"Wer Russland nur von außen betrachtet, kennt es nicht" Adelbert Reif im Gespräch mit Fritz Mierau

 

 

 

 

 

 Pawel Florenski mit seinen Kindern, 1926

 

 


Reif: Herr Mierau, die Feststellung "an Russland kann man nur glauben" aus einem berühmten Vierzeiler von Fjodor Tjutschew ist bei allen, die sich mit Russlands Geschichte, seiner Kultur und seinem Denken beschäftigen, zu einem "geflügelten Wort" geworden. Sie haben sich, wie schon der Titel Ihrer Memoiren "Mein russisches Jahrhundert" andeutet, Ihr Leben lang mit diesem Russland in allen seinen Ausprägungen befasst. Ist Russland für Sie zum Mythos geworden?

Mierau: Meine Lage unterscheidet sich wesentlich von der so mancher anderer Nichtrussen, die sich mit Russland beschäftigt haben und für die Russland zum Schicksal geworden ist. Eine ganz praktische und beinahe "häusliche" Begegnung mit Russen hat mich davor bewahrt, von Russland eine allzu gläubige, allzu mythische Vorstellung zu gewinnen.
Diese erste Begegnung fand 1945 statt und war eine Begegnung in der Not. Jeder brauchte damals Kohlen und ich habe den Russen im sächsischen Döbeln oder, wie wir damals auch sagten, den "Muschkoten" Kohlen gestohlen. Dabei bin ich erwischt worden. Dieses Erlebnis hat einen so entscheidenden Eindruck auf mich gemacht, dass ich den leicht abführenden Wegen, an ein "mythisches Russland" zu glauben, nicht so ohne weiteres gefolgt bin.

Reif: Vermochte diese Kindheitserfahrung Sie auch davor zu bewahren, von der russischen Literatur und Poesie überwältigt zu werden, ihr gewissermaßen zu verfallen, wie vielen anderen dies widerfahren ist?

Mierau: Mich Russland vollkommen zu ergeben, habe ich mich immer gescheut. Ich bin genügend Deutscher und damit eben Mitteleuropäer, um eine gute Distanz wahren zu können gegenüber dem, was man in den Begriff "Mythos Russland" fassen könnte. Und zwar deshalb, weil es in meinem Leben nie eine Zeit gab, die von einer Ablehnung Deutschlands und deutscher Geistigkeit geprägt gewesen wäre. Auf eine solche Ablehnung trifft man gerade in meiner Generation sehr häufig und sie scheint mir in unserer Zeit der Vereinigung Europas wieder modisch zu sein. Ich aber werde mich immer zu Goethe bekennen: Sein Deutsch, etwa in "Dichtung und Wahrheit", gibt eine nicht zu übertreffende Höhe vor.
So bedeutend die Literatur, die Poesie, der Geist Russlands auch sind, ich würde dennoch das Deutsche nicht aufgeben wollen. Das bezieht sich gleichermaßen auf die Moderne. So eruptiv sie sich in Russland mit Blok, Chlebnikow, Jessenin, Mandelstam, Majakowski, Achmatowa, Zwetajewa und unzähligen anderen Bahn brach, Deutschland steht dieser Entwicklung in keiner Weise nach, wenn wir an Benn, Brecht, George, Trakl oder Jünger denken. Die Größe der russischen Poesie vermochte ich gerade deshalb sehr früh so hoch einzuschätzen, weil ich mir des hohen Wertes der deutschen Poesie bewusst war. Und wenn ich auf Frankreich blicke: auf Verlaine, Mallarmé, Rimbaud, Baudelaire... Da konnte ich Russland nicht "verfallen", zumal ich weiß, in welch starkem Maße die Russen selbst diese Traditionen in sich aufgesogen haben. Ich erinnere nur an die geistige Begegnung von Pasternak und Zwetajewa mit Rilke. Es gehört zu den großen Leistungen der Russen, dass sie fremdes Neues aufnahmen und es in ihrem eigenen Schaffen umformten, erweiterten und steigerten.

Reif: Gerade von dieser Steigerung aber muss eine eigentümliche Sogwirkung ausgehen...

Mierau: Gewiss, sobald man etwas genauer in die Geschichte, in die Literatur und Poesie Russlands hineinsieht - was bei mir freilich erst viel später geschah - kommt zur eigenen deutschen oder mitteleuropäischen Erfahrung ein eigentümliches Element hinzu, nämlich die Erkenntnis der ungeheuren geistigen Ausdehnung Russlands.
Jeder, der ein Gedicht von Puschkin, Jessenin oder Majakowski liest, und dann noch, wie ich, in erhaltenen Tondokumenten sehr früh die Stimmen der großen Dichter vom Anfang des 20. Jahrhunderts hört, wird von dem Gefühl bewegt: Es gibt nichts Vergleichbares. Da tönt etwas aus einem Raum, der nicht nur der Brustraum ist, sondern ein unermesslich weiter geografischer und geistiger Raum. Von dem Augenblick an, da mich dieses Gefühl ergriff, war es mir vor allem darum zu tun, Russland zu sehen, Russen in ihrer eigenen Umgebung zu erleben - wo auch immer in diesem Riesenreich. Denn wer Russland nur von außen betrachtet, kennt es nicht, mag er sich auch noch so leidenschaftlich mit seiner Literatur und Geschichte beschäftigen.

