edelbert richter

erlangte einheit - verfehlte identität

auf der suche nach den grundlagen

für eine neue deutsche politik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Vorwort

I
Der Demokratische Aufbruch
Die letzte Volkskammer
Exemplarische Aufarbeitung der Vergangenheit

II
Deutsche Identität zwischen Weimar und Buchenwald
Nachruf auf den sogenannten realen Sozialismus
Das Scheitern des Leninismus an den Forderungen nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung
Ein anderer Chiliasmus
Notiz über den mißverständlichen Begriff "Bewahrung der Schöpfung"

III
Chancen und Aufgaben politischer Bildung: Wie können wir die Aufklärung noch fortsetzen?
Die Perspektive der sozialen Demokratie angesichts der Umwälzung in Osteuropa
Auf der Suche nach den geistigen Grundlagen für eine neue deutsche Politik

Literaturverzeichnis
Der Autor

Vorwort

Die Parteidespotie scheint diejenigen, die ihr widerstanden haben, doch insofern geprägt zu haben, als sie sie mehr oder weniger zu Schwärmern gemacht hat. Ich stelle das an mir jedenfalls fest. Weil wir die Herrschenden immer nur kritisieren, nie aber selbst Verantwortung übernehmen und politisch handeln konnten, neigen wir zu utopischer Konstruktion von Politik oder zur Resignation. Wir unterschätzen oder überschätzen leicht die realen Widerstände, die dem politischen Handeln erwachsen. Sie richtig einzuschätzen und mit ihnen umzugehen, müssen wir erst lernen.
So hatte ich die deutsche Einigung lange herbeigesehnt, war aber dann über die Art und Weise, wie sie zustande kam, einigermaßen verwirrt und enttäuscht. Warum nur? Zunächst, weil ich zu den christlichen Oppositionsgruppen in der DDR gehörte, die Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf ihre Fahne geschrieben hatten. Wir dachten bei dem Begriff "Frieden" an einen vernünftigen Ausgleich, eine Sicherheitspartnerschaft zwischen West und Ost, wie sie sich seit Gorbatschow ja auch zu entwickeln schien. Daß diese Entwicklung jedoch zur Unterwerfung des Ostens und zum Sieg der Reaganschen Politik führen würde, hat uns verwirrt. Bei dem Begriff "Gerechtigkeit" dachten wir an einen Abbau des Gegensatzes zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden dieser Erde, wohl wissend, wie groß die Hindernisse waren, die gerade diesem Anliegen im Wege standen. Das Enttäuschende an der Umwälzung in Osteuropa aber war, daß sie sich zunehmend als das Scheitern einer Entwicklungsstrategie und dessen ideologische Kompensation entpuppte: Während die betreffenden Länder auf den Status von Entwicklungsländern zurückzufallen drohten, war ihre ideelle Orientierung immer mehr darauf gerichtet, sich auf die Seite des reichen Westens zu schlagen. Unter "Bewahrung der Schöpfung" schließlich verstanden wir den Übergang zu umweltverträglicheren Produktionsmethoden, zu einer bescheideneren Lebensweise, zu einem entsprechend selektiven und qualitativen Wachstum. Davon war nun zwar zu Beginn der Umwälzung noch viel die Rede, dann jedoch machte sich der enorme ökonomische Nachholbedarf unserer Länder geltend und reduzierte das ökologische Anliegen auf die unumgänglichen äußerlichen Korrekturen.
Ich war aber noch zusätzlich enttäuscht, weil ich die Leitideen des Konziliaren Prozesses nicht in dieser Abstraktheit hatte belassen wollen, sondern versucht hatte, sie auf die Bedingungen deutscher Politik zu beziehen. Meine Frage war die nach dem konkreten Träger einer entsprechenden Politik, denn dieser Träger konnte ja nicht die Weltchristenheit sein. Wenn mit den Ideen ernstgemacht werden sollte, dann war es aber das Naheliegendste, bei sich selber, der eigenen Nation anzufangen. Außerdem war die Anregung zum Konziliaren Prozeß von deutschen Christen ausgegangen (Vancouver 1983) und fand das Projekt in Deutschland den meisten Widerhall. Man erinnere sich auch an das Engagement für die Dritte Welt seit den sechziger Jahren, die darauf folgende Ökologiebewegung und die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre! Zeigte sich da nicht eine erfreuliche Sensibilität für die Menschheitsprobleme? Ich fand in der damaligen Situation und darüberhinaus in der Tradition Deutschlands durchaus günstige Ansatzpunkte für eine von jenen Ideen geleitete Politik (vgl. den letzten Aufsatz dieses Buches). Meine Hoffnung war im Grunde: Würden die Deutschen das als ihre gemeinsame Aufgabe, ihre Grundorientierung, ihre "Identität" begreifen, so würde ihnen auch die staatliche Einheit früher oder später zufallen, nach dem Muster von Matth. 6, 33 oder von Pichts Satz: "Nicht das Subjekt setzt sich die Aufgabe, sondern die Aufgabe konstituiert das Subjekt." (WVV, 337)
Natürlich war das Schwärmerei und mußte es anders kommen. Die Aufgabe stellt sich zwar nach wie vor, aber das Subjekt hat sich an ihr vorbei konstituiert, weshalb es auch nicht eigentlich Subjekt ist, sondern eher eine zufällige Machtzusammenballung. Ich habe daher während des Vereinigungsprozesses zuweilen einen solchen Ekel gegenüber der Politik empfunden, daß ich sie am liebsten aufgegeben hätte und wieder zur Theologie zurückgekehrt wäre. Ähnlich ist es aber vielen Engagierten, nicht nur Christen ergangen! War das nicht eine indirekte Bestätigung dafür, daß ich mit meiner Sondierung der Identität der Deutschen so unrecht nicht hatte? Da war auf der einen Seite das Machtgeschehen der Wiedervereinigung und auf der anderen Seite eine Intelligenz, die im Großen und Ganzen mit ihr nichts anfangen konnte oder sie geradezu ablehnte.
Ich habe mich jedoch gefragt, ob der Widerwille, den ich empfand, nicht vielleicht der alte deutsche Ekel vor der Politik überhaupt war, den etwa Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen so beredt zum Ausdruck gebracht hat? Dann war aber Vorsicht geboten! Denn dann erlag die Intelligenz womöglich wieder der alten Versuchung, sich der politischen Verantwortung zu entziehen und die Macht sich selbst zu überlassen, und der charakteristisch deutsche, gefährliche Widerspruch von Geist und Macht war wieder da! Daher habe ich ausgeharrt, die Einheit auch in dieser Form bejaht und als Aufforderung verstanden, die Identität weniger platonisch zu denken.
Nun hat die Intelligenz ihre Ablehnung bzw. ihr Desinteresse an der deutschen Einheit hauptsächlich mit der Größe der Schuld begründet, die die Deutschen durch den Zweiten Weltkrieg auf sich geladen haben. Aber selbst wenn wir die fragwürdige, monströse Kollektivschuldthese passieren lassen, so folgt aus ihr doch keineswegs, daß der Schuldige sich nun passiv treiben lassen und einer Fremdbestimmung unterwerfen muß! Denn wie, wenn eben darin ein Gutteil seiner Schuld bestanden hätte, er sie damit also nur in anderer Weise fortsetzte? Der Theologe Karl Barth hat schon 1945 betont, es ginge nicht um die Schuld als solche und um innere Zerknirschung, sondern um wirkliche Umkehr und die Begründung eigener Verantwortung für die Zukunft. Die Deutschen müßten lernen, ihre künftige Geschichte zu ihrer eigenen Geschichte zu machen, statt sich vom Lauf irgendeines Schicksals tragen zu lassen (Genesung, 62 f., 84). - Folgt darüberhinaus aus einer noch so großen Schuld, daß man sich zum Werkzeug von Mächten machen muß, die die Welt mit der totalen Vernichtung bedrohen? Ist das nicht eine ähnliche Todesverbundenheit, wie sie dem Nationalsozialismus eigen war? Woher nehmen deutsche Intellektuelle nur das Recht, sich selber von der deutschen Geschichte freizusprechen, zum Richter über sie aufzuwerfen und deren Ende zu proklamieren? Ist das nicht derselbe un- und endgeschichtliche Standpunkt, der die Deutschen gerade ins Verhängnis geführt hat, nur jetzt mit umgekehrtem Vorzeichen? Da war Thomas Mann, der seine Verstrickung in die deutsche Geschichte bekannte und es ablehnte, zwischen einem guten und einem bösen Deutschland zu trennen, wahrlich vernünftiger. Ich gestehe, daß ich einen anderen, aber nicht geringeren Widerwillen empfand gegenüber den Moralisten und Ästheten, die mit ihrer Fixierung auf die böse deutsche Vergangenheit diese nur verlängern, indem sie vor der Gegenwart und Zukunft sich drücken. Die progressive Intelligenz in Deutschland muß aufpassen, daß sie sich nicht in genau die politikferne Innerlichkeit hineinbegibt, die früher für die konservative kennzeichnend war!
Ich bilde mir nicht ein, daß der Gegensatz von Geist und Macht je überwunden werden könnte. Ich möchte nur, daß aus ihm eine fruchtbare Spannung wird und nicht wieder ein zerstörerischer Widerspruch. Mein Vorschlag ist daher, die Einheit als Chance oder zumindest als Faktum zu akzeptieren und nun endlich mit ihr etwas anzufangen, das Beste aus ihr zu machen! Was aber das Beste ist, worin deutsche Identität bestehen sollte, darüber muß zunächst diskutiert werden. Dies Buch möchte dazu anregen, indem es auf den Konziliaren Prozeß, die umfassendste freie Diskussion, die es in der DDR vor der Wende gegeben hat, zurückgreift. Es ist oft gefragt worden, was denn von der DDR bleiben wird, und kaum jemandem fiel etwas ein. Vielleicht ist es dieser ideelle Anstoß für die saturierte alte Bundesrepublik?
Ich erzähle in diesem Buch zuerst persönlich von der vielleicht tiefsten politischen Erfahrung meines Lebens, dem Herbstfrühling 1989 und seinem Ende. Ich habe damals nicht die Zeit gehabt, Tagebuch zu führen, so ist leider manches an Unmittelbarkeit des Eindrucks verlorengegangen. Ich berichte dann sachlich und polemisch - dem Gegenstand angemessen - aus der Sicht eines Abgeordneten von der Arbeit eines Parlaments, das die originelle Aufgabe hatte, sich selbst samt dem Gemeinwesen, dem es vorstand, möglichst rasch "abzuwickeln". Da es sich um den Vereinigungsprozeß handelt, wird hier der Abstand zu dem, was deutsche Identität sein könnte, deutlich. Sodann wechsle ich nochmals die Form und gehe zur Erörterung über. (Die Aufsätze sind zum Teil aus Vorträgen entstanden, die ich im letzten Jahr gehalten habe.) Im Anschluß an den Bericht über die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in der Volkskammer blicke ich zunächst auf die gemeinsame deutsche Vergangenheit zurück und zeige, wie der reine Geist der bloßen Macht nicht nur entgegengesetzt, sondern auch sehr nahe ist. Danach blicke ich auf die sowjetische Vergangenheit zurück, frage, warum sie eigentlich so plötzlich und unerwartet für alle abgeschlossen wurde und messe sie an den Kriterien Frieden, Gerechtigkeit, Schöpfungsbewahrung. Einen ähnlichen Chiliasmus, wie ich ihn als letzte Ursache des Scheiterns des russischen Sozialismus begreife, erkenne ich auch im siegreichen amerikanischen Liberalismus, und komme damit auf die durch ihn geprägte Gegenwart. Schließlich wende ich mich der Zukunft zu, erörtere die Bedingungen von Mündigkeit nach dem Scheitern des sogenannten realen Sozialismus, überlege, inwiefern die Sozialdemokratie durch dessen Zusammenbruch mitbetroffen und herausgefordert ist, und ende mit dem Aufsatz, auf den alles andere zuläuft und zu dem ich oben schon einführende Bemerkungen gemacht habe.
Ein herzliches Dankeschön sage ich dem KONTEXTverlag, der schon in der Zeit der SED-Herrschaft der Opposition eine begrenzte Öffentlichkeit ermöglicht hat, und ebenso Frau Fischer in Weimar, die mir gleichfalls schon in jener Zeit geholfen hat, Aufsätze in eine lesbare Form zu bringen.

