boris kagarlitzki

der gespaltene monolith

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die russische Gesellschaft an der Schwelle ins neue Jahrtausend

192 Seiten / Format 205 x 125 mm
Französische Broschur
Zweite Auflage
Ê 20,35
ISBN 3-931337-07-3

 

Inhalt

Die Erben des Totalitarismus
Intellektuelle contra Intelligenzija
Das politische Mosaik
Ein neues Demokratie-Modell?
Pluralismus auf sowjetisch
Gibt es eine Alternative?
(Gedanken nach den August-Ereignissen:) Zeit der Reue

 

 

Hans-Jürgen Lehnert

Wegzeichen

 

Die russische Revolution von 1905 hatte große Teile der Intelligenzija an der Seite der demonstrierenden Arbeiter gesehen. Der blutige Mißerfolg des Aufstandes, bislang nicht gekannte Bilder der Gewalt, aber auch ein gewisses Einlenken der zaristischen Politiker, die wirtschaftliche und politische Reformen ins Auge zu fassen begannen, führten in der Folgezeit zu einer heftigen Kontroverse um Rolle und Status der Intellektuellen in der russischen Gesellschaft. Ausgelöst wurde diese Kontroverse durch namhafte Publizisten, Philosophen und Soziologen, die um die Jahrhundertwende dem Lager der sogenannten legalen Marxisten angehört hatten und die in dem Gemeinschaftsband "Wechi" (Wegzeichen) nun mit ihren früheren Ansichten brachen, indem sie eine kritische Bestandsaufnahme der Revolutionsereignisse anstrebten. Bereits als Marxisten waren Nikolai Berdjajew, Pjotr Struwe, Sergej Bulgakow, Semjon Frank, Alexander Isgojew und andere Mitglieder dieser Gruppe bemüht gewesen, ihre gesellschaftspolitischen Überlegungen mit der spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Realität Rußlands zu "harmonisieren". Einem strengen ökonomischen Materialismus folgend, konstatierten sie ein erhebliches Defizit an bürgerlich-kapitalistischer Entwicklung und bewiesen - mit Marx! - die Notwendigkeit einer liberal-evolutionären Reform des russischen Gesellschaftssystems. Auf diese Weise sollten jene Hemmnisse abgebaut werden, die die absolutistischen Herrschaftsstrukturen des Zarismus der wachsenden Forderung nach einer modernen Industriegesellschaft bereiteten.
Zum geistigen Credo der "legalen Marxisten" gehörte eine zweite Überzeugung: Rußland wird keinen wirklichen Entwicklungsschub erleben, wenn an die Stelle der alten Diktatur eine neue tritt. Darin unterschieden sie sich prinzipiell von den Bolschewiki, die Rußlands Rückständigkeit nicht durch eine ausbalancierte Modernisierungspolitik, sondern auf revolutionärem Wege zu beseitigen gedachten: In einer Zeit, da sich ein russisches Bürgertum erst herausbildete, wurde es von Lenin auch schon wieder verabschiedet und sollte durch eine "Diktatur der Arbeiter und Bauern" ersetzt werden.1 (Trotzkis weltrevolutionäres Konzept verschob das Problem nur auf die internationale Ebene.)
Die "legalen Marxisten" und späteren "Wechi"-Verfasser suchten einen dritten Weg jenseits der Diktaturen. Politisch führte diese Suche in die Partei der konstitutionellen Demokraten, deren Vertreter sich zunehmend zwischen alle Stühle der russischen Geschichte setzten: Am Ende erwartete die meisten Verfechter einer bürgerlich-evolutionären Gesellschaftskonzeption das Exil. Symptomatisch nahm die Politik in der Argumentation des "Wechi"-Kreises aber nur einen begrenzten Raum ein. Sie relativierte sich, weil sie in einen größeren sozialen und kulturellen Zusammenhang gerückt wurde. Sein und Seinsollendes, Wahrheit und Interesse/Nutzen, Sehen und Handeln waren noch aufeinander bezogen, Gestern, Heute und Morgen bildeten eine Einheit. Synthetisches Denken dominierte und gebar jene Skrupel zu selektieren und zu reduzieren, die der programmatische Fanatismus nicht kennt.