Reif: Worin unterscheidet sich das russische Denken vom westeuropäischen?

Mierau: Mein Empfinden war immer, dass das geistige Russland gewaltsamer ist als die gesamte europäische Geistigkeit. Gewaltsamer etwa in dem Sinne, wie Hannah Arendt den Unterschied zwischen Macht und Gewalt formuliert hat, und nicht nur mächtiger. Die Art, wie sich selbst die von ihrer Moraltheorie her sanftesten Repräsentanten des geistigen Lebens Russlands äußern, ganz zu schweigen von denen, die wie Tolstoi und Dostojewski von härterer Struktur sind oder gar den Dichtern des 20. Jahrhunderts, Majakowski und Zwetajewa beispielsweise, offenbart ein unerhörtes Maß an Gewaltsamkeit. Als ein durch das Lateinische gegangener Mitteleuropäer ist es für mich immer ein Problem geblieben, wie dieser in der orthodoxen Tradition gewachsenen Gewaltsamkeit zu begegnen sei, vor allem, wie man sie in Westeuropa plausibel machen und in unsere Zusammenhänge hineindenken könne.

Reif: Ist das russische Denken in seinen Ansprüchen vielleicht radikaler?

Mierau: Der russische Philosoph Sergej Awerinzew, der meines Wissens zur Zeit in Wien lehrt, macht den großen Unterschied zwischen dem orthodoxen Osten und dem lateinischen Westen an den Prinzipien der Mönchserziehung deutlich. Er betont, dass es in der orthodoxen Mönchserziehung immer nur Heiligkeit oder Anathema gibt. Entweder erfüllt der Mönch alle ihm von seinem geistigen Führer auferlegten Vorschriften oder er verfehlt sie und macht sich schuldig, was außerordentlich scharfe und zum Teil nicht begreifbare Strafmaßnahmen nach sich zieht. Im Gegensatz dazu ist in der lateinischen Mönchsordnung die clementia vorherrschend, die Nachsicht, das Ausgleichen, der Versuch, verschiedene Wege zu gehen, das Bemühen, das Äußerste zu vermeiden.
Dies scheint mir in der Tat ein entscheidender Aspekt zu sein für die Bezeichnung des Unterschieds zwischen dem lateinischen Westen und dem griechisch-orthodox geprägten Osten. Die Unterschiede betreffen nicht nur übergeordnete gesellschaftliche oder soziale Reglements, sondern reichen bis in die privatesten Beziehungen: Im Prinzip kommt der Diskretion in Russland ein geringerer Status zu als im Westen. Während im Westen selbst in nahen freundschaftlichen Beziehungen gewisse Formen der Distanz gewahrt werden, ist diese Grenze in Russland weit gesteckt. Das führt zu beträchtlichen Schwierigkeiten im persönlichen Umgang. Bei den Russen muss man sich ergeben können. Dass ich mich ihnen nicht ergab und ihnen nicht verfiel, setzte mir natürlich bestimmte Grenzen in meinem Umgang mit ihnen.

Reif: Kann vor diesem Hintergrund das religiös motivierte Denken im Russland des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts für uns heute noch eine Aktualität besitzen?

Mierau: Ich sehe wenige Punkte, an denen man direkt ansetzen könnte. Was ich an der Mönchserziehung dargestellt habe, zeigt, dass die Russen in einem außerordentlichen Grade der geistigen Liebe fähig sind, die auch im Mittelpunkt der Philosophie von Wladimir Solowjow und Pawel Florenski steht. "Gott anrühren", meinte Florenski könne man nicht anders als über die Seele des anderen, des Freundes. Die Freundschaft sei das Schauen seiner selbst durch den Freund in Gott. Doch ist er selbst in diesem Bemühen oft gescheitert. Der große Versuch, den er mit dem Dichter Andrej Bely in dieser Richtung unternahm, missglückte vollkommen.
Freundschaft bedeutete für Florenski eine Nähe, in der sich beide Seiten bemühen, die Grenze zwischen dem Ich und dem Du aufzuheben und zwar auf gleicher geistiger Höhe. Andrej Bely war dazu entweder nicht bereit oder nicht in der Lage: Er beanspruchte Florenski für sich als Lehrer. Nach Florenskis Auffassung konnte diese geistige Führerschaft aber nur von den sogenannten Starzen, erleuchteten Mönchen, die in verschiedenen Klöstern Russlands lebten, geboten werden. Da er es ablehnte, Belys geistiger Führer zu werden, wandte sich Bely dem Theosophen Rudolf Steiner zu, der die Rolle seines geistigen Führers annahm. Viele Jahre später warf Bely seinem früheren, engen Freund Florenski vor, dieser rette sich nur allein, er öffne sich nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Dieser Wille zum Geführt-Werden-Wollen lässt sich nicht überwinden. Wenn jemand geführt werden will, dann muss er so lange suchen, bis er seinen Führer gefunden hat. Jedenfalls ist er für jene Art von Freundschaft, die Florenski im Auge hatte, untauglich.

Reif: Und auch für uns Heutige kann Florenskis Idee einer geistigen Freundschaft, die zu Gott führt, nicht als Modell dienen?