Weimar, Dezember 1991

 

I
Der Demokratische Aufbruch

Die Geschichte des Demokratischen Aufbruch begann für mich, als mir Friedrich Schorlemmer Anfang Juni 1989 mitteilen ließ, daß für den Sommer ein Treffen geplant sei, auf dem etwas Wichtiges, über die bisherige Arbeit der Oppositionsgruppen Hinausgehendes, beschlossen wer den solle. Ich müsse unbedingt kommen, Zeitpunkt und Ort des Treffens würde ich noch erfahren.
Am 23./24. Juni fand in Berlin eine Tagung "Kirche und Gruppen" statt, zu der die Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen eingeladen hatte. Sie sollte zur Klärung des spannungsvollen Verhältnisses zwischen Kirche und Basisgruppen beitragen. Ich hielt auf dieser Tagung ein Referat und sagte, daß diese Spannung heute nicht mehr das entscheidende Problem sei, sondern daß es jetzt um den Freiraum der Gesellschaft gegenüber dem Parteistaat gehe. Dafür hätten sich beide einzusetzen, die Kirche, damit sie wahrhaft Kirche sein könne und nicht mehr von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben überfordert würde; die Gruppen, damit sie nicht Gruppen bleiben müßten, sondern sich als Keime einer zivilen Gesellschaft erweisen könnten. In einer Tagungspause sprach mich Rainer Eppelmann an und nannte mir Termin und Ort für das geplante Treffen. Es sollte sinnigerweise am 21. August, dem Tag des Einmarsches in die CSSR 1968, in einer Wohnung in Dresden stattfinden. Wolfgang Schnur würde auch dabei sein. Von Bärbel Bohley erfuhr ich am selben Tag, daß auch sie ein solches Treffen plante, und zwar für den 9./10. September in Grünheide. Weil ich um die persönlichen Antipathien zwischen ihr und Rainer Eppelmann wußte und der Meinung war, in dieser entscheidenden Situation müßten wir alle zusammengehen, habe ich darauf gedrungen, daß wir miteinander sprachen. So einigten wir uns, die Ergebnisse der beiden Treffen zurückzuhalten und damit erst am 1. Oktober gemeinsam an die Öffentlichkeit zu treten. Auf dem Heimweg sagte mir Bärbel allerdings wieder, sie könne mit Eppelmann und Schnur nicht zusammenarbeiten. Ich suchte ihr klarzumachen, daß persönliche Differenzen jetzt zurückgestellt werden müßten; sie dagegen war der Ansicht, die Differenzen seien nicht allein persönlicher Art und würden jetzt erst richtig hervortreten. Sie hat damit mehr als recht behalten. Ich habe in jener Zeit öfter beobachtet, wie sich in der politischen Auseinandersetzung Unterschiede zwischen Menschen ins Überdimensionale steigern.
Der 21. August war ein sehr heißer Tag. Ich war froh, daß Ehrhart Neubert mich im Auto nach Dresden mitnahm. In der Dresdner Wohnung kamen Eppelmann, Neubert, Pahnke, Schnur, Schorlemmer, Sell, Wagner und Welz zusammen. Allen war klar, daß die bisherige Arbeit der Gruppen und ihres Netzwerkes nicht mehr ausreichte. Sollte also eine Partei oder zunächst nur eine politische Vereinigung gegründet werden? Wenn die Gründung einer Partei in Frage kam, dann nur die einer sozialdemokratischen. Das wurde ernsthaft erwogen, aber schließlich als verfrüht verworfen. Gegen die Bildung einer Vereinigung gab es zudem nach Schnurs Auskunft weniger verfassungsrechtliche Bedenken. Wie sollte dann die Vereinigung heißen? Da es sich um eine Initiative zum öffentlichen Dialog handeln sollte - im Sinne des späteren Neuen Forum -, wurde der Name "Dialog" vorgeschlagen. Der erschien uns aber als zu wenig zündend, und so einigten wir uns auf "Demokratischer Aufbruch" mit dem Zusatz "sozial und ökologisch". Auf die Ökologie legte besonders Friedrich Schorlemmer viel Wert. Das Wort "sozialistisch" wollten wir ausdrücklich vermeiden, weil es nach unserer Meinung durch den "real existierenden" Sozialismus in Mißkredit geraten war. Schnur wurde damit beauftragt, ein Statut auszuarbeiten, ich sollte ein Programm entwerfen. Zur Programmatik gab es allerdings nicht eigentlich eine Diskussion, sondern nur eine Art Ideenkonferenz. War im Grunde alles klar, oder war eine klare Orientierung gar nicht so wichtig?
Mir fiel schon damals auf, daß Schnur und Eppelmann inhaltlich wenig einzubringen hatten. Offenbar fühlten sie sich mehr für die Organisation (und die Machtverteilung) zuständig. Rainer Eppelmann hatte sich vor nicht allzu langer Zeit im Fernsehen mit CDU-Vertretern präsentiert. Ich wies ihn darauf hin, daß er, nachdem sich jetzt unsere politische Orientierung abzeichnete, mit solchen Auftritten vorsichtig sein müsse. Seine Antwort: Er habe keine ideologischen Vorurteile und lasse es sich nicht nehmen, mit allen zu reden. Das wollte ihm auch niemand nehmen, er sollte sich nur an die vereinbarten Prinzipien halten! Vieles von dem, was sich später in der politischen Szene abspielte, war in dieser Anfangszeit schon im Keim vorhanden. Nur daß Schnur für die Stasi arbeitete, hätte keiner gedacht: Redlichkeit und Liebenswürdigkeit schienen gerade ihn auszuzeichnen! Ich erinnere mich, daß wir die üblichen Schwierigkeiten hatten, an einem so heißen Tag noch etwas zu trinken zu bekommen. Wolfgang Schnur fuhr mit uns geduldig umher bis zum Neustädter Bahnhof, wo wir endlich Wein bekamen. Und er bezahlte für alle.
Die erste größere öffentliche Versammlung war - wie mit Bärbel Bohley abgesprochen - für den 1. Oktober in Berlin vorgesehen; allerdings in Eppelmanns Samariterkirche, was mich befürchten ließ, Bärbels Gruppe würde sich daran doch nicht beteiligen. Bis dahin sollte jeder von uns zehn Leute, die er persönlich gut kannte, für den Demokratischen Aufbruch gewinnen, um der Sicherheit willen aber auf keinen Fall ganze Gruppen ansprechen. Es fiel mir nicht schwer, in den Thüringer Basisgruppen engagierte Leute zu finden, zumal Ende August eine Vorbereitungssitzung für deren traditionelles Herbsttreffen stattfand. Schwer fiel es mir jedoch, den Programmentwurf fertigzustellen, zum einen, weil ich bis zum 1. September mein Deutschlandbuch zu Ende bringen mußte, zum anderen, weil ich an diesem Tag ins "nichtsozialistische Ausland" reisen durfte, und zwar mit ausschweifender Hin und Rückfahrt zwölf Tage!
Die Reise ging zu den tapferen Waldensern nach Norditalien, die das 300jährige Jubiläum ihrer Rückkehr in die Heimat feierten und aus diesem Anlaß eine historische Konferenz veranstalteten. So interessant der Stoff war, ich saß in den Vorlesungen wie auf Kohlen, und auch für die herrliche Landschaft hatte ich kaum einen Blick. Ich wollte auf der Rückreise in der Bundesrepublik Station machen und unbedingt mit Freunden und Politikern über unsere Pläne reden. Einen Freund in Bremen hatte ich sofort alarmiert, und er verabredete für die drei Tage, die mir nach der Konferenz noch blieben, schon die Termine. Endlich war es soweit: In Köln hatte ich ein Gespräch mit Mitgliedern des Bundesvorstands der Grünen. Auf meine Darstellung unserer Ziele reagierten sie u.a. mit der Bemerkung: "Ach, bloß die Grundrechte wollt ihr!" Nun hatte ich in der Tat auf die innenpolitischen Veränderungen besonderes Gewicht gelegt, aber mußte das denn nicht einleuchtend sein für denjenigen, der sich ein wenig in unsere Situation hineinversetzte? Diese mangelnde Sensibilität für die - auch in ökonomischer Hinsicht - völlig andere Lage der Menschen in der DDR ist es gewesen, die den Grünen bei den Wahlen 1990 so geschadet hat. Im Gespräch mit Vertretern der SPD in Bonn stellte ich direkt die Frage, wie sie über eine Neugründung der Partei in der DDR denken würden. Dies sei eine zu starke Brüskierung der SED, antworteten sie, wir sollten besser nur eine Vereinigung ins Leben rufen; so ähnlich hatten wir ja auch gedacht. Ein anderes Argument war seltsamerweise, eine sozialdemokratische Partei könne unter illegalen Bedingungen nicht arbeiten! Aber hatte die Sozialdemokratie unter Bismarcks Sozialistengesetz nicht ausgezeichnet gearbeitet?
Am 11. September - ich wohnte bei Freunden in Köln - hörte ich, daß sich in der DDR eine Initiativgruppe "Neues Forum" gebildet habe, die den öffentlichen Dialog über die Widersprüche im Lande forderte. Ich schaute in meinen Kalender und stellte fest, daß dies nur die Gruppe um Bärbel sein konnte, die sich ja am 9./10. September in Grünheide treffen wollte. Also hatte sich Bärbel nicht an unsere Abmachung gehalten! Ich war erbost, rief mehrmals bei ihr an, erreichte aber nur ihren Sohn, der berichtete, daß Autos vom Staatssicherheitsdienst vorm Haus stünden. Als mir Ehrhart Neubert am Telefon bestätigte, daß es keine Information von Bärbel an uns gegeben habe, entschloß ich mich, nun im Namen des Demokratischen Aufbruch auch an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich mußte es auf eigene Faust tun, konnte es mit den Freunden nicht absprechen, weil die Telefongespräche ja abgehört wurden. Um meine Rückkehr nicht zu gefährden, bat ich den Journalisten, dem ich ein Interview gegeben hatte, die Meldung erst nach dem 13. September herauszubringen.
So begann das Wettrennen zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen, das die ganze Zeit der Umwälzung über anhielt und wohl für politisches Handeln überhaupt charakteristisch ist: Wer ist zuerst, am häufigsten und am eindrücklichsten in den Medien? Das war die wichtigste Frage, nicht die der politischen Inhalte, die sich am Anfang ohnehin sehr ähnlich waren. Da ich nun einmal in die Medien vorgedrungen war, hatte ich nach meiner Rückkehr des öfteren Interviews zu geben. Daß mein "Bekanntheitsgrad" stieg (ein Begriff, der damals noch nicht zu meinem Wortschatz gehörte), war eine ganz neue Erfahrung, aber es war mir recht, weil es der Werbung für den "Demokratischen Aufbruch" zugute kam.
Der Grad der Politisierung der Bevölkerung bzw. der Auflösung des Systems wurde mir daran deutlich, daß die Leute ohne Angst bei mir anriefen oder mir schrieben, sie wollten beim Demokratischen Aufbruch mitmachen. Die Geschichte kam jetzt so ins Rollen, daß ich bald keinen freien Abend mehr hatte. Und ich mußte doch den Programmentwurf fertigstellen! Nach einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie am 16. September in Halle, auf der ich ein Referat gehalten hatte, warf ich mir zum ersten Mal vor, daß ich die Aufgeschlossenheit der Menschen nicht sofort genutzt und sie in großer Zahl für den Demokratischen Aufbruch geworben hatte. (Der Kreisverband Halle war später einer der schwächsten.)
Am 20. September fand in Weimar in einem kirchlichen Heim der erste Informationsabend über die neuen Gruppen statt. Zu unserer Überraschung war der Saal total überfüllt! Ich stellte die Aufrufe von Neuem Forum, "Demokratie Jetzt", SDP und Demokratischem Aufbruch brav der Reihe nach vor, in der naiven Hoffnung, daß sie sich ohnehin bald zusammentun würden, um die von allen angestrebte Veränderung herbeizuführen. Ich wurde auch später immer wieder gefragt, warum es denn so viele verschiedene Gruppierungen gebe, da es doch im Grunde um eine Sache ginge. Ich konnte nur - mit schlechtem Gewissen - darauf verweisen, daß wir die Pluralität, die wir anstrebten, eben jetzt schon vorwegnähmen. Der Andrang der Leute ermutigte uns, für die nächste Zeit eine große Gemeindeveranstaltung zum selben Thema in der Weimarer Herderkirche zu planen.