Als "legale Marxisten" hatten Berdjajew, Struwe und andere das Primat der Ökonomie gegenüber der Politik betont und von dieser Position aus gegen die "unwissenschaftlichen" "antikapitalistischen" politischen Programme der Volkstümler (Narodniki) polemisiert. Nach der Revolution von 1905 gipfelte diese Kritik in einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit den historischen Defiziten der Intelligenzija. Zusätzliche Stimulanz erfuhr der "Wechi"-Band durch die Beobachtung, daß der russische Marxismus, dem die Autoren selbst ihre Sympathie geschenkt hatten, solange er als Beschreibungs- und Erklärungsmodell fungierte, nun ins Fahrwasser der Volkstümlertradition geriet2: "Der ökonomische Materialismus verlor auf russischem Boden seinen objektiven Charakter. Das Moment der produktiven Arbeit wurde in die zweite Reihe gerückt, in den Vordergrund trat der subjektiv-klassenmäßige Aspekt des Sozialdemokratismus. Der Marxismus degenerierte, weil er im Sinne der Narodniki uminterpretiert wurde. Der ökonomische Materialismus verwandelte sich in eine neue Form von ,subjektiver Soziologie'. Die russischen Marxisten liebten fortan nur noch die Gleichheit und glaubten besessen daran, daß der Sozialismus bald kommen werde und daß dieses Ziel in Rußland fast noch eher erreichbar sei als in Westeuropa."3 Mit Sorge betrachteten die "Wechi"-Autoren diese Verkümmerung des russischen Marxismus zur "proletarischen Mystik", weil große Teile der Intelligenzija von ihr erfaßt waren. Berdjajew und seine Mitstreiter sahen in der geschilderten Entwicklung deshalb nicht nur ein geistiges Phänomen, sondern vor allem auch ein soziokulturelles Problem der Intelligenzija. Deren gestörtes Verhältnis zur "objektiven Vernunft", eine Eigenschaft, die keineswegs allein die linken Intellektuellen kennzeichne, lasse sich aus dem spezifischen Status der Intelligenzija in der russischen Gesellschaft ableiten: "Die anachronistische Selbstherrschaft verstümmelte die Seele der Intelligenzija, versklavte sie äußerlich wie innerlich, da sie das gesamte Denken und Fühlen der Intelligenzija negativ prägte." Diese "Sünden unserer krankhaften Geschichte" hätten eine Verbürgerlichung der Intelligenzija behindert und infolgedessen eine extreme Staatsfixiertheit dieser Schicht gefördert. Struwe präzisierte diese Fixiertheit: Sie habe sich in einer alles beherrschenden Feindschaft gegenüber der Staatsmacht niedergeschlagen. Hierin sei auch die Ursache für jene verhängnisvolle Politisierung des gesamten Denkens und Fühlens zu suchen, die den Habitus des russischen Intellektuellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestimme. Detailliert wird dieser Habitus beschrieben: die geradezu "manische Neigung", Wissenschaft, Philosophie und Kunst ausschließlich politisch-utilitären Zielen zu unterwerfen, die Wahrheit dem Interesse zu opfern, ein rigider sozialer Moralismus, der andererseits keinen objektiven ethischen Wertmaßstab (Humanismus) kennt, Fanatismus und Intoleranz, ein einseitiger Blick auf die äußeren Strukturen der Gesellschaft und die gleichzeitige Vernachläßigung der Arbeit an sich selbst, die häufig damit einhergehende fachliche Inkompetenz und Kulturlosigkeit, die Überzeugung von der Notwendigkeit revolutionärer, und nicht evolutionärer, Veränderungen und die daraus resultierende Akzeptanz von Haß und Zerstörung, das permanente Streben nach (egalitärer) Verteilung und die Ignoranz gegenüber dem noch wichtigeren Problem des Erzeugens, des produktiven Schaffens...