Mierau: Was man in den westlichen Kirchen gerne als die stärkere, aus der "Theologie der Liebe" erwachsende spirituelle Kraft der russischen Orthodoxie bezeichnet, diese bewunderungswürdige Glut des Glaubens, ist an eben diese von Pawel Florenski definierte Bedingung gebunden. Man kann das im Westen nicht so ohne weiteres übernehmen. Es wäre ein Trugschluss zu folgern, wir könnten jetzt unsere ins Rationale und ins Lehrhaft-Theoretische geratene Theologie etwas auffrischen durch einen Schuss orthodoxer "Theologie der Liebe" nach Pawel Florenski oder Sergi Bulgakow. Das geht nicht. Und Florenski wäre wohl auch der Letzte gewesen, der sich dafür sehr engagiert hätte.
Florenski gehörte nicht zu den Vertretern eines sehr weitgehenden Ausgleichs der verschiedenen religiösen Bekenntnisse. Er legte großen Wert darauf, dass sich die russische Orthodoxie immer wieder aus den alten Quellen der östlichen Kirchenväter speist und nicht mit anderen Traditionen vermischt. Ich glaube sogar - dies versteht sich freilich als Spekulation -, dass Florenski den gegenwärtigen Versuchen des Papstes, mit der russischen Orthodoxie in eine nähere Beziehung zu treten, skeptisch gegenüber gestanden hätte. Bemerkenswerterweise ist Johannes Paul II. ein Leser Florenskis. Erst kürzlich hat er sich in der Enzyklika "Fides et ratio" ausdrücklich auf Florenski bezogen. Doch ob Florenski dies besonders geschätzt hätte, wage ich zu bezweifeln.

Reif: Würden Sie Florenski in theologischer Hinsicht als einen doktrinären Denker bezeichnen?

Mierau: In diesem Zusammenhang ist der Fall des Religionsphilosophen Sergi Bulgakow von großem Interesse. Bulgakow verschlug es im Zuge der revolutionären Wirren auf die Krim und er wurde von einer plötzlichen Intuition betroffen mit dem Ruf: nach Rom. Man stelle sich das vor: Ein 1917 zum orthodoxen Priester geweihter und bedeutender Gelehrter vernimmt diesen Ruf. Er beschäftigt sich mit dem römischen Katholizismus und gelangt zu dem Ergebnis, es sei doch gut, dass es einen Papst als letzte, Gottes Stellvertretung auf Erden wahrnehmende Autorität gebe. Allerdings hatte er die durchaus berechtige Angst, dass sein Freund Florenski nicht an seiner Seite stehen würde.
Das Schreiben, in dem er Florenski von seiner Intuition berichtete, wurde erst kürzlich im Bulgakow-Archiv entdeckt, was erklärt, warum es in den bisherigen Bulgakow-Monografien nirgendwo erwähnt wird. Nie hätte Florenski dem zustimmen können, dass die orthodoxe Kirche die abgefallene sei und nach Rom zurückkehren müsse. Bulgakow selbst hielt dann auch nicht an seinem Standpunkt fest. Er kehrte in den Schoß der Orthodoxie zurück und gründete in Paris das so berühmt gewordene Orthodoxe Theologische Institut, das im geistigen Sinne zu einer Art Nachfolgeinstitution der Geistlichen Akademie bei Moskau wurde.

Reif: Und in welcher Beziehung standen die russischen Religionsphilosophen zum Heiligen Synod?

Mierau: Die großen religiösen Denker Russlands wie Solowjow, Bulgakow und Florenski befanden sich immer in den größten Schwierigkeiten mit dem Heiligen Synod. Florenski etwa konnte ein großes Kapitel über die Bedeutung der Sophia innerhalb des orthodoxen Glaubens in seinem Buch "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" vor seiner geistlichen Akademie nicht verteidigen. Es musste herausgenommen werden.
Auch fiel es Florenski schwer, bestimmte Wendungen seiner Kirche mitzuvollziehen, zum Beispiel in der Februarrevolution. Da begann die russisch-orthodoxe Kirche sich langsam mit der Tatsache vertraut zu machen, dass es keinen Zaren mehr gibt und die zaristische Monarchie der Vergangenheit angehört. Das zu akzeptieren, war für Florenski unmöglich. Für ihn war keine Macht vorstellbar, die nicht göttlich eingesetzt und geheiligt ist. Die Folge war, dass Florenski alles, was danach kam, sowohl die provisorische Regierung Kerenskis und erst recht natürlich die bolschewistische Regierung, als nicht existierend betrachtete. Von dieser Auffassung ist er nie abgegangen. Das neue Regime, für das er als Elektroingenieur arbeitete, verstand Florenski als ein Symptom: Der Bolschewismus sei die furchtbare Vergeltung des Kollektivismus für den ungebändigten Individualismus der Renaissance. Florenski ist dafür verfolgt, eingesperrt und 1937 erschossen worden.

Reif: Das heißt, Florenski betrachtete die Revolution einzig aus metaphysischer Perspektive?