Am 23. September hatte ich endlich den Programmentwurf fertig. Am 24. September fuhr ich zu einem Treffen von Vertretern der oppositionellen Gruppen nach Leipzig, das der wechselseitigen Verständigung dienen sollte. Es kam aber zu keiner Verständigung. Die Organisationskonzepte und letztlich die Demokratiebegriffe wichen zu stark voneinander ab: Das Neue Forum wollte lediglich Dialogplattform bzw. basisdemokratische Bewegung sein und wehrte sich gegen jede Struktur; die SDP dagegen betonte ihren Parteicharakter und das Ziel der repräsentativen Demokratie; zwischen beiden standen "Demokratie Jetzt" und Demokratischer Aufbruch und schienen mir damals noch am ehesten vereinbar. Auch die Gespräche mit Bärbel Bohley und Martin Gutzeit führten nicht weiter: Bärbel wollte von Programmatik nichts wissen, sondern alles der Spontaneität der Basis überlassen, und das hieß für mich: ihrer eigenen Spontaneität. Martin Gutzeit gab sich wie immer siegessicher, so als wüßte er etwas, was sonst niemand weiß. Für ihn schien die ganze Umwälzung nur ein strategisches Spiel zu sein. Immerhin konnte ich ihm meinen Programmentwurf mitgeben, sodaß er sicher und schnell zu den Freunden nach Berlin gelangte.
Am 26. September begann in Erfurt die Wende. Im Kapitelsaal des Augustinerklosters sollten sich die neuen politischen Gruppierungen zum ersten Mal vorstellen, und ich sollte die Ziele des Demokratischen Aufbruch erläutern. Kurz vor dem angesetzten Termin kam ich an - und fand den Kapitelsaal dunkel und leer. Also doch wieder die alte Erfahrung mit den DDR-Bürgern: Sie kommen nicht "aus der Knete"! Warum hatten wir auch keine Einladungen verschickt und keine Plakate ausgehängt! Ich suchte nach den Organisatoren der Veranstaltung, da sah ich, daß die Kirche erleuchtet war und am Eingang sich die Leute drängten. Die Versammlung hatte in die Kirche verlegt werden müssen, weil über 1000 Menschen gekommen waren! Ich war überwältigt. Jetzt wußte ich, daß endlich das begann, worauf wir jahrelang gewartet hatten. Zugleich war ich irritiert und hatte Angst vor diesen Menschenmassen und vor dem, was womöglich auf uns alle zukam. Aber es war keine Zeit, weder für meine Freude noch für meine Angst; ich mußte sagen, was der Demokratische Aufbruch wollte.
Er wollte in innenpolitischer Hinsicht, daß die SED ihre "führende Rolle" aufgibt, Öffentlichkeit hergestellt wird, über eine Pluralität von Parteien und Vereinigungen freie Willensbildung möglich wird, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung durchgesetzt werden. Er wollte in ökonomischer Hinsicht, daß an die Stelle der Fiktion des Volkseigentums Formen von realverantwortlichem Eigentums treten, daß die Realität des Marktes anerkannt wird und daß die Gesellschaft selber (nicht mehr der Parteistaat) zwischen ökonomischer Effektivität einerseits und sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit andererseits den Ausgleich herstellt. Er wollte in außenpolitischer Hinsicht den Anschluß der DDR an die europäische Entwicklung, die Einheit Deutschlands, seine Blockfreiheit, weitestgehende Abrüstung und den Einsatz der damit freiwerdenden Mittel für die Zweidrittelwelt.
Ziehe ich heute Bilanz, so könnte ich eigentlich zufrieden sein: Manche der genannten Ziele sind geradezu pünktlich erfüllt, manche sind auf dem Wege der Erfüllung. Daß aber manches auch ganz anders kam als gedacht, braucht denjenigen, der sich mit der menschli chen Geschichte ein bißchen bekannt gemacht hat, doch nicht zu verwundern! Warum nur ist die Zeit nach jenem Herbst für mich vorwiegend eine Zeit der Ernüchterung gewesen? Ich komme auf die Frage zurück.
Matthias Büchner, der spätere Stasi-Auflöser, stellte das Neue Forum vor, d.h. er verlas den Aufruf vom 11. September, der mich nun schon langweilte. Ich muß gestehen, daß ich damals das Neue Forum als Konkurrenzunternehmen erlebte. Seine lautstarke Präsenz in den Medien schien mir inhaltlich nicht wirklich begründet, und als am Ende der Veranstaltung seine Vertreter flink Unterschriften für ihren Aufruf sammelten, die zugleich als Bereitschaftserklärungen zur Mitarbeit galten, empfand ich das als unlauteren Wettbewerb. Ich hatte keine entsprechenden Papierbögen mitgebracht und mußte nun zusehen, wie dem Demokratischen Aufbruch die Leute weggeschnappt wurden. Wie wichtig solche Tricks im politischen Geschäft sind, hatte ich noch nicht begriffen.
Von den Fragen, die uns aus der Menge gestellt wurden, sind mir einige noch in Erinnerung, weil sie bei den folgenden Veranstaltungen immer wiederkehrten: Wird die Staatsmacht nicht wie in China zur Gewalt greifen? Ich antwortete, daß das in Mitteleuropa und angesichts der Ausreisewelle so nicht möglich sei. Oder: Warum ich jetzt die nationale Frage anschneiden würde? Ich antwortete, daß sie sich mit Sicherheit stellen werde und daß wir sie nicht den Rechten überlassen dürften. - Hätten die Linken das nur rechtzeitig begriffen!
In den Tagen danach begann die Menge der Anrufe und Briefe so anzuschwellen, daß ich über ein Büro hätte verfügen müssen, um sie zu bewältigen. Ich nutzte vormittags die Pausen zwischen dem Unterricht in der Predigerschule, um mit den Leuten zu sprechen, oder sie kamen nachmittags zu mir nach Weimar. Eines Mannes, der mich damals besuchte, erinnere ich mich mit besonderer Dankbarkeit: Hans-Walter Becker, Dipl.-Ing. in Weimar. Er wurde für mich geradezu die Verkörperung der Herbstrevolution. Als er zu mir kam, sagte er gleich, daß er das Visum nach Ungarn noch in der Tasche habe. Er besäße alles, was ein DDR-Bürger erreichen könne: Häuschen, Garten mit Swimmingpool, zwei Autos. Trotzdem hätte er die Schnauze voll gehabt und wollte verschwinden. Jetzt sehe es jedoch so aus, als ob sich bei uns wirklich etwas bewege. Deshalb habe er es sich anders überlegt und wolle sich engagieren. Ich müsse doch jetzt sicher viel umherfahren: Wenn ich ein Auto brauchte - er stünde mir jederzeit zur Verfügung. Und so war es dann auch. Ohne Hans und sein Auto hätte ich die vielen Termine der nächsten Wochen nicht wahrnehmen können. Und ohne die Gespräche mit ihm im Auto hätte ich nicht das Gefühl gehabt, den Menschen so nahe zu sein. Als er und seine Frau die ersten Veranstaltungen mitgemacht hatten, sprachen sie offen aus, wie froh sie seien, das zu erleben: "Was haben wir bei allem Wohlstand doch bisher für ein beschränktes Leben geführt!" Als der Parteisekretär des Betriebes bei einer Versammlung davon sprach, unter den Dächern der Kirche würden sich jetzt Staatsfeinde und Kriminelle zusammenrotten, da stand Hans auf und verlangte, er solle diese Behauptung zurücknehmen; er selber gehöre zu denen, die sich unter den Dächern der Kirche "zusammenrotten". Als Hans daraufhin vor den Direktor geladen und schließlich gefragt wurde, ob er die führende Rolle der Partei überhaupt anerkenne, da antwortete er kurz und bündig: "Natürlich, wenn sie sich freien Wahlen gestellt hat." Später, als der Demokratische Aufbruch sich in Weimar konstituiert hatte, lehnte er es ab, irgendeinen Posten zu übernehmen: Er werde aber immer da sein, wenn er für eine konkrete Aufgabe gebraucht werde. So hat er bei der Stasi-Auflösung in Weimar und Erfurt energisch mitgewirkt, einen Betriebsrat mit auf die Beine gestellt, sich für die Einschränkung der Hubschrauberflüge der Roten Armee über Weimar eingesetzt usw. Wenn ich ihn im letzten Jahr sprach, dann bekam er allerdings geradezu cholerische Anfälle wegen der noch immer frei herumlaufenden Stasi-Offiziere, der Seilschaften in den Betrieben und der anderen Schweinereien, von denen er reichlich zu berichten wußte.
Am 29. September erhielt ich eine dringende "Vorladung" zum Rat der Stadt Weimar für abends 18.00 Uhr, ohne Hinweis darauf, worum es gehen sollte. Nach einer beträchtlichen Wartezeit erschien Herr Beuthe, Stadtrat für Inneres in Erfurt und Stasi-Offizier, und fragte mich: "Na, wie geht es Ihnen denn, Herr Richter?" Ich antwortete nichtsahnend: "Ganz gut". Er darauf: "Na also, wenn es Ihnen gut geht, was wollen sie denn da eigentlich?" Er eröffnete mir dann, den Staatsorganen sei bekannt geworden, daß am 1. Oktober in Berlin das Treffen einer illegalen Vereinigung stattfinden solle. Mir werde hiermit dringend empfohlen, in den nächsten Tagen nicht nach Berlin zu fahren. Auf meinen Versuch, mit ihm zu diskutieren, ging er nicht ein und erklärte das Gespräch für beendet.
Am folgenden Tag fand das traditionelle Treffen der Thüringer Basisgruppen hinter den Mauern des Sophienkrankenhauses in Weimar statt. (Wie immer hatte es große Schwierigkeiten bereitet, von den ängstlichen Kirchgemeinden einen passenden Raum zu bekommen.) Es sollte ursprünglich unter dem Thema stehen "40 Jahre DDR - Max braucht Wasser!" und in einer fiktiven "Tagung der neu zusammengesetzten Volkskammer 1991"(!) gipfeln. Die Kirchenleitung hatte uns jedoch nahegelegt, solche bösartigen Provokationen zu unterlassen. Dennoch gab ich - "ohn' einige Bemäntelung und Gleißnerei" - einen Rückblick auf die letzten 40 Jahre; zwei andere Teilnehmer sprachen über Methoden zivilen Widerstands; schließlich wurde ein Brief an die Regierung verabschiedet, der die überfällige Demokratisierung einforderte. In der Pause versuchte ich krampfhaft jemanden zu finden, der der Stasi bisher noch nicht verdächtig geworden war und meinen vervielfältigten Programmentwurf nach Berlin bringen könnte - falls man mich tatsächlich nicht fahren lassen würde. Ich fand niemanden! Natürlich war ich entschlossen zu fahren, aber in der Nähe des Sophienkrankenhauses hatten Kenner schon ein Stasi-Auto entdeckt. So nahm ich nur einen Teil der Exemplare mit, und eine der Teilnehmerinnen fuhr mich zum Bahnhof. Als wir das Stasi-Auto hinter uns sahen, versuchte ich ihr noch einen Teil meiner Papiere aufzuschwatzen, aber nun hatte sie doch Angst, und ich behielt meine allzuvolle Tasche. Ich traf mich mit Angelika, einer Studentin aus Erfurt, die schon immer Mut bewiesen hatte, und wir gingen unbehelligt zum Bahnsteig. Doch genau in dem Moment, als der Zug einfuhr, traten wie aus einem Kriminalfilm zwei Herren auf mich zu und baten mich mitzukommen. Das war nun eine wirklich neue Situation in meinem Leben. Angst hatte ich nicht. Ich trat gewissermaßen neben mich und schaute zu, was sich da ereignete und wie ich meine Rolle spielte. Der gewaltige Machtapparat war ja auch - wie sich ein paar Wochen später herausstellte - schon gar keine Realität mehr.