Heute wissen wir, daß viele dieser Merkmale die osteuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt haben, daß der russischen Gesellschaft politisch und kulturhistorisch ein anderer Weg beschieden war als der von Berdjajew, Bulgakow, Struwe, Frank oder Isgojew aufgezeigte evolutionäre Pfad jenseits der Diktaturen. Erst die Perestroika bewirkte wieder eine grundsätzliche Diskussion über die "Sünden unserer krankhaften Geschichte", und so nimmt es nicht wunder, daß in diesem Kontext auch das Intelligenzija-Problem an Bedeutung gewinnt. Boris Kagarlitzki, Abgeordneter des inzwischen umbenannten Moskauer Sowjet, widmet dem Problem in seinem Buch "Der gespaltene Monolith" viele Seiten.
Wie seinerzeit die "Wechi"-Autoren ruft auch Kagarlitzki die Intellektuellen seines Landes auf, kritische Rückschau zu halten und den eigenen Platz in der jetzigen Gesellschaft neu zu bestimmen. Seine Empfehlungen hängen maßgeblich davon ab, welche Merkmale er für diese Gesellschaft herausarbeitet. Auf einen Nenner gebracht, sieht Kagarlitzki in der russischen bzw. sowjetischen Geschichte nach 1917 die mehrstufige Existenz eines totalitären Systems. Seine von zahlreichen interessanten Beobachtungen begleitete Analyse läßt drei spezifische Perioden erkennen: das Stalin-Regime (in dessen Perspektive auch die Neue Ökonomische Politik der zwanziger Jahre betrachtet wird), die komplexere totalitäre Gesellschaft zwischen 20. Parteitag und Perestroika sowie die sich derzeit konstituierende "postkommunistische" Ordnung, für die der Verfasser den Begriff "Marktstalinismus" (die Diktatur der zu Privatmonopolisten gewendeten alten Nomenklatura) einführt. Besonders letztgenannter Periode, dem "Jelzinismus", gilt Kagarlitzkis polemische Energie: Der Verfasser klagt die "Oligarchie" jener konvertierten Ex-Kommunisten an, die das Staatseigentum unter sich aufteilen, eine neue, nun "kapitalistische" Monopolstellung aufbauen und die ersten Pflänzchen von Basisdemokratie, vor allem die sogenannten nichtformellen Gruppen, zertreten.
Das Diktatur- bzw. Totalitarismusproblem beherrscht auch Kagarlitzkis Argumentation über Status und Rolle der Intelligenzija in der russisch-sowjetischen Gesellschaft. Entsprechend der oben beschriebenen Periodisierung beobachtet er hinsichtlich der Intellektuellen drei Formen prostaatlichen Verhaltens: jenen Konformismus der (sozialistisch gesinnten) "Weggefährten", der die zwanziger Jahre kennzeichnete und mithalf, den Stalinismus zu installieren, die mit materiellem Wohlstand belohnte Loyalität ("rituelle Selbstentehrung") der Intellektuellen in der Breshnew-Ära sowie die breite neokonservative Unterstützung der geistigen Elite für den kapitalistischen Kurs des "Zaren Boris". Kagarlitzki bedauert in diesem Zusammenhang zutiefst, daß "die alte Idee der Intelligenzija von der Sorge um das Wohl des Volkes verblaßte" und an ihre Stelle "ein Kult der Kompetenz" trat. Er fordert die Intellektuellen seines Landes deshalb auf, Reue zu zeigen und an traditionelles Rollenverständnis anzuknüpfen: "der Intelligenzija, die immer bestrebt war, ihre eigenen Interessen denen des Volkes zu opfern". Diese "Interessen des Volkes" sieht der Verfasser in sozialistischen Werten verkörpert: Er favorisiert einen demokratisierten gesellschaftlichen Sektor in der Wirtschaft, des weiteren Produktionsdemokratie und Selbstverwaltung. Solche und ähnliche Forderungen sollen verhindern, daß Rußland, wo ein westeuropäisch-amerikanischer "Kapitalismus von unten" (der zum Beispiel eine