Mierau: Florenski geht es um den Umgang mit dem Titanischen im menschlichen Handeln. In seinen Vorlesungen zur "Philosophie des Kults" Anfang der zwanziger Jahre, die eine religiöse Anthropologie vortragen, kommt er auf das Wesen des Titanischen zu sprechen. Der Erde entsprungen, "Wahrheit der Erde", kenne das Titanische keine Beherrschung von innen. Solange es nur etwas tun wolle, wirke es heroisch, imposant, faszinierend. Habe es sich aber verwirklicht, erweise es sich als nichtig, als Sinnes bar, "fault und stinkt". Diese Doppeldeutigkeit beruhe auf einer Antinomie. Es bedürfe der Person, des geistigen Antlitzes, um Maß, Grenze, Sinn zu finden. Florenski sagt, im Menschen gebe es wegen der Antinomie keine Harmonie; der dunkle Grund des Seins stehe immer wieder gegen das Antlitz auf und verlange nach Verkörperung; das Antlitz unterwerfe sich den elementaren Aufruhr und setze seine Wahrheit durch. Aus dem geistlichen Welterbe schöpfend, verfüge nun aber die orthodoxe Liturgie über die Kraft, in einem ganz persönlichen, in einem "intimen Fleckchen" das Menschheitliche zu erfahren.

Reif: Ihre Beschäftigung mit Florenski begann bereits zu einer Zeit, als er in der Sowjetunion nur im Untergrund gelesen werden konnte. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?

Mierau: Ich entdeckte Florenski Ende der achtziger Jahre eher beiläufig anlässlich eines Besuches in der British Library in London. Befasst mit Literaturrecherchen zu Pasternak, stieß ich plötzlich auf den Namen Florenski und seine Schrift "Bilanz". Dieser knappe Titel weckte meine Neugier. Es handelte sich um einen Text von 1922, in dem er auf ungefähr zwölf Seiten gewissermaßen eine Bilanz der europäischen Kulturentwicklung seit der Renaissance zieht. Florenski vertritt darin die Meinung, die Renaissancezeit gehe jetzt zuende, sie sei in ihrem Resultat für die Menschheit nicht sehr positiv gewesen, weil sie zu einer Zersplitterung der Persönlichkeit geführt hätte und darüber hinaus zu einer Atomisierung des Wissens. Von daher müsse ein Umschwung kommen. Zwar führte Florenski nicht aus, worin dieser Umschwung bestehen und wohin er führen könnte. Doch legte er einen ganz entscheidenden Gedanken dar, der mich sofort elektrisierte, weil er eine Erklärung für das jähe Ende unserer eigenen vierzigjährigen Existenz in der DDR beinhaltete.
Florenski schrieb nämlich, es seien nicht die großen Geschosse, die dazu führten, dass eine bestimmte Kultur zugrunde gehe, sondern es sei ein ironischer Blick, der plötzlich auf das, was bisher gegolten habe, geworfen werde. Eine geringfügige Veränderung der Blickrichtung genüge, so Florenski, und all das, was man bis dahin als grundlegend, als zentral, als wichtig, auch als bedrückend, beengend und lästig betrachtet habe, verschwinde einfach. Eine neue Perspektive entstehe. Und eben diese neue, andere Perspektive hatte spätestens seit Ende der siebziger Jahre in der DDR Platz gegriffen: Die Menschen kümmerten sich immer weniger um die offiziellen Belange von Staat und Gesellschaft, sondern gingen mehr und mehr ihren eigenen Interessen nach. Für mich bedeuteten die Darlegungen Florenskis in dieser kleinen Schrift eine geradezu prophetische Vorwegnahme des Zusammenbruchs der DDR. Ein Jahr später hatte dieser Staat tatsächlich aufgehört zu existieren.

Reif: Würden Sie sagen, dass neben dem geistlichen Werk Florenskis seine Gedanken als Wissenschaftler heute noch aktuell sind?

Mierau: Die Aktualität von Florenskis Schriften liegt für mich vor allem darin, dass er in ihr seine Grunderfahrung als Christ und Wissenschaftler offenbart: Entscheidendes Moment an Entwicklungen ist für Florenski die Diskontinuität. Das war die Umkehrung von dem, was in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern gelehrt wurde: In ihnen wurde die Kontinuität als der entscheidende Faktor gewertet. Denn schließlich sollten die DDR und mit ihr die übrigen sozialistischen Staaten in eine bis ins Unendliche geweitete Zukunft existieren. Das Erstaunliche an Florenskis Erkenntnis war, dass er sie schon 1922 erworben hatte und dies angesichts des noch sehr jungen großen russischen Experiments, von dem keineswegs ausgemacht schien, ob es nicht doch zu etwas führen könne.

Reif: Welchem Werk von Florenski messen Sie die größte Bedeutung bei?

Mierau: Seiner Autobiografie. Sie ist ein ganz erstaunliches Buch, in dem Florenski seine Kindheit im Kaukasus beschreibt. Dieses Buch bezaubert durch eine außergewöhnliche Komplexität. In ihm begegnet man Sätzen wie: Nicht nur du siehst eine Heuschrecke oder ein Veilchen an - dieses Veilchen oder diese Heuschrecke sieht auch dich an. Aus dieser Nähe des Betrachtenden entsteht nach Florenski die wirkliche Kenntnis der Welt und des Menschen.
Das Buch ist voll von nirgendwo sonst bei Florenski zu findender Nähe von belebter und unbelebter Natur. Nicht über die Theorie der Ganzheit führt Florenski zum Bewusstsein der Ganzheit, sondern durch die Bekanntschaft mit den kleinsten, alltäglichen Elementen und ihres wechselseitigen Zusammenhangs. So stößt man denn in diesem Buch auf die Idee, die bei allen Mystikern eine große Rolle spielt, nämlich wie sich alles Geschöpfliche in einer normalerweise schwer fassbaren Einheit befindet. In dieser geistigen Sichtweise gründet Florenskis Vorstellung vom Ganzen. Hier liegt die Wurzel seiner Ganzheitsphilosophie, die ihn für das heutige westliche Denken so interessant und bedeutsam macht.

