ich schlug meiner Mutter

die brennenden Funken ab

Berliner Schulaufsätze

aus dem Jahr 1946

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben vom Prenzlauer Berg Museum mit Unterstützung des Landesarchivs Berlin

Ausgewählt von Annett Gröschner

 

376 Seiten / Format 256 x 203 mm
Pappband Halbleinen
mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles
Ê 20,45
ISBN 3-931337-30-8

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Beschuss

Es war Sonnabend, den 21. April 1945. Meine Mutti sagte zu mir: "Wilma, gehe nicht so weit weg, die Russen schießen. Das ist kein Übungsschießen, wie die Zeitung schreibt." Ich sagte: "Nein, nein, ich gehe bloß nach Brot." Ich bin nach der Greifenhagener Straße gegangen. Es regnete und war sehr trübes Wetter. Als ich nun so eine Weile anstand, da pfiff es auf einmal so komisch und schlug ein. Ich dachte bei mir, das sind die russischen Granaten. Ich rannte was ich konnte. Ich kam ganz außer Atem zu Hause an. Auf dem Hof traf ich meinen Opa. Er sagte: "Gehe fix in den Keller." In einem Nu war ich im Keller, denn ich hatte schreckliche Angst. Um 12 Uhr aßen wir zu Mittag. So ging es 12 Tage den ungewohnten Gang weiter. Ich bin nie aus dem Keller rausgekommen, nur meine Mutti und mein Opa sorgten für das Essen. Am 28. April 1945 fiel auf unseren Hof eine Granate. Meine Mutti stand mit 7 Frauen auf dem Hof, als die Granate einschlug. Meiner Mutti wurden die Beine abgerissen. Meine liebe Mutti wurde am 30. April 1945 beerdigt. Das war mein Erlebnis während des Beschusses.

(Wilma D., 6. Klasse der 41. Schule in Berlin Prenzlauer Berg)
 
 

Jeder kennt heutzutage die immer wieder zitierten Dokumente des zerstörten Deutschland im Frühjahr 1945. In Ergänzung zu diesen häufig gezeigten und dadurch vertraut erscheinenden Zeugnissen erzählt die vorliegende Aufsatzsammlung vom Grauen des Krieges und dem Ausmaß der Zerstörung nach Kriegsende, von dem ungewissen Warten in Luftschutzkellern, dem Zusammenbruch jeglicher Ordnung der letzten Kriegstage und den Anfängen neuen Lebens in den Ruinen Berlins. Nach Einstellung der Kriegshandlungen beschreiben hier Schüler die Organisierung des Alltags, die Beschaffung des Lebensnotwendigen, berichten von ersten Rechenaufgaben in der Schule zur Ermittlung des Glasbedarfs für die fehlenden Scheiben im Klassenraum. Kinder und Jugendliche erzählen über ihre Gefühle in ihrer kindlichen und damit direkten Sicht während der Ereignisse im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg vor über fünfzig Jahren.

Die Aufsätze haben viele Autoren. Die Schüler schrieben sie zusammen mit ihren Geschwistern und Eltern. Die von der Schule gestellte Aufgabe war Anlaß, sich im Familienkreis der zurückliegenden Kriegsjahre zu erinnern und zugleich die aktuelle Nachkriegszeit zu beschreiben. Festgehalten ohne große zeitliche Distanz, sind diese Erinnerungen ein einmaliges, weil authentisches Vermächtnis. Die topographische Genauigkeit der Beschreibung konkreter Personen, Orte und Begebenheiten fordert zu einem Vergleich mit dem vorhandenen Stadtbild auf. Die zurückliegenden Ereignisse bleiben nicht mehr bloß eine abstrakte Größe, sondern erhalten ein vielschichtiges Gesicht und schaffen damit einen Bezug zur Gegenwart.

Diese subjektiven Momentaufnahmen mit ihren individuellen Erfahrungen dokumentieren das Ende des Nationalsozialismus und den Moment danach. Sie beschreiben einen Epochenwechsel. Welch große Bedeutung die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegserfahrungen für die Autoren der Schulaufsätze bis heute haben, zeigen die in diesem Buch wiedergegebenen Gespräche mit den ehemaligen Schülern. Die Aufsätze lagerten jahrzehntelang im Ostberliner Stadtarchiv. Sicher aufbewahrt waren sie bisher nicht zugänglich - sie werden hier als einzigartiges Dokument zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgelegt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die vorliegende Anthologie von Schüleraufsätzen ist das Ergebnis akribischer Recherche und zugleich ein Muster an editorischer Sorgfalt. Das Buch ist nicht nur von Anfang bis Ende spannend zu lesen, sondern ? als authentisches Zeugnis von Zusammenbruch und Neubeginn - von zeit- und mentalitätsgeschichtlichem Wert über das Beispiel Berlin hinaus.

Peter Walther, die tageszeitung
 

Dramatische Bombennächte...
Dies ist kein Buch, das man von Anfang bis Ende durchlesen mag - aber als historische Quelle und für den Geschichtsunterricht eignet sich der schön gemachte Band sehr gut.

Susanne Kippenberger, Der Tagesspiegel
 

Die Schilderungen aus Berliner Kinderfedern bleiben einmalig.

Sabine Henkel, Die Welt


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