Hans-Jürgen
Lehnert
Wegzeichen
Die russische
Revolution von 1905 hatte große Teile der Intelligenzija
an der Seite der demonstrierenden Arbeiter gesehen. Der blutige
Mißerfolg des Aufstandes, bislang nicht gekannte Bilder
der Gewalt, aber auch ein gewisses Einlenken der zaristischen
Politiker, die wirtschaftliche und politische Reformen ins Auge
zu fassen begannen, führten in der Folgezeit zu einer heftigen
Kontroverse um Rolle und Status der Intellektuellen in der russischen
Gesellschaft. Ausgelöst wurde diese Kontroverse durch namhafte
Publizisten, Philosophen und Soziologen, die um die Jahrhundertwende
dem Lager der sogenannten legalen Marxisten angehört hatten
und die in dem Gemeinschaftsband "Wechi" (Wegzeichen)
nun mit ihren früheren Ansichten brachen, indem sie eine
kritische Bestandsaufnahme der Revolutionsereignisse anstrebten.
Bereits als Marxisten waren Nikolai Berdjajew, Pjotr Struwe,
Sergej Bulgakow, Semjon Frank, Alexander Isgojew und andere Mitglieder
dieser Gruppe bemüht gewesen, ihre gesellschaftspolitischen
Überlegungen mit der spezifischen sozialen und wirtschaftlichen
Realität Rußlands zu "harmonisieren". Einem
strengen ökonomischen Materialismus folgend, konstatierten
sie ein erhebliches Defizit an bürgerlich-kapitalistischer
Entwicklung und bewiesen - mit Marx! - die Notwendigkeit einer
liberal-evolutionären Reform des russischen Gesellschaftssystems.
Auf diese Weise sollten jene Hemmnisse abgebaut werden, die die
absolutistischen Herrschaftsstrukturen des Zarismus der wachsenden
Forderung nach einer modernen Industriegesellschaft bereiteten.
Zum geistigen Credo der "legalen Marxisten" gehörte
eine zweite Überzeugung: Rußland wird keinen wirklichen
Entwicklungsschub erleben, wenn an die Stelle der alten Diktatur
eine neue tritt. Darin unterschieden sie sich prinzipiell von
den Bolschewiki, die Rußlands Rückständigkeit
nicht durch eine ausbalancierte Modernisierungspolitik, sondern
auf revolutionärem Wege zu beseitigen gedachten: In einer
Zeit, da sich ein russisches Bürgertum erst herausbildete,
wurde es von Lenin auch schon wieder verabschiedet und sollte
durch eine "Diktatur der Arbeiter und Bauern" ersetzt
werden.1 (Trotzkis weltrevolutionäres Konzept verschob das
Problem nur auf die internationale Ebene.)
Die "legalen Marxisten" und späteren "Wechi"-Verfasser
suchten einen dritten Weg jenseits der Diktaturen. Politisch
führte diese Suche in die Partei der konstitutionellen Demokraten,
deren Vertreter sich zunehmend zwischen alle Stühle der
russischen Geschichte setzten: Am Ende erwartete die meisten
Verfechter einer bürgerlich-evolutionären Gesellschaftskonzeption
das Exil. Symptomatisch nahm die Politik in der Argumentation
des "Wechi"-Kreises aber nur einen begrenzten Raum
ein. Sie relativierte sich, weil sie in einen größeren
sozialen und kulturellen Zusammenhang gerückt wurde. Sein
und Seinsollendes, Wahrheit und Interesse/Nutzen, Sehen und Handeln
waren noch aufeinander bezogen, Gestern, Heute und Morgen bildeten
eine Einheit. Synthetisches Denken dominierte und gebar jene
Skrupel zu selektieren und zu reduzieren, die der programmatische
Fanatismus nicht kennt.