Am Ausgang des Bahnhofs sah ich glücklicherweise ein Mädchen, das vom Basisgruppentreffen abreiste, und es sah mich in Begleitung der zwei Herren, so daß ich davon ausgehen konnte, meine Verhaftung (oder "Zuführung") sei registriert. Die Herren standen mit mir ziemlich lange in der Nähe des Bahnhofs herum, weshalb ich mir die Frage erlaubte, was das zu bedeuten habe. Der eine der Kriminalbeamten - als solche hatten sie sich ausgewiesen, nicht als Stasi-Leute - antwortete: "Wir haben ja jetzt Zeit", was offenbar ironisch gemeint war. Wiederum eine lange Zeit saß ich dann im VP-Kreisamt, ohne daß etwas passierte. Inzwischen wurde es mir doch unheimlich. Besonders machte ich mir Sorgen um meine Tasche, in der ja auch alle wichtigen Adressen zu finden waren. Ich verlangte, meine Familie und meine kirchlichen Vorgesetzten anrufen zu dürfen. Das sei nicht nötig, hieß es. Nach mehr als einer Stunde wurde ich wieder aufgefordert mitzukommen, wir stiegen in ein anderes Auto und fuhren nach Erfurt. Jetzt ahnte ich, wohin es gehen sollte: in die Bezirkszentrale des Staatssicherheitsdienstes! Wir fuhren jedoch zum Rathaus, was mich sehr erleichterte. Dort wartete ich nochmals. Ich fragte mich nun schon, ob das psychologische Methode sei oder nur die übliche Schlamperei in der Organisation. Schließlich wurde ich in ein Zimmer gebeten und - welch freudiges Wiedersehen - von Herrn Beuthe begrüßt mit den Worten: "Na, Herr Richter, da wollen wir mal den Dialog von gestern abend fortsetzen!" Von einem Dialog konnte freilich keine Rede sein, aber ein Verhör war die Unterredung auch nicht. Wahrscheinlich erübrigte sich ein Verhör, weil man durch Schnur ohnehin ausreichend informiert war. Jedenfalls dauerte das Gespräch etwa drei Stunden, und der Stasi-Mann schien - soweit ihm das möglich war - ehrlich bemüht zu verstehen, was wir wollten, und zu hören, was Partei und Staat denn falsch gemacht hätten. Ich ließ mich - durch die vielen Gespräche beim Rat des Kreises seit Anfang der achtziger Jahre geübt - auf den zwischenmenschlichen Ton ein, obwohl ich mir immer vorgenommen hatte, mit Stasi-Leuten überhaupt nicht zu reden. Aber der Stadtrat hatte sich ja nicht als solcher offenbart. Im nachhinein stellt es sich mir fast so dar, als habe das MfS schon um die Aussichtslosigkeit seines Tuns gewußt und sich ein möglichst schmerzfreies Ende verschaffen wollen. Vielleicht ist das eine überzogene Deutung, aber daß es Verunsicherung, Erweichung, eine Art Liberalisierung bei ihm gab, kann diese Geschichte belegen. Andererseits gab es das hohle, mechanische Weitermachen bis zur völligen Absurdität, von dem ich noch berichten werde. Zum Abschied legte mir Herr Beuthe noch einmal ans Herz, ja nicht nach Berlin zu fahren, und ich wurde gegen Mitternacht wieder nach Weimar zurückgebracht. Meine Frau war sehr erleichtert, denn sie hatte zwar erfahren, daß ich abgeholt worden war, hatte auch Propst Falcke schon informiert, aber trotz intensiver Nachfrage bei der Volkspolizei nicht herausbekommen können, wo ich denn steckte.
So konnte ich an der Gründungsversammlung des Demokratischen Aufbruch nicht teilnehmen. Denn daß das "Berlin-Verbot" ernstgemeint war, wurde uns am nächsten Morgen noch einmal deutlich, als wir sowohl vor unserem Haus als auch in den Seitenstraßen je einen Stasi-Wagen stehen sahen. Nun machte meine Frau mit ihrer Freundin den Versuch, mit dem Auto nach Berlin zu gelangen, und ich wartete den Sonntag über einigermaßen gespannt, ob sie wohl heil zurückkommen würde. Am Nachmittag erfuhr ich allerdings durch einen Anruf von Ehrhart Neubert, daß das Treffen in der Samariterkirche von der Polizei verhindert worden war, und daß zwei versprengte Häuflein getrennt in Wohnungen tagten, die jedoch von der Stasi abgesperrt waren. Zu einem Zusammengehen mit dem Neuen Forum war es nicht gekommen. Also waren unsere Pläne von Juni und August gescheitert. Meine Frau, die immerhin nach Berlin gelangt war und spät in der Nacht auch unbehelligt wiederkehrte, hatte sowohl vor der Samariterkirche als auch vor Neuberts Haus als auch vor dem Gemeindehaus in Pankow, wo Leute vom DA tagten, ein überproportionales Polizeiaufgebot vorgefunden und war nirgends hineingelassen worden. Allerdings hatte sie Wolfgang Schnur getroffen, der als Rechtsanwalt (bzw. als Stasi-Agent) überall Zugang hatte, und von ihm die ersten Papiere mitgebracht. An den Tagen darauf erzählten mir dann andere aus Thüringen, wie es ihnen in Berlin ergangen war.
Freilich waren Besuche bei mir jetzt dadurch erschwert, daß die Stasi unser Haus weiterhin überwachte. Wer kam, mußte damit rechnen, registriert zu werden. Ich war in dieser schwierigen Situation sehr dankbar dafür, daß immer wieder Freunde bei mir anriefen und mich ihrer Verbundenheit versicherten, zumal das bei Freunden aus dem Ausland zugleich einen Schutz vor weiteren Übergriffen der Stasi darstellte. Nach ein paar Tagen hatten wir uns an die ständige Gegenwart der armen Männer in den Autos so gewöhnt, daß unsere Töchter sie schon zum Kaffee einladen wollten!. Die Überwacher begleiteten mich fürsorglich auf allen meinen Wegen. Und der Wege waren bei mir noch nie so viele gewesen! Fuhr ich nach Erfurt in die Predigerschule, in die Gemeinde, zum Konvent oder zu einer anderen Versammlung - sie waren dabei. Ging oder fuhr ich gar zu einer politischen Veranstaltung, so waren sie in ihrem Eifer gar nicht mehr zu übertreffen. Als ich am 6. Oktober nach Saal-feld fuhr, um in der Stadtkirche meine Gedanken über die notwendigen Veränderungen im Lande vorzutragen, wurde ich gleich von zwei Stasi-Wagen verfolgt. In Saalfeld angekommen, erfuhr ich, daß wegen der Unruhe in der Stadt die Kampfgruppen mobilisiert worden seien. In der Tat war die Kirche brechend voll und die Atmosphäre gespannt, aber die Menschen waren so friedfertig, daß es nicht einmal zu einer Demonstration und so auch zu keinen Zwischenfällen kam. Als ich am 7. Oktober, dem "Nationalfeiertag" der DDR, nach Karl-Marx-Stadt fuhr, um in der Studentengemeinde einen Vortrag über Christentum und Demokratie zu halten, begleiteten uns sogar Limousinen bis fast vor die Tür! Wir fühlten uns "geehrt", die Studenten sprachen von einem "Staatsbesuch" und gingen, als ich wieder abfuhr, mit hinaus, um zu winken! Hans, ein leidenschaftlicher Autofahrer, hatte große Lust, alle drei Autos "abzuhängen". Später gestand er mir allerdings, daß die Angst doch größer war als die Lust. Jedenfalls mußten wir am Abend desselben Tages noch nach Erfurt zu einer Bürgerversammlung in die Kaufmannskirche. Diesmal waren so viele gekommen, daß aus einer Veranstaltung zwei gemacht werden mußten und zum ersten Mal die Meinung laut wurde, wir seien lange genug in der Kirche geblieben und sollten endlich nach dem Leipziger Vorbild auf die Straße gehen.
Noch vor dem "Tag der Republik", am 4. Oktober, fand in der Weimarer Herderkirche die geplante Veranstaltung der neuen oppositionellen Gruppen statt. Ein historisches Datum für die Stadt, das keiner, der dabei war, vergessen wird! In Erfurt, das zur Kirchenprovinz Sachsen gehört, hatte das Evangelische Ministerium (die kollektive Kirchenleitung) schon am 25. September beschlossen, den neuen Gruppierungen in den Kirchen Gastrecht zu gewähren, solange der Staat ihnen keine Räume zur Verfügung stellte. In Thüringen dagegen mußten derartige Veranstaltungen noch den Charakter von Gemeindeabenden mit Bibelwort und Gebet haben. (Die Thüringer Landeskirche war immer etwas frömmelnd, ängstlich und opportunistisch.) So bekam der Abend in Weimar das Thema "Suchet der Stadt Bestes", was nicht nur unbeholfen wirkte, sondern geradezu schief, weil genau dieses Wort des Propheten Jeremia der CDU von jeher zur Rechtfertigung ihrer Blockpolitik gedient hatte. - Als wir, meine Familie und ich samt Stasi-Begleitung, in die Nähe der Kirche kamen, begegneten wir wieder einem absurden Aufgebot von Sicherheitskräften: Um den ganzen Platz herum standen Einsatzwagen und Polizisten mit Hunden. Ich schaute gar nicht genauer hin. Wir fürchteten schon, nicht durchgelassen zu werden. Das Problem war aber, noch in die Kirche hineinzukommen, denn sie war schon überfüllt, und an den Eingängen drängten sich die Menschen. Es waren so viele, daß die Türen geschlossen und die Veranstaltung am nächsten Tag wiederholt werden mußte. Das Programm des Abends war denkbar einfach: Nach einem geistlichen Wort, das nicht nur wie eine Pflichtübung wirkte, wurden die Aufrufe von Neuem Forum, "Demokratie Jetzt", Demokratischem Aufbruch, SDP, der Berliner Schriftsteller u.a. vorgetragen und mit (mehr oder weniger) starkem Beifall bedacht. Dann wurde ein Brief der Vorbereitungsgruppe an den Rat des Bezirkes Erfurt verlesen, diskutiert und verabschiedet. Schließlich benannten die Initiatoren Arbeitskreise zu allen wichtigen Bereichen der Veränderung und riefen zur Teilnahme auf. Und die Leute machten mit! Als der Arbeitskreis "Bildungsfragen" das erste Mal tagte, kamen über 200 Menschen! Und sie konnten plötzlich reden, ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken, wie man es nicht für möglich gehalten hätte! Und sie opferten ihre freie Zeit bis in die Nacht hinein, um Lösungsvorschläge auszuarbeiten, Vorschläge, für die sich heute kaum noch jemand interessiert. Wir dürfen diesen Oktoberfrühling nicht vergessen, so groß die Ernüchterung auch war, die auf ihn folgte!
In den folgenden Wochen fanden in allen größeren Städten Thüringens und der ganzen DDR ähnliche Veranstaltungen statt; in ihnen und den vielen Arbeitskreisen hat sich die eigentliche Revolution ereignet: der Aufbruch zur Mündigkeit und zu neuen Inhalten. Davon hat das Fernsehen jedoch kaum Notiz genommen, es hat nur immer die Massendemonstrationen in Leipzig, das Zuschlagen der Polizei in Berlin und ähnliches ins Bild gebracht. Sicher war der Spielraum für die Arbeit der Reporter damals noch sehr eng, aber hätten sie die hier eröffnete Dimension erfaßt, wenn er weiter gewesen wäre? Die Medien haben uns ohne Zweifel viel geholfen; sie haben sich jedoch zugleich in ihrer ganzen Zwiespältigkeit offenbart.