Reif: Liegt in dieser Ganzheitsphilosophie auch ein Wegweiser für die moderne Wissenschaft?

Mierau: Florenskis Ziel bestand vor allem in dem Versuch, den Menschen aus seinem zersplitterten Leben herauszuführen. In größerem Umfang ausgearbeitet hatte er bereits seine Auffassung, dass jeder Mensch nicht nur juristisch von seinen Eltern, Voreltern usw. abstammt, sondern dass sich seine geistige Konstitution aus Bestandteilen von Wünschen, unerfüllten Sehnsüchten etc. vieler Generationen vor ihm zusammensetzt. Er versuchte bei sich herauszufinden, welche die unerfüllten Sehnsüchte seiner Eltern und Großeltern waren, etwa einen Garten zu besitzen, bestimmte Dinge mit eigener Hand herzustellen. Aus einem Brief Florenskis an seine Kinder wissen wir, dass er in starkem Maße dazu neigte, dort zu forschen, wo die Grenzlinie zwischen dem Abstrakten und Konkreten verläuft. Das heißt, sobald er merkte, dass etwas, mit dem er sich gerade beschäftigte, in Abstraktionen verlief, begab er sich zurück ins ganz Konkrete, wie seine durch die Verbannung erzwungenen Studien über das ewige Eis in Sibirien oder die Jodgewinnung aus Algen auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer zeigen.
Diese ziemlich einzigartige Verbindung von praktischer Tätigkeit und den höchsten wissenschaftlichen Abstraktionsstufen macht Pawel Florenskis Persönlichkeit wegweisend für die moderne westliche Wissenschaft und Forschung, die sich mit Vorliebe auf abstrakten Ebenen bewegen, was zur Folge hat, dass ihre jeweiligen Sprachen von anderen nicht mehr verstanden werden können. Dieser Zustand müsse überwunden werden, meint Florenski. Denn selbst die kompliziertesten wissenschaftlichen, auch mathematischen Zusammenhänge ließen sich in einer allgemein verständlichen Sprache ausdrücken. Wenn man eine Folgerung für Europa, ja für den Westen überhaupt aus der Beschäftigung mit Pawel Florenski ableiten möchte, dann stünde dieser Satz mit an oberster Stelle.

Reif: Aber sehen Sie nicht auch das Problem eines falschen Verständnisses? Besteht nicht die Gefahr, dass es zu Missverständnissen kommt?

Mierau: Ich meine nicht, dass das ein spezielles Problem der Aufnahme des östlichen Denkens im Westen ist. Wir verstehen auch das sogenannte "amerikanische Denken" nur auf unsere mitteleuropäische Weise. Besondere Gefahren sehe ich darin nicht. Warum sollte das schlimm sein, wenn etwas, das in einer anderen christlichen Tradition gedacht worden ist, hier unter dem Gesichtspunkt der Differenz zwischen der römischen und der byzantinischen Tradition aufgenommen wird? Das scheint mir weder gefährlich noch problematisch zu sein. Nicht zuletzt aus dem Grunde, weil die Russen seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts mit der deutschen, der französischen, der englischen und auch der italienischen Kultur so eng verbunden sind, dass schwerwiegende Missverständnisse kaum aufkommen können.
Unsere Neuberin hat das russische Theater begründet, die italienische Oper beeinflusste in starkem Maße die russische Oper, ganz zu schweigen von der deutschen Philosophie: Nicht nur Hegel war für die russischen Philosophen von großer Bedeutung, sondern auch Schelling und Kant. Es gibt sogar die Auffassung - etwa bei Alexander Blok -, dass die Russen und die Deutschen für die Abwehr eines Barbarentums, das Blok mit dem Einfall der Mongolen verbindet, am meisten geleistet und die meisten Opfer erbracht haben. Zumindest Deutsche und Russen stehen sich geistig viel näher, als das durch die zeitweiligen gravierenden politisch-ideologischen Ausprägungen und die durch sie verursachten gegenseitigen Entfremdungen den Anschein hat. Wäre dem anders, bliebe das beiderseits immer wieder durchbrechende Gefühl einer Verbundenheit unerklärlich.

Reif: Wo liegen die Gründe, dass die geistesgeschichtliche Tradition Russlands im Westen verhältnismäßig wenig rezipiert, ja oft sogar ausgeklammert wurde?

