entwurzelte adlige westslavischer & skandinavisch-skaldischer
abstammung samt ihren gepreßten gesellen erduldeten abenteuer
einige von ihnen sogar im solde obodritischer fürstenhäuser
retardierendes moment, später wurden von wilzen und pomoranen
ganz ähnliche expeditionen nordwärts & ostwärts ausgesandt
einige von ihnen begannen sogar zu siedeln dort im zwielicht
des ackerbaus & der staatenbildung, & wenn sie die dame welt
in den arsch fickten, mag auch abenteuerlust dabeigewesen sein
sicher, aber versiegende, kann man heut mit sicherheit sagen
leben & tod sind in der zunge gewalt & die zunge in gewalt
der moden & des moderns, westwetter ist des westens bestes
das kristentum der monasterien, nonnen, brüder, waisen, paten
& gevattern schlich sich ein mit der typischen angemessenheit
einer jeden aufstrebenden weltreligion, die nornen verloren
zeit zwischen einfällen & ausfällen, vor & über sind vorüber
traue keiner blonden, sie könnte ein wikingischer spion sein

(aus KONTEXT 2, April 1988)

 

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