Als "legale Marxisten" hatten Berdjajew, Struwe und
andere das Primat der Ökonomie gegenüber der Politik
betont und von dieser Position aus gegen die "unwissenschaftlichen"
"antikapitalistischen" politischen Programme der Volkstümler
(Narodniki) polemisiert. Nach der Revolution von 1905 gipfelte
diese Kritik in einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit den
historischen Defiziten der Intelligenzija. Zusätzliche Stimulanz
erfuhr der "Wechi"-Band durch die Beobachtung, daß
der russische Marxismus, dem die Autoren selbst ihre Sympathie
geschenkt hatten, solange er als Beschreibungs- und Erklärungsmodell
fungierte, nun ins Fahrwasser der Volkstümlertradition geriet2:
"Der ökonomische Materialismus verlor auf russischem
Boden seinen objektiven Charakter. Das Moment der produktiven
Arbeit wurde in die zweite Reihe gerückt, in den Vordergrund
trat der subjektiv-klassenmäßige Aspekt des Sozialdemokratismus.
Der Marxismus degenerierte, weil er im Sinne der Narodniki uminterpretiert
wurde. Der ökonomische Materialismus verwandelte sich in
eine neue Form von ,subjektiver Soziologie'. Die russischen Marxisten
liebten fortan nur noch die Gleichheit und glaubten besessen
daran, daß der Sozialismus bald kommen werde und daß
dieses Ziel in Rußland fast noch eher erreichbar sei als
in Westeuropa."3 Mit Sorge betrachteten die "Wechi"-Autoren
diese Verkümmerung des russischen Marxismus zur "proletarischen
Mystik", weil große Teile der Intelligenzija von ihr
erfaßt waren. Berdjajew und seine Mitstreiter sahen in
der geschilderten Entwicklung deshalb nicht nur ein geistiges
Phänomen, sondern vor allem auch ein soziokulturelles Problem
der Intelligenzija. Deren gestörtes Verhältnis zur
"objektiven Vernunft", eine Eigenschaft, die keineswegs
allein die linken Intellektuellen kennzeichne, lasse sich aus
dem spezifischen Status der Intelligenzija in der russischen
Gesellschaft ableiten: "Die anachronistische Selbstherrschaft
verstümmelte die Seele der Intelligenzija, versklavte sie
äußerlich wie innerlich, da sie das gesamte Denken
und Fühlen der Intelligenzija negativ prägte."
Diese "Sünden unserer krankhaften Geschichte"
hätten eine Verbürgerlichung der Intelligenzija behindert
und infolgedessen eine extreme Staatsfixiertheit dieser Schicht
gefördert. Struwe präzisierte diese Fixiertheit: Sie
habe sich in einer alles beherrschenden Feindschaft gegenüber
der Staatsmacht niedergeschlagen. Hierin sei auch die Ursache
für jene verhängnisvolle Politisierung des gesamten
Denkens und Fühlens zu suchen, die den Habitus des russischen
Intellektuellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestimme. Detailliert
wird dieser Habitus beschrieben: die geradezu "manische
Neigung", Wissenschaft, Philosophie und Kunst ausschließlich
politisch-utilitären Zielen zu unterwerfen, die Wahrheit
dem Interesse zu opfern, ein rigider sozialer Moralismus, der
andererseits keinen objektiven ethischen Wertmaßstab (Humanismus)
kennt, Fanatismus und Intoleranz, ein einseitiger Blick auf die
äußeren Strukturen der Gesellschaft und die gleichzeitige
Vernachläßigung der Arbeit an sich selbst, die häufig
damit einhergehende fachliche Inkompetenz und Kulturlosigkeit,
die Überzeugung von der Notwendigkeit revolutionärer,
und nicht evolutionärer, Veränderungen und die daraus
resultierende Akzeptanz von Haß und Zerstörung, das
permanente Streben nach (egalitärer) Verteilung und die
Ignoranz gegenüber dem noch wichtigeren Problem des Erzeugens,
des produktiven Schaffens...