Mierau: Das hängt zweifellos mit den politisch-ideologischen Polarisationen im 20. Jahrhundert zusammen. Die Aufmerksamkeit der Intellektuellen in der Weimarer Republik war doch zu einem sehr großen Teil auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des bolschewistischen Experiments in Russland gerichtet. Alle, die in Deutschland größere Denkansätze unternommen haben, wie Ernst Bloch oder Walter Benjamin, aber auch sehr viele namhafte Schriftsteller, interessierten und engagierten sich sogar teilweise für dieses Experiment. In einer solchen Atmosphäre zwischen revolutionärer Zustimmung, Begeisterung und Hoffnung hatte ein religionsphilosophisches Denken kaum eine Chance. Mit wem hatte etwa Lew Schestow gesprochen? Mit Max Scheler. Dabei handelte es sich mehr oder weniger um ein Privatgespräch, das ohne öffentliche Resonanz blieb.
Immerhin erschien in Deutschland 1925 ein zweibändiges Werk zum "Östlichen Christentum", in dem auch Pawel Florenski vertreten ist. Aber so gut wie niemand hat dieses Werk zur Kenntnis genommen. Dann verhinderte Hitlers Herrschaft eine Rezeption der russischen Religionsphilosophie und nach 1945 das kommunistische System in der DDR. In der Bundesrepublik wiederum konzentrierte man sich auf andere Geistesströmungen wie den Existenzialismus, den Strukturalismus etc. Religiös motiviertes Denken fand da wenig Raum. Hinzu kam noch, dass in der Sowjetunion selbst jedwedes religiöse Denken schärfstens verfolgt wurde. Insgesamt waren die Verhältnisse für eine Verbreitung und Aufnahme russischen religionsphilosophischen Denkens äußerst ungünstig. Das hatte zur Folge, dass ein ganzes Stück Geistesgeschichte ausgeblendet wurde.

Reif: Roman Jakobson hat einmal gesagt, was immer der Westen von den russischen Künsten schätze - die Ikonen, den Film, das klassische Ballett, das experimentelle Theater, den Roman oder die Musik - die größte und unbekannteste unter ihnen sei die Poesie...

Mierau: Ob die russische Poesie im Westen heute noch so wenig bekannt ist wie zu der Zeit, als Roman Jakobson dieses Defizit ausmachte, wage ich zu bezweifeln. Aber dass sie lange Zeit im Schatten der anderen Künste lag, dafür gibt es objektive Gründe: Musik kann man spielen, Ballett kann man vorführen, Bilder kann man zeigen. Aber wie soll man die Sprache der Poesie in die anderen Sprachen übertragen? Darin liegt das Problem. Und dieses Problem besteht auch heute noch. Immerhin ist seit den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine außerordentliche Kraft in die Übertragung von russischer Poesie hineingesteckt worden und dies nicht nur in Deutschland.
Gewiss waren Übertragungen russischer Poesie, die auf der Grundlage von Linearübersetzungen unternommen wurden, umstritten. Denn ein Alexander Blok, ein Jessenin oder Mandelstam, von Paul Celan übertragen, ist immer auch Celan. Adolf Endler beispielsweise vermerkte denn auch bei einigen seiner Gedichte: nach Jessenin. Doch das alles erscheint mir legitim und zeugt von der enormen Lebendigkeit des Umgangs mit der russischen Poesie. Und es ist eine dichterische Leistung sondergleichen, wenn Ralph Dutli jetzt den gesamten Mandelstam in einer von ihm besorgten Übersetzung vorlegt.

Reif: Sie würden also der russischen Poesie nicht mehr das Attribut unbekannt zusprechen?

Mierau: Von einer Unterschätzung der russischen Poesie kann heute keine Rede mehr sein. Auch der Westen hat inzwischen einen sehr hohen Begriff von der russischen Poesie. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Hinwendung zu diesem Kontinent der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts auf eine gesicherte philologische Grundlage gestellt worden ist. Heute gibt es sowohl für Anna Achmatowa als auch für Marina Zwetajewa auf Computerdateien gespeicherte Konkordanzen. Das bedeutet für die Übersetzer eine ungeheure Erleichterung ihrer Arbeit, weil sie mit diesem Hilfsmittel das gesamte semantische Feld bestimmter Wörter oder Begriffe in ihrer jeweiligen Bedeutung erfassen können. Und schließlich hat Joseph Brodsky, der Nobelpreisträger, wesentlich zur Vertiefung der Beschäftigung mit russischer Poesie und ihrer Verbreitung im Westen beigetragen.

Reif: Nun ist es eine russische Besonderheit, dass auch Dichter gleichrangig neben den Denkern stehen. Von daher ergibt sich die Frage: Wie spirituell ist die russische Literatur?

Mierau: Wenn wir von der russischen Religionsphilosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen sprechen, so war sie immer auch verbunden mit der Literatur, mit den Dichtern und Schriftstellern. Ob Andrej Bely, Wjatscheslaw Iwanow, Alexander Blok und unzählige andere - sie alle waren vom Geist der russischen Religionsphilosophie inspiriert. Die meisten von ihnen hatten die Schule von Wladimir Solowjow durchlaufen, während sich andere, wie etwa Bely, Pawel Florenski zuwandten. Iwanow wiederum ging nach Rom. Das heißt, die Gedanken und die Impulse, die von der russischen Religionsphilosophie ausgingen, befruchteten auf mehr oder weniger direkte Weise auch die Literatur, insbesondere die Poesie. Zwar war nicht ohne weiteres erkennbar, was alles in sie eingeflossen war, was alles in ihr steckte, aber spürbar wurde das.