freie Unternehmerschicht einschlösse) nicht möglich ist, vor einer neuen Diktatur bewahrt bleibt. Kagarlitzki empfiehlt ein revolutionäres nicht-marktwirtschaftliches Programm, das zuvörderst die Machtfrage in Angriff nimmt. Dabei bleiben freilich einige Probleme ungeklärt. So betont der Verfasser permanent, daß angesichts der historischen Bedingungen in Rußland nur ein "barbarischer Kapitalismus" möglich sei, ohne zugleich zu begründen, warum für eine demokratische sozialistische Entwicklung realere Voraussetzungen bestehen sollen als für einen "zivilisierten Kapitalismus". Zu schnell scheint mir Kagarlitzki mit einer unpraktikablen Maximalalternative das realistischere Minimalprogramm eines "Kapitalismus von oben" in die totalitaristische Ecke zu rücken. Zwar werden auf diese Weise zahlreiche höchst fragwürdige Ambitionen und Aktionen der Jelzin-Mannschaft aufgezeigt, doch erinnert Kagarlitzkis gesellschaftspolitischer Ansatz mit seiner rigorosen Negation marktwirtschaftlicher Reformen auf russischem Boden frappant an jene Auseinandersetzungen, in der die "Wechi"-Autoren ihre Kritik an der Intelligenzija hervorbrachten. Es wäre gewiß reizvoll zu untersuchen, inwieweit Kagarlitzki mit seinem an die Intellektuellen gerichteten Aufruf zur Totalopposition gegen die neuen Moskauer Machthaber alte Denkmuster der vorindustriellen russischen Gesellschaft reaktiviert. Darüber hinaus provoziert mich Kagarlitzkis engagierte Analyse zu folgender Frage: Müßte der Weg des Verstandes, nicht unbedingt des Herzens, den russischen Intellektuellen nicht doch zu einem "Kapitalismus von oben", d.h. zu evolutionären statt zu revolutionären Formen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens führen? Macht es das - auch von Kagarlitzki konstatierte - Entwicklungsdefizit Rußlands nicht notwendig, zähneknirschend die Zusammenarbeit mit Halbdemokraten dort zu suchen, wo eine "klassische" bürgerliche Gesellschaft, geschweige denn ein demokratischer Sozialismus, demnächst nicht zu haben sein wird? Kagarlitzki scheint diesen Konflikt immerhin zu ahnen, wenn er seine anfängliche antikapitalistische Fundamentalkritik an der "Jelzin-Diktatur" letztlich auf eine wirksame Interessensvertretung der Arbeiter durch freie Gewerkschaften zurückschraubt.
Einer der neuen wilden Neokonservativen, die amerikanischer als die Amerikaner sein wollen und gerade deshalb Russen reinsten Wassers bleiben, merkte zu Berdjajew vor kurzem kritisch an, er habe die "Wahrheit des Kapitalismus" nicht verstanden und in seinem Denken den marxistischen Einfluß auf sein Schaffen nicht restlos überwinden können. Bildet die sich hier andeutende Differenz zwischen der unkultiviert-radikalen Marktwirtschaftseuphorie heutiger russischer Kapitalismusapostel und der zivilisiert-gemäßigten Reformarbeit der "Wechi"-Autoren an einer künftigen Gesellschaft freier Bürger auf absehbare Zeit nicht jenen schmalen Handlungsraum, den die "krankhafte Geschichte" Rußlands für eigene Entscheidungen der Intelligenzija überhaupt noch anbietet?

1 Vgl. Wladimir I. Lenin, Über einige Quellen der gegenwärtigen ideologischen Zerfahrenheit, in: Ders., Werke, Bd. 16, Berlin 1967, S. 86.
2 Diese Kritik der "Wechi"-Autoren am russischen Marxismus galt in erster Linie den Bolschewiki, weniger Plechanow, der neben den "legalen Marxisten" und Bolschewiki eine dritte Rezeptionsrichtung des Marxismus in Rußland repräsentierte.
3 Wegzeichen. Aufsätze zur russischen Intelligenzija (russ.), Moskau 1909, Reprint 1990.

 

 

 

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