Heute wissen wir, daß viele dieser Merkmale die osteuropäische
Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt
haben, daß der russischen Gesellschaft politisch und kulturhistorisch
ein anderer Weg beschieden war als der von Berdjajew, Bulgakow,
Struwe, Frank oder Isgojew aufgezeigte evolutionäre Pfad
jenseits der Diktaturen. Erst die Perestroika bewirkte wieder
eine grundsätzliche Diskussion über die "Sünden
unserer krankhaften Geschichte", und so nimmt es nicht wunder,
daß in diesem Kontext auch das Intelligenzija-Problem an
Bedeutung gewinnt. Boris Kagarlitzki, Abgeordneter des inzwischen
umbenannten Moskauer Sowjet, widmet dem Problem in seinem Buch
"Der gespaltene Monolith" viele Seiten.
Wie seinerzeit die "Wechi"-Autoren ruft auch Kagarlitzki
die Intellektuellen seines Landes auf, kritische Rückschau
zu halten und den eigenen Platz in der jetzigen Gesellschaft
neu zu bestimmen. Seine Empfehlungen hängen maßgeblich
davon ab, welche Merkmale er für diese Gesellschaft herausarbeitet.
Auf einen Nenner gebracht, sieht Kagarlitzki in der russischen
bzw. sowjetischen Geschichte nach 1917 die mehrstufige Existenz
eines totalitären Systems. Seine von zahlreichen interessanten
Beobachtungen begleitete Analyse läßt drei spezifische
Perioden erkennen: das Stalin-Regime (in dessen Perspektive auch
die Neue Ökonomische Politik der zwanziger Jahre betrachtet
wird), die komplexere totalitäre Gesellschaft zwischen 20.
Parteitag und Perestroika sowie die sich derzeit konstituierende
"postkommunistische" Ordnung, für die der Verfasser
den Begriff "Marktstalinismus" (die Diktatur der zu
Privatmonopolisten gewendeten alten Nomenklatura) einführt.
Besonders letztgenannter Periode, dem "Jelzinismus",
gilt Kagarlitzkis polemische Energie: Der Verfasser klagt die
"Oligarchie" jener konvertierten Ex-Kommunisten an,
die das Staatseigentum unter sich aufteilen, eine neue, nun "kapitalistische"
Monopolstellung aufbauen und die ersten Pflänzchen von Basisdemokratie,
vor allem die sogenannten nichtformellen Gruppen, zertreten.
Das Diktatur- bzw. Totalitarismusproblem beherrscht auch Kagarlitzkis
Argumentation über Status und Rolle der Intelligenzija in
der russisch-sowjetischen Gesellschaft. Entsprechend der oben
beschriebenen Periodisierung beobachtet er hinsichtlich der Intellektuellen
drei Formen prostaatlichen Verhaltens: jenen Konformismus der
(sozialistisch gesinnten) "Weggefährten", der
die zwanziger Jahre kennzeichnete und mithalf, den Stalinismus
zu installieren, die mit materiellem Wohlstand belohnte Loyalität
("rituelle Selbstentehrung") der Intellektuellen in
der Breshnew-Ära sowie die breite neokonservative Unterstützung
der geistigen Elite für den kapitalistischen Kurs des "Zaren
Boris". Kagarlitzki bedauert in diesem Zusammenhang zutiefst,
daß "die alte Idee der Intelligenzija von der Sorge
um das Wohl des Volkes verblaßte" und an ihre Stelle
"ein Kult der Kompetenz" trat. Er fordert die Intellektuellen
seines Landes deshalb auf, Reue zu zeigen und an traditionelles
Rollenverständnis anzuknüpfen: "der Intelligenzija,
die immer bestrebt war, ihre eigenen Interessen denen des Volkes
zu opfern". Diese "Interessen des Volkes" sieht
der Verfasser in sozialistischen Werten verkörpert: Er favorisiert
einen demokratisierten gesellschaftlichen Sektor in der Wirtschaft,
des weiteren Produktionsdemokratie und Selbstverwaltung. Solche
und ähnliche Forderungen sollen verhindern, daß Rußland,
wo ein westeuropäisch-amerikanischer "Kapitalismus
von unten" (der zum Beispiel eine freie Unternehmerschicht