Es war überall dieselbe überwältigende Erfahrung, ob in Jena (15.10.), in Rudolstadt (19.10.), in Ilmenau (20.10.) oder in Gera (22.10.). In Jena trat in der Diskussion u.a. ein Dozent für Marxismus-Leninismus auf, den ich schon von früheren Gesprächen kannte. Er war einer derjenigen, die sich auf die Auseinandersetzung mit der Theologie spezialisiert hatten und von der Partei immer vorgeschickt wurden, wenn wir in der Kirche jemanden zum "Dialog" suchten. Er hatte tatsächlich an der Theologie Interesse gewonnen und war ein sehr aufgeschlossener und gutwilliger Mensch. Das wirkte sich bei Diskussionen in der Studentengemeinde so aus, daß er allen Kritikern von vornherein den Wind aus den Segeln nahm, indem er (fast) alles, was an Beschwerden vorgebracht wurde oder werden sollte, schon selber nannte oder ohne weiteres als berechtigt anerkannte. Praktische Folgen hatte das natürlich nicht. Auch jetzt sprach er sich selbstverständlich für die Anerkennung der oppositionellen Gruppen und für radikale Reformen aus und erntete viel Beifall. Aber inzwischen wirkte das geradezu tragisch, und ich empfand Mitleid mit ihm. Denn jetzt war ihm der Wind aus den Segeln genommen, weil sich tatsächlich etwas änderte. Andererseits wurde mir in Jena ein Papier zugesteckt, das dortige Staatswissenschaftler über die neuen Vereinigungen verfaßt hatten und in dem der Demokratische Aufbruch als besonders gefährlich eingestuft war. - Auch in Rudolstadt mußte die Veranstaltung noch am selben Abend wiederholt werden. Dabei hatten einige, die warten mußten, sich offenbar in einer Kneipe aufgewärmt. Denn bei der zweiten Veranstaltung trat in der Diskussion ein Redner ans Mikrophon und löste mit einem einzigen Satz Heiterkeit aus: "Mich schimpfen de Leute immer en Säufer - und unser neuer Generalsekretär?" (Am 18. Oktober war Krenz an Honeckers Stelle getreten.) In Gera waren die Erfahrungen der anderen Städte schon genutzt worden: Die Versammlung fand gleichzeitig in zwei Kirchen statt, die Vertreter der Gruppierungen sprachen im Wechsel und wurden zügig von der einen zur anderen Kirche gefahren.
Meine letzte direkte Begegnung mit der Stasi hatte ich am 11. Oktober. Ich war mit dem Zug nach Erfurt zu einer Dienstbesprechung gefahren, und wie üblich hatten mich zwei dieser Herren begleitet. In der Post am Bahnhof wollte ich ein (politisch harmloses) Telegramm aufgeben. Als ich das Formular ausfüllte, stellte sich einer der Herren neben mich, nahm ebenfalls ein Formular und schrieb meinen Text mit! Das war mir nun doch zuviel an Aufdringlichkeit. Ziemlich ungehalten fragte ich ihn: "Sagen Sie mal, ist das nicht eigenartig, daß Sie das gleiche Telegramm, das ich aufgebe, noch einmal aufgeben wollen?" Er stammelte einigermaßen erschrocken: "Ich kann schreiben, was ich will, das geht Sie gar nichts an!", verließ aber sofort die Schalterhalle. Am Abend waren die Stasi-Wagen aus unserer Straße verschwunden. Es war der Tag, an dem das Politbüro seine Bereitschaft zum "Dialog" mit der Bevölkerung erklärt hatte.
Vom 23.-26. Oktober fand auf Burg Bodenstein ein lange schon geplanter Klausurkonvent der Erfurter Pfarrer zum Thema "Demokratie und Sozialismus" statt. Ich hatte im Juli versucht, für diesen Konvent den Berliner Staatswissenschaftler Uwe-Jens Heuer als Referenten zu gewinnen. Das war insofern ein Vorstoß, als es sich nicht um einen der bekannten Spezialisten für den sogenannten marxistisch-christlichen Dialog handelte, der inzwischen etwas abgestanden wirkte, sondern um einen Fachmann auf dem Gebiet, um das es uns eigentlich ging. Er war mir durch Veröffentlichungen schon in den siebziger Jahren als ein kritischer Mann aufgefallen. Als ich Anfang Juli das erste Mal bei ihm anfragte, bat er mich, in zwei Wochen noch einmal anzurufen. Ich verstand: Er mußte seine Parteioberen fragen, ob er zu uns kommen dürfe. Als ich nach vierzehn Tagen wieder anrief, erhielt ich die Auskunft, er könne im Oktober nicht kommen, wir sollten uns bitte bis zum Frühjahr gedulden! Wer hätte damals gedacht, daß schon im Oktober wohl auch sein Referat abgestanden gewirkt hätte? Im Frühjahr traf ich Professor Heuer in der neugewählten Volkskammer als Abgeordneten der PDS wieder und erinnerte ihn an seine Zusage: Er brauchte sie nun nicht mehr einzuhalten, denn sie gehörte einer vergangenen Epoche an. - Unsere Klausur wurde schon am zweiten Tag durch die Meldung unterbrochen, die Erfurter Oberbürgermeisterin lade zu einer öffentlichen Diskussion ins Rathaus ein. Wir schickten eine Delegation. Die Vertreter des Neuen Forum, des Demokratischen Aufbruch und der Fraueninitiative durften, obwohl sie noch nicht anerkannt waren, im Podium Platz nehmen. Die Fragen, die zu den Reformvorstellungen der Partei und zu kommunalpolitischen Themen gestellt wurden, beantwortete "Rosi", die Oberbürgermeisterin, in der üblichen wortreichen und nichtssagenden Weise. Auch wenn die Staatsvertreter sich die größte Mühe gaben, sie waren der Herausforderung, die jetzt auf sie zukam, einfach nicht gewachsen. Ich selber war gegen sie seltsam milde gestimmt, weil ich spürte, daß das Ende ihrer Macht nahte. Die Situation wurde immer peinlicher. Als gefragt wurde, wer denn nun in Erfurt für die Organisation (und damit für die Fälschung) der Kommunalwahlen im Mai verantwortlich gewesen sei, rief einer der Staatsvertreter erregt in den Saal: "Dann verklagen Sie mich doch vor Gericht!" Die Antwort ließ nicht auf sich warten: "Das werden wir auch tun!"
Zwei Tage danach kam es in Erfurt zur ersten wirklich großen Demonstration. Nach Friedensgebeten in zwei Kirchen bewegte sich eine unübersehbare Menschenmenge mit Kerzen durch die Straßen zum Domplatz. Die Befriedigung darüber erfüllte mich geradezu körperlich. Ich ging im Demonstrationszug neben einem Mann, der mir bekannt erschien. Es stellte sich heraus, daß es der Schalterangestellte war, bei dem ich oft meine Fahrkarte gekauft hatte. So kamen sich fremde Leute plötzlich ganz nahe. Der Domplatz war ein einziges Lichtermeer. Wenn ich mich daran erinnere, treten mir noch heute die Tränen in die Augen. Es gab nur die spontanen und gewitzten Sprechchöre, noch nicht die späteren etwas unbeholfenen oder allzu markigen Reden. Es gab sogar die rührende Verlegenheit, was denn noch geschehen solle und wann denn Schluß sei. Eine große Zahl von Demonstranten zog vors Rathaus, rief "Rosi aus dem Rathaus raus!" und ließ dort brennende Kerzen zurück. Am selben Abend fand in der Reglerkirche die zweite Vollversammlung des Erfurter Demokratischen Aufbruch statt. Der Demokratische Aufbruch hatte seit Ende September große Fortschritte gemacht. Die Mitgliederzahl nahm ständig zu, es waren Arbeitskreise zu allen wesentlichen Politikbereichen gebildet, ein Leitungskreis gewählt, ein Büro eingerichtet und sogar ein Signet entworfen worden. Auch in allen anderen großen Städten Thüringens gab es inzwischen DA-Gruppen. (Ich hatte die Karte von Thüringen bis dahin noch nie so genau studiert!) Diesmal ging es um die Vorbereitung des ersten DDR-weiten Delegiertentreffens.
In der Tat wurde es nun unbehelligt von Polizei und Stasi am 29. Oktober in Berlin durchgeführt. Die Niederlage vom 1. Oktober schien wettgemacht. Nur: Wer wurde damals mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt? Der Stasi-Mitarbeiter Wolfgang Schnur. Er genoß tatsächlich das größte Vertrauen, und niemand hätte geglaubt, daß ausgerechnet er noch bis zu diesem Zeitpunkt Berichte ans Ministerium für Staatssicherheit lieferte! Außerdem wurde beschlossen, die Vereinigung bis spätestens zum 1. Mai 1990 in eine Partei umzubilden: einer der zahlreichen Termine, die sich immer wieder als zu spät angesetzt erwiesen! Schließlich wurden Ehrhart Neubert und ich beauftragt, eine Kommission zu bilden, die ein neues, detaillierteres Programm ausarbeiten sollte. Wir machten uns mit Eifer an die Arbeit, sammelten eine Fülle von Einzelbeiträgen und Gesamtentwürfen, wollten jedem gerecht werden und zugleich alles unter einen Hut bringen - allerdings ohne zu ahnen, daß das Programm zu dem Zeitpunkt, als es schließlich verabschiedet wurde, im Grunde schon Makulatur war!
Am 7. November, an jenem Tag, als die alte Regierung zurücktrat, war ich nach Gotha eingeladen, um dort das Programm des Demokratischen Aufbruch vorzustellen. Bis dahin hatten alle Veranstaltungen, die der Vorstellung der neuen Gruppierungen bzw. Parteien dienten, noch in Kirchen stattgefunden. Diesmal war ich das erste Mal in ein Kulturhaus eingeladen; der Vorstoß in den Bereich der öffentlichen Räume war also gelungen! Es handelte sich zudem um denselben Saal, in dem 1946 in Gotha die Vereinigung von SPD und KPD vollzogen worden war - ein Hinweis, den der Vertreter der SDP in seiner Ansprache natürlich zu würdigen wußte! Als eine ziemliche Kühnheit empfand ich es damals noch, daß er seine Rede mit dem Bonmot begann: "Liebe Bürgerinnen und Bürger, mit der SED und der FDJ sitzen Sie immer in der - letzten Reihe!"
Was am 9. November geschah, ist bekannt. Ich saß am Tag der Grenzöffnung mit einem Parteifreund an der Ausarbeitung unseres neuen Programms, und paradoxerweise blieb dabei die Frage der deutschen Einigung immer noch umstritten. Hatte uns die Geschichte vielleicht schon damals überholt? Ich sah in der Öffnung der Mauer den letzten Akt des fortwährenden Versuchs der SED, dem Druck im Land durch Ventilöffnung nachzugeben, also die inneren Probleme nach außen zu verlagern, statt radikale Reformen einzuleiten. Daß es der letzte Akt war, bedeutete aber, daß nun die Reform kommen mußte; oder, daß sie nicht mehr kommen konnte, weil die innere Problematik eben endgültig nach außen entglitten war.
Am 10. November fuhr ich zur ersten Pressekonferenz des Demokratischen Aufbruch nach Berlin. Der Ansturm der Autos auf die Stadt war so groß, daß ich zu spät kam. Der Saal, in dem die Pressekonferenz stattfand, war voll von Journalisten und Kameras. Meine Freunde suchten mich zu bewegen, doch auch etwas zu sagen, aber in die Programmarbeit vertieft, empfand ich nur den peinlichen Widerspruch zwischen dem Aufwand an Öffentlichkeit und dem spärlichen Inhalt, den wir mitzuteilen hatten. Inzwischen habe ich freilich gelernt, daß dieser Widerspruch in der Politik durchaus normal ist. Nach der Pressekonferenz trafen wir im Foyer auf die Initiatoren der neuen SDP. Die Frage eines Zusammenschlusses war, wie sich herausstellte, wieder einmal negativ beantwortet worden - nach meinem Eindruck ohne sachlichen Grund, nur infolge der Profilierungssucht auf beiden Seiten. Allerdings wurde über eine mögliche Machtübernahme und Koalition gewitzelt - wer hätte damals ernstlich gedacht, daß das ein paar Monate später Wirklichkeit werden würde?
Als ich am nächsten Tag den Bahnhof Lichtenberg betrat, um zurückzufahren, bot sich mir ein Bild wie etwa in der Nachkriegszeit, nur verziert durch Symbole des Wohlstands: die ganze Halle voller umherliegender Menschen, Plastiktüten und Bierbüchsen. In den Zug war nicht hineinzukommen, so daß ich zum Schlafwagen Zuflucht nahm.
Am 12. November hatte ich in Erfurt Gottesdienst zu halten. Der Kernsatz des vorgeschriebenen Predigttextes lautete: "Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: er wird ihnen ihr Recht schaffen in Kürze." (Luk. 18, 7 f.) Warum habe ich diesen Text nicht freudig aufgegriffen und auf die jüngsten Ereignisse bezogen? Eben deshalb, weil das allzu nahelag, mir die Ereignisse aber zu widersprüchlich und komplex erschienen. Ich habe über diesen Text nicht gepredigt, sondern über das Evangelium des Sonntags, in dem es heißt: "Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man's mit Augen sehen kann..." (Luk. 17, 20)