Reif: Gilt das auch für die revolutionäre Dichtung, etwa für Alexander Blok oder Wladimir Majakowski?

Mierau: Ich würde das "religiöse Element" sogar als den Ausgangspunkt der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Alexander Bloks Revolutionsdichtung "Die Zwölf" zeigt es unübersehbar. Eine Zwölfer-Patrouille von Rotgardisten im Petrograder Schneesturm von 1918, zwölf verwegene Kerle mit ihren titanischen Leidenschaften im Zorn gegen die "schreckliche Welt", einer der Mörder seiner untreuen Geliebten. Doch vor ihnen die Fahne - "blutig, wehend", und unter ihr Einer "unsichtbar", "Einer noch, der ist gefeit" - "Rosenweiß sein Kränzlein ist / Vorne schreitet Jesus Christ." Block war von einer Vision tief erschüttert. Er hat sich von diesem Erlebnis nicht wieder erholt und es wird ein Rätsel bleiben, wer ihm da in Wirklichkeit erschienen ist.
Diese religiöse Bindung gilt auch für die Avantgarde mit Majakowski und Tretjakow. Bei einem scheinbar so orthodoxen Marxisten wie Sergej Tretjakow kommt noch eine Besonderheit hinzu: Seine Mutter entstammte einer deutsch-holländischen lutherischen Familie. Sie hatte zwar den russisch-orthodoxen Glauben ihres Mannes angenommen. Doch etwas war von ihrem alten Glauben übriggeblieben: In der Wohnung der Tretjakows hingen an vielen Stellen die aus Deutschland wohlbekannten, für den Pietismus charakteristischen kleinen Sprüche, die sogenannten "Losungen", die die Bewohner durch den Tag geleiteten. Die von Tretjakow ersonnenen sowjetischen Agitationssprüche, für die er berühmt war, gelangen ihm eben deshalb so gut, weil er auf diesem Gebiet eine christlich-pietistische "Lehre" durchlaufen hatte. Sogar bis in diese Sphäre hinein wirkte das "religiöse Element". Alexander Blok wiederum war vom orthodoxen Kirchengesang beherrscht, der in seiner erfüllenden Macht auch in der frühen Dichtung Majakowskis eine bedeutende Rolle spielte. Darauf wies erst kürzlich der Dichter Gennadi Aigi hin.

Reif: Aber wie erklären Sie sich die enge Verbundenheit zwischen Poesie und religionsphilosophischem Denken?

Mierau: Vor der Revolution und mit dem Beginn der Moderne, also etwa ab 1890, entstand nicht nur in den großen Städten Russlands wie Moskau oder St. Petersburg, sondern auch über das Land zerstreut, eine Vielzahl von geselligen Vereinigungen, Freundeskreisen und Interessengruppen, in denen die gesamte geistige und künstlerische Elite versammelt war, also nicht getrennt nach Gelehrten, Schriftstellern, Malern oder Verlegern. Von daher lassen sich russische Philosophie und Poesie gar nicht getrennt voneinander betrachten. Die Beeinflussung von Poesie und Literatur überhaupt durch das philosophische Denken erfolgte gewissermaßen zwangsläufig.

Reif: Das heißt, die Kontakte kamen vor allem auf privater Ebene zustande?

Mierau: Ich hing immer dem Gedanken an, die geistigen Strahlungszentren Russlands einmal in einem Buch darzustellen und vor diesem Hintergrund eine Geschichte des russischen Geisteslebens aufzubauen. Ein solcher herausragender Punkt war zum Beispiel Koktebel auf der Krim. Inmitten der tatarischen Holzbauten errichtete hier 1913 der aus Paris kommende Dichter Maximilian Woloschin ein steinernes Haus mit einem Observatorium auf dem Dach. Es war so groß, dass bis zu sechzig Gäste darin übernachten konnten und es war die geistige Elite Russlands, die darin verkehrte. Bely war da und Tolstoi, Marina Zwetajewa kam mit ihrem Mann Sergej Efron, ebenso Ossip Mandelstam mit seiner Frau. Wie es heißt, sei der Maler Michail Wrubel dort anhand einer Muschel, die er im Schwarzen Meer gefunden habe, zu dem changierenden Glanz seines Gemäldes "Der Dämon" inspiriert worden, das er nach dem berühmten Poem von Lermontow malte. Die gegenseitige Beeinflussung erfolgte sozusagen beim Teetrinken. Auf diese Weise ergab sich eine Verbundenheit, die weit über eine literarische Gruppe programmatischer Art hinausging.
Ein weiterer solcher Punkt befand sich am entgegengesetzten Ende des europäischen Russlands im Haus des Kritikers und Übersetzers Kornej Tschukowski nahe bei Petersburg. Bis heute erhaltenes Zeugnis dieses geistigen Zentrums ist das Gästebuch mit den wunderbarsten Exprompten von Dichtern, Malern und Komponisten. Es ist teilweise veröffentlicht, aber nie vollständig ediert worden. In Petersburg selbst war es das Haus des Schriftstellers Dimitri Mereschkowski und seiner Frau Sinaida Hippius, in der nicht nur die frühen Symbolisten verkehrten, sondern Dichter und Künstler aus allen Richtungen. Eine ähnliche Funktion hatte das Petersburger Kabarett "Der streunende Hund". Das war ein richtiger Bohèmekeller, in dem auch alles verkehrte, was in der Geisteswelt Rang und Namen hatte. Achmatowa und Majakowski waren da und Viktor Schklowski hielt hier seinen ersten Vortrag.