einschlösse) nicht möglich ist, vor einer neuen Diktatur
bewahrt bleibt. Kagarlitzki empfiehlt ein revolutionäres
nicht-marktwirtschaftliches Programm, das zuvörderst die
Machtfrage in Angriff nimmt. Dabei bleiben freilich einige Probleme
ungeklärt. So betont der Verfasser permanent, daß
angesichts der historischen Bedingungen in Rußland nur
ein "barbarischer Kapitalismus" möglich sei, ohne
zugleich zu begründen, warum für eine demokratische
sozialistische Entwicklung realere Voraussetzungen bestehen sollen
als für einen "zivilisierten Kapitalismus". Zu
schnell scheint mir Kagarlitzki mit einer unpraktikablen Maximalalternative
das realistischere Minimalprogramm eines "Kapitalismus von
oben" in die totalitaristische Ecke zu rücken. Zwar
werden auf diese Weise zahlreiche höchst fragwürdige
Ambitionen und Aktionen der Jelzin-Mannschaft aufgezeigt, doch
erinnert Kagarlitzkis gesellschaftspolitischer Ansatz mit seiner
rigorosen Negation marktwirtschaftlicher Reformen auf russischem
Boden frappant an jene Auseinandersetzungen, in der die "Wechi"-Autoren
ihre Kritik an der Intelligenzija hervorbrachten. Es wäre
gewiß reizvoll zu untersuchen, inwieweit Kagarlitzki mit
seinem an die Intellektuellen gerichteten Aufruf zur Totalopposition
gegen die neuen Moskauer Machthaber alte Denkmuster der vorindustriellen
russischen Gesellschaft reaktiviert. Darüber hinaus provoziert
mich Kagarlitzkis engagierte Analyse zu folgender Frage: Müßte
der Weg des Verstandes, nicht unbedingt des Herzens, den russischen
Intellektuellen nicht doch zu einem "Kapitalismus von oben",
d.h. zu evolutionären statt zu revolutionären Formen
des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens führen? Macht
es das - auch von Kagarlitzki konstatierte - Entwicklungsdefizit
Rußlands nicht notwendig, zähneknirschend die Zusammenarbeit
mit Halbdemokraten dort zu suchen, wo eine "klassische"
bürgerliche Gesellschaft, geschweige denn ein demokratischer
Sozialismus, demnächst nicht zu haben sein wird? Kagarlitzki
scheint diesen Konflikt immerhin zu ahnen, wenn er seine anfängliche
antikapitalistische Fundamentalkritik an der "Jelzin-Diktatur"
letztlich auf eine wirksame Interessensvertretung der Arbeiter
durch freie Gewerkschaften zurückschraubt.
Einer der neuen wilden Neokonservativen, die amerikanischer als
die Amerikaner sein wollen und gerade deshalb Russen reinsten
Wassers bleiben, merkte zu Berdjajew vor kurzem kritisch an,
er habe die "Wahrheit des Kapitalismus" nicht verstanden
und in seinem Denken den marxistischen Einfluß auf sein
Schaffen nicht restlos überwinden können. Bildet die
sich hier andeutende Differenz zwischen der unkultiviert-radikalen
Marktwirtschaftseuphorie heutiger russischer Kapitalismusapostel
und der zivilisiert-gemäßigten Reformarbeit der "Wechi"-Autoren
an einer künftigen Gesellschaft freier Bürger auf absehbare
Zeit nicht jenen schmalen Handlungsraum, den die "krankhafte
Geschichte" Rußlands für eigene Entscheidungen
der Intelligenzija überhaupt noch anbietet?
1 Vgl. Wladimir
I. Lenin, Über einige Quellen der gegenwärtigen ideologischen
Zerfahrenheit, in: Ders., Werke, Bd. 16, Berlin 1967, S. 86.
2 Diese Kritik der "Wechi"-Autoren am russischen Marxismus
galt in erster Linie den Bolschewiki, weniger Plechanow, der
neben den "legalen Marxisten" und Bolschewiki eine
dritte Rezeptionsrichtung des Marxismus in Rußland repräsentierte.
3 Wegzeichen. Aufsätze zur russischen Intelligenzija (russ.),
Moskau 1909, Reprint 1990.
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