Am Abend desselben Tages hatte ich zu Beginn der Friedensdekade in Sondershausen über das Thema zu sprechen: "Was ist uns der Sozialismus wert?" Ich habe mich zunächst gegen die ideologische Prämisse ausgesprochen, wir hätten es bei uns überhaupt mit Sozialismus zu tun gehabt. Ich habe sodann dafür plädiert, das diskreditierte Wort "Sozialismus" zu meiden und die Sache ganz neu zu lernen. Wieso ist zum Beispiel bei Marx von "Wiederherstellung des individuellen Eigentums" die Rede? Wieso polemisiert er gegen ein "Papsttum der Produktion"? Und ganz unabhängig von Marx: Ist Solidarität mit den Leistungsschwachen nicht eine immer neue Aufgabe? Ist die Humanisierung der Arbeit nicht nach wie vor eine Notwendigkeit? Solche Überlegungen wurden damals noch wohlwollend aufgenommen. Es war derselbe Tag, an dem die SED-Basis auf einer Großkundgebung in Berlin einen Sonderparteitag forderte.
Am 13. November wurde ich während eines Podiumsgesprächs an der Hochschule in Ilmenau gefragt, woher denn der Demokratische Aufbruch und die anderen neuen Gruppierungen ihr Geld bezögen? Ich konnte damals noch versichern, daß wir keinerlei finanzielle und technische Unterstützung aus der Bundesrepublik erhalten hatten. Über das enorme Vermögen der SED und der Blockparteien konnte ich allerdings noch keine genauen Angaben machen. Am selben Tag wurde aber in der Volkskammer unsere riesige Staatsverschuldung eingestanden - und wir hatten immer geglaubt, um die DDR stünde es im Vergleich zu den anderen Ostblock-Ländern ökonomisch noch recht gut! (Auch die Westliteratur hatte uns in dieser Hinsicht falsch informiert!) Das war, nach der Öffnung der Mauer, für mich das zweite entscheidende Ereignis, das eine eigenständige Entfaltung von Demokratie in der DDR fraglich machte.
Am 14. November war ich in Altenburg, um wieder einmal für den Demokratischen Aufbruch zu werben. Ich fand die Befürchtung bestätigt, daß man jetzt lieber in den Westen reiste, als sich für die Umwälzung zu engagieren. Es war die erste schlechter besuchte Veranstaltung.
Es war eine Freude gewesen, so von Stadt zu Stadt zu fahren und überall Hunderte, ja Tausende Menschen zu finden, die wachgeworden und zum Engagement bereit waren. Aber damit war es nun im Grunde vorbei; ich hatte es nur noch nicht begriffen. Jetzt betrat die Masse der Unpolitischen den Schauplatz, die Masse derjenigen, die erst ihr privates Heil im Westen gesucht hatten und nun den Westen herüberholen wollten, um sich auch die Mühe der Ausreise noch sparen zu können. Hatten Schnur und Eppelmann das vielleicht begriffen?
Ich erinnere mich an eine Sitzung in Berlin, als ein Parteifreund aus Gera berichtete, wie dort die Arbeiter nach der Wiedervereinigung gerufen und sich über weitere sozialistische Experimente nur abfällig geäußert hatten. Ich sagte daraufhin zu Wolfgang Schnur im Scherz, er könne zu einem populären Mann werden, wenn er sich an die Spitze dieser Leute stelle, und sah seine Augen dabei aufleuchten. Jedenfalls begannen er und Eppelmann schon Ende November, sich an unserem Programm vorbei an der CDU/CSU zu orientieren. Nach ihrem ersten Besuch in Bonn waren sie mit dem Bundeskanzler und Herrn Seiters zusammen in der Zeitung abgebildet. Als wir sie im Vorstand zur Rede stellten, beteuerten sie, sie hätten mit Vertretern aller Parteien gesprochen und könnten nichts dafür, daß die Presse einseitig berichtet habe. So war es immer wieder, und dieses Unbestimmte, Ungreifbare, Glitschige der beiden hat mich damals furchtbar erbost. Inzwischen sehe ich die Dinge gelassener und denke, daß sie gar nicht unehrlich waren. Denn es gehört wohl zum Wesen der konservativen Haltung, sich nicht festzulegen, sondern "überparteilich" nach allen Seiten offen zu sein und sich dahin treiben zu lassen, wo die Macht ist.
Anfang Dezember habe ich eine Gegenaktion gestartet und bin nach Bonn gefahren, um mich ausdrücklich nur mit Vertretern der SPD und der Grünen zu treffen. Bei den Grünen war das Mißtrauen gegenüber dem Demokratischen Aufbruch schon so groß, daß mit ihnen kaum noch zu reden war. Bei der SPD konnte ich am deutschlandpolitischen Arbeitskreis teilnehmen, in der Fraktionssitzung sprechen und mit Gert Weisskirchen auf einer Pressekonferenz über die jüngste Entwicklung in der DDR berichten. Übrigens war Gert einer der wenigen, die zu einer Zeit, als andere noch darauf erpicht waren, Honecker die Hand zu schütteln, den Kontakt mit den Andersdenkenden in der DDR gesucht hatten.
Aber meine Gegenaktion konnte an der Bewegung nach rechts, die ja nicht nur im Demokratischen Aufbruch eingesetzt hatte, nichts ändern. Auf dem Parteitag am 16./17. Dezember in Leipzig stellte sich heraus, daß Schnur und Eppelmann mit ihrer Orientierung bei der Basis Zustimmung fanden und der Demokratische Aufbruch praktisch gespalten war. Herr Blüm und Herr Huber erhielten mehr Beifall als die Gastredner der SPD und der Grünen. Die Vorstandssitzung, die für den Abend des Parteitages angesetzt war, fiel aus, weil Schnur und Eppelmann mit den CDU/CSU-Politikern im Hotel Merkur zusammensaßen. Es kam zu harten Auseinandersetzungen über das Programm, um das sich hauptsächlich die linke Leipziger Gruppe verdient gemacht hatte. Paradoxerweise wurde es schließlich, obwohl es immer noch eindeutig rotgrüne Farbe trug, mit großer Mehrheit verabschiedet! Lag das daran, daß die Konservativen in der Partei vieles gar nicht recht verstanden, daß sie selber kein alternatives Programm hatten, oder war ihnen Programmatik eigentlich gleichgültig, weil sie im Grunde zynisch allem Ideellen gegenüberstanden?
Friedrich Schorlemmer bekundete schon damals seine Absicht, den Demokratischen Aufbruch zu verlassen. Das fiel ihm allerdings auch leichter als mir, denn er hatte nicht viel eigene Kraft in den Aufbau der Partei investiert. Ich war damals noch der Meinung, daß die zwei Flügel der neuen Partei zusammengehalten werden mußten. Denn in welcher Partei gab es solche Spannungen nicht? Außerdem verstand ich ja diejenigen, die nicht mehr für die gleiche Arbeit den halben Lohn bekommen, nicht mehr nach Obst sich anstellen oder auf einen Trabant jahrelang warten wollten! Und ich teilte nicht die Ansichten derer, die sich als Linke moralisierend und ästhetisierend über die Bedürfnisse der Bevölkerung hinwegsetzen wollten und "Für unser Land" eintraten!
Noch weniger stand es freilich den Linken in der Bundesrepublik zu, sich über die Menschen bei uns zu erheben (siehe Schily mit seiner Banane) oder den Teufel des Nationalismus an die Wand zu malen. Denn so selbstlos war ja keiner von ihnen gewesen, daß er sich am "Aufbau des Sozialismus" bei uns hatte beteiligen wollen. Und fügte es sich nicht ausgezeichnet, daß man, indem man für die Eigenständigkeit der armen DDR eintrat, faktisch zugleich den Reichtum der Bundesrepublik gegen die begehrlichen Ossis verteidigte? Viele Linke haben einfach nicht begriffen, daß das System, das da in Frage gestellt wurde, auch nicht im Ansatz sozialistisch war, sondern ein System nachholender Industrialisierung mit despotischem Erbe, das den Mitteleuropäern oktroyiert worden war. Wenn es nun zusammenbrach, so bedeutete das im Grunde, daß plötzlich Entwicklungsländer vor der Tür der westlichen Industrieländer standen und um Hilfe bettelten, also eigentlich eine enorme Herausforderung für die Linke! Jetzt wurde aus dem abstrakten der konkrete Nächste, wurde es ernst mit der Parteinahme für die Verdammten dieser Erde! Was aber tat die westliche Linke? Sie mokierte sich über einen Nationalismus, den sie doch sonst in der Dritten Welt als legitim anerkannte. Oder sie entdeckte ihre gefährdeten Besitzstände an demokratischer politischer Kultur, die sie doch früher auch auf ihre ökonomische Basis hin überprüft hatte (vgl. Thomas Schmid oder Jürgen Habermas). Jedenfalls wich sie der Herausforderung aus, und das ließ bei mir den alten Verdacht wieder wachwerden, daß ihr "Sozialismus" vielleicht von vornherein nur ein Luxus, eine Spielerei, wenn nicht gar Verlogenheit gewesen war.
Im Januar 1990 wurde jedoch endgültig klar, daß meine vermittelnde Position nicht durchzuhalten war. Zwar war Schnur nur mit knapper Mehrheit wieder Vorsitzender geworden, und die Linken hielten im Vorstand den Rechten fast die Waage, aber das führte nur zu endlosen Diskussionen und machte uns handlungsunfähig. Es mußte aber gehandelt werden, denn die Wahlen rückten näher, und wir brauchten einen Partner in der Bundesrepublik, wenn wir nicht hoffnungslos zurückbleiben wollten.
Ende Dezember hatte ich noch einen Versuch gemacht, die Entscheidung herbeizuführen: Ich entwarf einen Brief an den Vorstand der bundesdeutschen SPD, in dem ich den schwierigen Weg des Demokratischen Aufbruch erläuterte, seine Nähe zur sozialdemokratischen Tradition deutlich machte, ein Bündnis mit der SDP in Aussicht stellte und um Unterstützung nachsuchte. Der DA-Vorstand lehnte es mit knapper Mehrheit ab, sich den Brief zu eigen zu machen und abzuschicken. Die Macher sprachen wieder einmal von Überparteilichkeit und betrieben faktisch den Anschluß an die CDU/CSU. Anfang Januar traf sich die linke Fraktion des DA in Leipzig und beschloß, "sich auf die SDP zuzubewegen und damit auch der Erwartung der Bevölkerung nach klar erkennbaren Parteiprofilen zu entsprechen." Aber nicht einmal die Mehrheit der Linken folgte dem Aufruf, weil sie sich dabei von ihrer Basis hätte trennen müssen. So erging es auch mir, denn wie viele persönliche Bindungen waren in dieser kurzen Zeit entstanden!
Der Thüringer Landesparteitag des Demokratischen Aufbruch am 20. Januar 1990 gab mir endlich den letzten Anstoß zum Austritt. Hier wurde mir das Ergebnis dessen, was ich mit auf den Weg gebracht hatte, endlich eindeutig präsentiert: Zwar hörte man sich noch ein Referat von mir an, dann aber wurde ein Gegenreferat gehalten, erklärte die Mehrheit des Thüringer Landesverbandes sich zum Vertreter bürgerlich-liberaler und konservativer Interessen und bekannte ihre Nähe zu den Parteien der bundesdeutschen Regierungskoalition. (Dazu meinte ein Parteifreund in der Pause, wir würden es eben machen wie Fouché, der auch nach der Revolution noch einflußreich war!) Das war so ungefähr das Gegenteil dessen, was ich gewollt hatte, und so konnte meines Bleibens in dieser Partei nicht länger sein. Der Unterschied zwischen dem Wissen darum, daß in der Geschichte oft das Gegenteil dessen herauskommt, was man eigentlich will, und der leibhaftigen Erfahrung dieser Wahrheit ist beträchtlich. Schmerzlich war auch die Trennung von den vielen Menschen, die ich in diesem Vierteljahr schätzen gelernt hatte. Denn nur eine Minderheit im DA hatte den Mut, mit mir auszutreten.