Reif: Die Geschichte kennt nur wenige solcher Momente, in denen ein Land auf allen künstlerischen Gebieten führend war. Handelte es sich damals um eine ganz einmalige Epoche des Geisteslebens?

Mierau: Es war für Russland eine Zeit, die man mit der Romantik in Deutschland vergleichen kann. Die deutsche Romantik hat sich als unerschöpflich erwiesen. Man kann sich stets aufs Neue an ihren verschiedenen Facetten begeistern und ihren Gedankenkosmos bewundern. Und je weiter wir uns von dieser Epoche entfernen, desto mehr wird sich zeigen, dass diese Zeit von ungefähr vierzig Jahren auch weiter in die Zukunft ausstrahlt.
In einer gewissen Weise gilt das auch für diese "russische Romantik". Für die Russen war die deutsche Romantik durchaus ein Bezugspunkt. Es fand dort eine große Novalis-Rezeption statt und ebenso eine intensive Beschäftigung mit E.T.A. Hoffmann und anderen Romantikern. Wichtig daran ist der enorme Aufbruchsimpuls, den die deutschen Romantiker den Russen vermittelten. Dieser Aufbruchsimpuls, von dem ja nicht nur die russische Poesie, sondern die russische Geistigkeit überhaupt erfasst war, griff weit über die Rezeption der deutschen Romantik hinaus und bemächtigte sich des gesamten europäischen Geisteserbes seit Griechenland. Die Masse des aus den verschiedenen Sprachen ins Russische Übersetzten - nicht nur Poesie, auch Werke der Philosophie, der Wissenschaften etc. - ist schier unvorstellbar. Damals befand sich das geistige Russland sozusagen auf der Höhe Europas.

Reif: Von der es dann durch die Revolution mit ihrem Terror und ihren Vertreibungen gestürzt wurde...

Mierau: Das enorme Engagement der russischen Moderne in der Revolution beruht zu einem großen Teil darauf, dass es einigen ihrer Vertreter so schien, als sei diese politische Umwälzung, deren Zeugen sie waren, die Gewähr dafür, dass das, was sie erhofft und für das sie gearbeitet haben, sich nunmehr staatlich verwirklichen lassen würde. Nur so lässt sich die freudige Bereitschaft erklären, mit der sich Andrej Bely, Alexander Blok und viele andere in die Volksbildungsarbeit stürzten. Die Energien, die unmittelbar nach der Revolution in den sowjetischen Kulturbetrieb investiert wurden, waren die Energien von zwanzig Jahren zuvor und nicht solche, die aus einer "revolutionären Befreiung" resultierten. So wurde denn die von mir als "russische Romantik" bezeichnete Aufbruchsbewegung ein Teil der Revolution und insofern ist die Revolution ein Teil dieser "russischen Romantik". Aber innerhalb kürzester Zeit bereitete der anbrechende bolschewistische Terror diesem Aufbruch ein Ende: Einige Dichter und Philosophen gingen in die Emigration, andere versuchten sich den neuen Bedingungen anzupassen, wieder andere begingen Selbstmord oder wurden ermordet. Und natürlich gab es auch solche, die nur mehr "nach innen dachten".

Reif: Wenn Sie heute auf dieses Erbe zurückblicken: Was bedeutet es für das "Neue Europa"?

Mierau: Diese Epoche ist nicht verloren. Es gibt nur wenige Texte von jenen Autoren, die mundtot gemacht, ermordet oder verjagt wurden, die nicht auf uns gekommen sind. Dank der seit den neunziger Jahren stattfindenden ungemein lebhaften Editionstätigkeit und der hervorragenden Arbeit, die von den russischen Philologen geleistet wird, sind heute exzellente Ausgaben von allen nur denkbaren russischen Autoren greifbar - ob es sich nun um Symbolisten, Dadaisten, Futuristen, Akmeisten oder Repräsentanten anderer künstlerischer Strömungen handelt -, Editionen, die bereits während der Endphase der Sowjetunion zur Veröffentlichung vorbereitet wurden. Von der Fülle bedeutender literaturhistorischer Studien und Abhandlungen gar nicht zu reden. Dieses gewaltige Erbe nun nach Europa zu bringen, damit es an ihm partizipieren kann, darin sehe ich eine wichtige Aufgabe für die unmittelbare Zukunft.

 

 

Fritz Mierau
wurde 1934 in Breslau geboren. Er gehört zu den besten Kennern und rührigsten Vermittlern russischer Literatur und Geistesgeschichte im deutschen Sprachraum. Seit einigen Jahren gibt er zusammen mit seiner Frau Sieglinde Mierau die Werke von Pawel Florenski in deutscher Übersetzung heraus. Für seine Verdienste ist Fritz Mierau mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem 1992 mit der Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar, 1996 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 1999 mit dem Karl-Otten-Preis des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Fritz Mierau lebt in Berlin
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