Am darauffolgenden Sonntag, dem 21. Januar, rief der Vorsitzende des Bürgerkomitees in Erfurt an und bat mich, wegen einer sehr dringenden Sache noch heute zu ihnen zu kommen. Ich fuhr nach Erfurt und fand die Vertreter des Bürgerkomitees - immer noch wie zu Oppositionszeiten - in einer Wohnung versammelt. Es herrschte beträchtliche Aufregung. Sie waren zu der Überzeugung gekommen, daß alte Stasi-Kämpfer sich nicht nur nach wie vor trafen, sondern für die allernächste Zeit sogar einen Putsch planten. Ich hörte mir das aus Respekt vor dem Eifer der Leute an, wenngleich ich einen Putsch für unwahrscheinlich hielt. Aber ich hatte ja auch keine besseren Informationen. Außerdem suchten sie einen vertrauenswürdigen Mann, der die Auflösung der Stasi DDR-weit endlich energisch in die Hand nahm. Zugleich sollte die Opposition von Modrow das Amt des Innenministers und des Generalstaatsanwalts fordern. Für den Erfurter Raum wären die Maßnahmen schon gut vorbereitet: Die Adressen der Führungskräfte der Stasi seien erfaßt, und Polizei und Volksarmee stünden bereit, sie umgehend zu verhaften. Ich aber sollte das Amt des obersten Stasi-Auflösers übernehmen! Ich wandte ein, daß ich mich mit der Problematik bisher zu wenig befaßt hätte, daß ich ein viel zu theoretisch veranlagter Mensch wäre usw. Ich bekam zur Antwort, für die praktischen Dinge stünden genügend Leute zur Verfügung, meine Aufgabe sei es hauptsächlich, das Anliegen in der Öffentlichkeit zu vertreten. Ich bat mir Bedenkzeit aus und Gelegenheit, mit meiner Frau zu sprechen. Das wurde mir gewährt, aber ich müsse mich noch heute entscheiden, denn morgen tage der Runde Tisch, und da müsse der Beschluß durchgesetzt werden. So fuhr ich zunächst zurück nach Weimar und besprach die Angelegenheit mit Andrea, meiner Frau. Wir kamen zu dem Schluß: Wer A sagt, muß auch B sagen. Gewiß hat bei meiner positiven Entscheidung auch eine Rolle gespielt, daß ich mit dieser neuen Aufgabe leichter über die Enttäuschung in bezug auf den Demokratischen Aufbruch hinwegzukommen hoffte. Montag früh 5 Uhr saß ich jedenfalls mit Matthias Büchner und einem weiteren Mitglied des Bürgerkomitees im Trabbi auf der Fahrt nach Berlin.
Der Runde Tisch tagte im Schloß Niederschönhausen, und ich war erstaunt, wie schnell wir da hineinkamen - noch vor ein paar Wochen wäre das undenkbar gewesen. Ebenso wunderbar erschien es mir, hier so viele Freunde aus der Untergrundzeit zu treffen. Wir warteten im Foyer. Schnur und Eppelmann wußten noch nicht, daß ich mich innerlich von ihnen losgesagt hatte und drängten mich, im Saal Platz zu nehmen. Egon Krenz mußte Rede und Antwort stehen, dann ging es um Fragen des Wahlrechts, aber in der Stasi-Angelegenheit wurde nichts entschieden. Am Abend schließlich erfuhr ich, daß die Berliner andere Vorstellungen hatten: Werner Fischer sollte der Bevollmächtigte für die Stasi-Auflösung werden, und die Maßnahmen sollten weniger einschneidend sein als in Erfurt geplant. So war ich also umsonst mit nach Berlin gekommen. Der Runde Tisch hatte ganz andere Probleme, und zwar in einer Größenordnung, die ihn überforderte. Wichtiger schien im Augenblick Modrows Angebot einer Regierungsbeteiligung der Opposition, das am Abend noch im engeren Kreis erörtert wurde. Dabei war die Neigung einiger groß, den Teufel des politischen Chaos an die Wand zu malen und sich als Retter der Ordnung zu verstehen. Und diese Neigung war schwer zu unterscheiden von der Lust, einmal Minister spielen zu können. Sicher brauchte die Opposition die Herrschaft der SED nicht mehr massiv in Frage zu stellen, sondern konnte sie um des lieben Friedens willen sogar stützen, denn ihr Ende war ohnehin abzusehen. Aber mußte sie sie denn in dieser Weise stützen? Ich habe mich in den folgenden Monaten, als das Stasi-Thema immer wieder in quälender Weise auf die Tagesordnung kam, oft gefragt, ob man es damals nicht mit der Entschiedenheit hätte anpacken müssen, die die Erfurter ins Auge gefaßt hatten.
Ich hatte meinen Austritt aus dem Demokratischen Aufbruch noch nicht öffentlich erklärt. So konnte es geschehen, daß am Tag darauf der Sekretär von Herrn Rühe bei mir erschien und den Besuch des CDU-Generalsekretärs für die nächste Woche ankündigte. Offenbar sollte die unheilige Allianz für Deutschland angebahnt werden. Ich gab die Ankündigung an den Weimarer Demokratischen Aufbruch weiter. Nachdem dann meine Austrittserklärung in der Presse erschienen war, erhielt ich von Rühes Büro die Mitteilung, der Besuch müsse aus terminlichen Gründen leider abgesagt werden.
Ich wollte mich nicht in meiner Depression verlieren und trat sofort in die SPD ein. Auf dem Thüringer Landesparteitag in Gotha wurde ich herzlich aufgenommen und fühlte mich schnell zu Hause: der traditionsreiche Ort, Willy Brandt als Gast und die Kundgebung auf dem Markt mit über einhunderttausend Menschen. Es hat mir Spaß gemacht, den ersten Wahlkampf in der DDR mitzugestalten. Immer wieder befiel mich ein heimliches Staunen über die Veränderung der Menschen und der Situation: Wer hätte das noch vor einem halben Jahr für möglich gehalten? Freilich zeigte sich schon im Februar an den schwindenden Teilnehmerzahlen bei Veranstaltungen und an bestimmten plumpen Zwischenrufen das Gewicht der politisch Desinteressierten. Die große Ernüchterung brachte dann das Wahlergebnis vom 18. März. Als wir es in unserem Weimarer Wahllokal zuerst hörten, wollten wir es nicht glauben, und als es im Fernsehen verkündet wurde, haben wir geradezu gestöhnt. Das sollte also das Ergebnis der Herbstrevolution sein? Befanden wir uns schon in der Phase der Restauration? War es überhaupt eine Revolution, d.h. ein Ereignis, das etwas geschichtlich Neues brachte?
Wer geschlagen worden ist, fragt natürlich nach den Ursachen. Die SPD hatte sehr viel weniger Mitglieder und hauptamtliche Mitarbeiter als die CDU, die finanzielle und materielle Ausstattung war weitaus schlechter, der Organisationsgrad niedriger. In manchen ländlichen Gebieten war die Partei kaum oder gar nicht präsent. Sie verfügte über kein eigenes oder ihr nahestehendes Publikationsorgan, und in die "unabhängigen" Lokalzeitungen war schwer hineinzukommen. Die horizontale und vertikale Kommunikation in der Partei war mangelhaft. Unerfahrene und zum Teil unfähige Leute nahmen Führungspositionen ein.
Diese Mängel hätten freilich durch das Gewicht der westdeutschen SPD ausgeglichen werden können, aber sie befand sich in der Opposition. Hätte sie die Regierungsmacht innegehabt, so wäre sie von den Ostdeutschen gewählt worden. Sie hätten aus ihrer Situation heraus immer die Bundesrepublik gewählt, und zwar nicht, wie sie sein könnte oder sollte, sondern so, wie sie ist, gewissermaßen mit Haut und Haaren. Die Regierungsparteien hätten schon gravierende politische Fehler machen, z.B. die Vereinigung geradezu ablehnen müssen, um nicht gewählt zu werden.
Angesichts dieser Ausgangslage hätte die SPD nur eine Chance gehabt, wenigstens Stimmen hinzu zu gewinnen, wenn sie sich von vornherein zum Fürsprecher der deutschen Einheit gemacht und die überzeugenderen positiven Programme vorgelegt hätte. Statt dessen hat sie in dieser Frage sehr lange geschwankt und zum Teil offen ihr Desinteresse bekundet. Oskar Lafontaine hat auch später noch zu den Ostdeutschen geredet wie ein Mann zu einer Frau, die sich zu große Hoffnungen macht. Der Mann erklärt ihr, daß er sie doch nur zufällig kennengelernt habe, sie durchaus nett fände, sie vielleicht heiraten werde, allerdings noch viele andere Frauen kenne, die er auch heiraten könnte. Oskar stand da wie einer, der von allgemeiner Menschenliebe redet, wo konkrete Solidarität gefordert ist. Konnte er den Osten der Nation nicht als den Ausschnitt der Menschheit verstehen, der den Westdeutschen hier und heute der Nächste ist?
Eine weitere wesentliche Ursache des Scheiterns der SPD war das in der DDR verbreitete Vorurteil, die SPD stünde doch der SED näher als die CDU; die Unfähigkeit also, zwischen demokratischem und real-despotischem Sozialismus zu unterscheiden. Die Bevölkerung wollte das Ruder ganz herumreißen und von "Sozialismus" überhaupt nichts mehr wissen. Aber war das nur ein Vorurteil, mußte es nicht ernstgenommen werden? Es gibt in der Tat eine traditionelle Staatsgläubigkeit in der SPD, und sie hat in den siebziger Jahren noch einmal Triumphe gefeiert. Ihr Motto war in gewisser Hinsicht Horst Ehmkes Satz: "Der Staat muß ein planender und koordinierender, ein fördernder und leitender Staat sein." (zit. in Michal, 94) Entsprechend stieg die Staatsquote am Bruttosozialprodukt auf 34%, die Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten auf 4,5 Millionen, es stiegen die Subventionen, die Staatsschulden, auch die Sicherheitsbedürfnisse des Staates. Gewiß ist das alles nicht mit der SED-Herrschaft zu vergleichen, aber die Abneigung der Wähler gegen alles, was nach Bürokratie auch nur "riecht", wird so verständlich.
Die Staatsgläubigkeit der SPD hat mit zur Ablösung der sozialliberalen Koalition beigetragen. Aber ihre Ablösung war nur Symptom eines umfassenden Wandels Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre! Über ihn muß man hauptsächlich nachdenken, wenn man die Niederlage der Linken begreifen will! Der Name "Sozialismus" verlor damals schon seinen guten Klang - man vergleiche damit die weltweite sozialistische Hoffnung Ende der sechziger Jahre! Kritische Marxisten konstatierten damals schon eine "Krise des Marxismus" und den "Abschied vom Proletariat". Das östliche System verlor an Glaubwürdigkeit (man denke an die Stagnation in der Sowjetunion, die Aufrüstung, an Afghanistan, an Solidarnosc in Polen und andererseits an die neue Kirchenpolitik der SED!). Im Westen wurde der Wohlfahrtsstaat kritisiert, setzte sich der Neokonservatismus durch und konnte Reagan seine abenteuerliche Politik beginnen. Trotz der Einsichten der siebziger Jahre in die ökologische Lage der Menschheit wurde das Wirtschaftswachstum wieder angekurbelt. Die Unternehmer erlebten einen neuen Frühling, und die Leistungsschwachen blieben auf der Strecke. "Individualisierung" wurde zum Schlagwort der Zeit. - Diese Tendenz hält offenbar an und hat durch den Zusammenbruch des despotischen Sozialismus neuen Auftrieb bekommen. Man kann fragen, ob diese Tendenz angehalten hätte, wenn der "Sozialismus" nicht zusammengebrochen wäre, ob also die Neokonservativen sich hätten behaupten können, wenn Ostdeutschland ihnen nicht zugefallen wäre. (Waren vielleicht aufgrund dieser Erwägung die Linken gegen die deutsche Einheit?) Aber das ist eine hypothetische und unhistorische Frage. Jedenfalls hat der Osten einen enormen Nachholbedarf an politischer und ökonomischer Liberalität und wird daher auf absehbare Zeit soziale Gerechtigkeit und ökologischen Umbau nicht als seine primären Ziele ansehen.

 

Die letzte Volkskammer

Immerhin hatte die SPD in Thüringen so viel Stimmen erhalten, daß ich in die Volkskammer kam. Ich empfand das als Anerkennung für mein Engagement im Herbst und gestehe auch, daß ich ein Gefühl von Macht nicht unterdrücken konnte, als ich zum ersten Mal das ehemalige ZK-Gebäude betrat und dort - im nunmehrigen Haus der Parlamentarier - mein Büro bezog.
Doch eigentlich bestimmte mich eine beträchtliche innere Distanz zu all dem, was da ablief, ja eine gewisse Leere und Müdigkeit. Seltsam, in welch großer Zahl Opportunisten und Wendehälse in die Volkskammer hineingeraten waren. Zwar war der Ernüchterungsprozeß bei mir inzwischen so weit vorangeschritten, daß ich die Notwendigkeit einer großen Koalition mit der CDU einsah. Innerlich lehnte ich sie aber ab, und so wurde die Arbeit im Parlament zu einer ständigen Übung in Disziplin. Ohne Leidenschaft läßt es sich aber schlecht politisch handeln. War die Demokratie, als Verwirklichung des dialogischen Prinzips verstanden, mit dieser großen Koalition nicht schon fast wieder begraben? Ich konnte meinen Freunden aus den Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, die nun zur Fraktion Bündnis 90 gehörten, kaum in die Augen sehen, wenn ich wieder einmal mit dem großen Haufen gegen sie gestimmt hatte. Da war ich nun der SPD beigetreten, um der Umarmung durch die konservativen Pragmatiker zu entgehen, aber gerade hier holten sie mich wieder ein.
Freilich gab es gewichtige Gründe für die große Koalition: Wenn wir sie nicht eingingen, dann mußten wir mit der dubiosen PDS gemeinsam in die Opposition gehen und damit das Vorurteil bestätigen, das in der Bevölkerung über uns herrschte: PDSPD. Andererseits galt es, mit unserer Regierungsbeteiligung die CDU daran zu hindern, als bloßes Instrument der West-CDU zu fungieren. Drittens hatten die Wahlen ja gezeigt, daß das politische Kräftespiel nicht mehr auf die DDR begrenzt, sondern im Grunde schon ein gesamtdeutsches war: Koalition bedeutete daher - so glaubten wir jedenfalls - Interessenvertretung der DDR-Bevölkerung gegenüber der Bundesregierung. Außerdem befanden wir uns in einer Krisensituation, die ein gewisses Abgehen von demokratischer Prinzipienreinheit rechtfertigte.
Trotz dieser plausiblen Gründe, die ich mir immer wieder klarmachte, hatte ich während der langwierigen Koalitionsverhandlungen die stille Hoffnung, daß sie doch noch scheitern würden; z.B. als sich herausstellte, daß die CDU auf inhaltliche Vereinbarungen überhaupt nicht vorbereitet war, sondern nur über die Postenverteilung reden wollte; oder als unser Parteivorstand sich gegen ein Zusammengehen mit der DSU aussprach; oder als die CDU sich nicht an die vorher getroffene Absprache hielt, bei der Wahl des Präsidenten der Volkskammer für Reinhard Höppner zu stimmen, der als erfahrener Synodalpräsident weitaus fähiger gewesen wäre als Frau Bergmann-Pohl. Über die Postenverteilung sollte besser kein Wort verloren werden: Es war geradezu verblüffend, mit welcher Schnelligkeit und nach welch zufälligen Kriterien da Minister aus der Taufe gehoben wurden.
Bekanntlich kam die Koalition am 12. April zustande. Aber schon am 27. April wurde sie von den Konservativen in einer entscheidenden Frage wieder gebrochen! In bezug auf den Verfassungsentwurf des Runden Tisches hatten wir uns mit ihnen geeinigt, dafür zu stimmen, daß er an die Ausschüsse zu überweisen sei. So hätte er für die Erarbeitung einer Übergangsverfassung der DDR bzw. einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung fruchtbar werden können. Dafür hat unsere Fraktion gestimmt, nicht jedoch die der Konservativen, und die Hintergründe wurden bald deutlich: Die Bundesregierung wollte keine Verfassungsdiskussion. Nach ihrer Meinung sollte sich eine DDR-Übergangsverfassung am Staatsvertrag orientieren, über den die Regierungen schon verhandelten. Von Volkssouveränität war demnach in Ostdeutschland schon keine Rede mehr! Den Experten aus der DDR, die Anfang Mai ein "vorläufiges Grundgesetz" ausgearbeitet hatten, wurde von Bonner Beamten denn auch klargemacht, welche Aussagen aus dem Verfassungsentwurf zu eliminieren seien:
- Ausländer und Staatenlose mit ständigem Wohnsitz haben Wahlrecht auf kommunaler Ebene (Art. 3, 3).
- Niemand darf ... wegen seiner sexuellen Orientierung ... benachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 9, 2).
- Frauen haben das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft (Art. 11, 3).
- Die DDR gewährt politisch Verfolgten Asyl (Art. 16, 3).
- Das Gesetz hat durch Verfahrensregelungen sicher zu stellen, daß die Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen im Bereich von Presse ... zum Ausdruck kommen kann (Art. 17, 2).
- Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen), genießen als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle besonderen Schutz der Verfassung (Art. 22, 2).
- Streik und Abwehraussperrung (Arbeitskampf) sind zugelassen, soweit sie nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen (Art. 23, 2).
- Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung (Art. 24, 2).
- Erweiterter Kündigungsschutz für Alleinerziehende
(Art. 25, 5).
- Steigert sich der Wert von Boden auf Grund seiner planerischen Umwandlung in Bauland, so steht den Gemeinden ein Ausgleich für die Wertsteigerung zu (Art. 23, 1).
- Wer Umweltschäden verursacht, haftet und ist für Ausgleichsmaßnahmen verantwortlich (Art. 34, 3).
- Der unentgeltliche Zugang zu den öffentlichen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen (Art. 37, 1).
- Das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder mitzubestimmen, ist bei der Gestaltung des öffentlichen Bildungswesens zu gewährleisten. (Art. 38, 2)
(die tageszeitung, 10.5.1990)
Nachdem der Verfassungsentwurf des Runden Tisches abgeschmettert worden war, kam es zu der läppischen Vorlage sogenannter "Verfassungsgrundsätze" durch Minister Wünsche am 17. Mai, die dem Staatsvertrag den Weg ebnen sollten und einen Monat später - gottseidank etwas modifiziert - verabschiedet wurden. Schon ihre Präambel enthielt einen logischen Widerspruch: Sie sollten die DDR-Verfassung ergänzen und ihr zugleich widersprechen, wobei die Teile der alten Verfassung, die nun als ungültig anzusehen waren, gar nicht benannt wurden. In Artikel 2 mußte die Sozial- und Umweltverantwortung des Eigentums nachgetragen werden. Über Umweltschutz war - wohl aus Ehrfurcht vorm Grundgesetz von 1949 - überhaupt nichts gesagt. Nach Artikel 7 sollte die DDR "durch Gesetz" Hoheitsrechte abtreten können, und nach Artikel 8 sollte die Volkskammer "durch Gesetz" die Verfassung ändern können; daß dazu eine 2/3-Mehrheit notwendig sei, war beide Male nicht erwähnt. Man hätte Wünsche schon wegen dieser Vorlage zum Rücktritt auffordern können, seiner Altlasten hätte es dazu gar nicht bedurft. Aber er war ja nur Werkzeug, wie er es schon vor der Wende gewesen war. Und waren wir Abgeordneten es nicht auch? Vor der Abstimmung über die "Verfassungsgrundsätze" wurde uns jedenfalls von unserem Fraktionsvorsitzenden eingeschärft, daß die Arbeiter vieler Betriebe in der DDR im Juli keinen Lohn erhalten könnten, wenn wir etwa nicht zustimmten und dadurch die Verabschiedung des Staatsvertrages verhinderten!
Am 25. April konstituierte sich der Ausschuß "Deutsche Einheit", bestehend aus 19 Vertretern der Fraktionen. Er war als Sonderausschuß gedacht, um die Vereinigungspolitik parlamentarisch zu kontrollieren, und insofern federführend gegenüber den anderen Ausschüssen der Volkskammer. Der Vorsitz in diesem Gremium stand unserer Fraktion zu, und sie beauftragte mich damit, weil ich in der Friedensbewegung schon seit 1983 mit der deutschen Frage befaßt war. Ein Freund drängte mich, mit der Konzeption, die ich für den Ausschuß entworfen hatte, sofort an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich zögerte, denn noch hatten wir nichts Substantielles geleistet. Nach unserer zweiten Sitzung hatte sich jedoch das entsprechende Gremium des Bundestages gebildet, bestehend aus 39 meist namhaften Politikern und geleitet von der Präsidentin des Bundestages. Nun waren wir gezwungen, unseren Ausschuß analog zu gestalten, und ich wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden "degradiert". Aber war eine Gruppe von 39 Mitgliedern - bei gemeinsamen Sitzungen gar von 78 - überhaupt noch arbeitsfähig? In der Tat dienten die gemeinsamen Sitzungen nicht der Sachdiskussion, sondern nur der Abgabe von Statements und der Präsentation in der Öffentlichkeit. Wir wurden als federführender Ausschuß erst arbeitsfähig, als wir einen kleinen geschäftsführenden Vorstand wählten: Er sichtete in stundenlangen Sitzungen die Stellungnahmen der anderen Ausschüsse und bündelte sie zu Beschlußempfehlungen fürs Parlament. Diese Arbeit "durfte" ich leiten, denn dafür hatte die Volkskammerpräsidentin natürlich keine Zeit.
Auch Staatssekretär Krause, der die Vertragsverhandlungen auf DDR-Seite leitete, hatte keine Zeit. Wenn ich mich nicht täusche, ist er ein einziges Mal unserer Einladung gefolgt, obwohl ein Minister oder Staatssekretär verpflichtet ist zu kommen, wenn ein Ausschuß um Information bittet. Immerhin schickte der überlastete Staatssekretär seine Vertreter. Aber von parlamentarischer Kontrolle des Regierungshandelns konnte so nicht ernstlich die Rede sein. Schon deshalb nicht, weil der Ausschuß Deutsche Einheit und die Volkskammer überhaupt die Gesetzes- und Vertragstexte meist zu spät in die Hand bekamen. Das sogenannte "Mantelgesetz" zur Übernahme von 26 Bundesgesetzen beispielsweise war 800 Seiten dick, aber wir erhielten es erst einen Tag vor der ersten Lesung am 1. Juni 1990!
In dieser Lage waren wir mitunter dankbar, daß es noch eine vierte Gewalt im Staate gab. Denn als die Bundesregierung am 23. April bekanntgab, sie habe sich über die Grundzüge eines Staatsvertrages mit der DDR verständigt, hatten wir dank der eifrigen Presse schon den (einen?) Text dieser "Grundzüge" in der Hand (die tageszeitung, 20. 4.90). Von Regierungsseite war uns noch 14 Tage danach kein Text zur Verfügung gestellt worden (die SPD-Fraktion hatte lediglich ein internes Arbeitspapier ihrer Minister)!
Im ersten Bonner Entwurf brachten unsere Verhandlungspartner wohl ihre Interessen unverblümt zum Ausdruck, um besser feilschen zu können. In der Überschrift war nur in bezug auf die Währung von einer "Union" die Rede, im Hinblick auf Wirtschaft und Soziales aber von einer "Gemeinschaft". Obwohl es spitzfindig erscheinen mochte, haben unsere SPD-Vertreter diese einseitige Akzentsetzung beanstandet, denn: Wurde die wirtschaftliche und soziale Untermauerung der Währungsunion nicht ernst genug genommen, dann mußte das katastrophale Folgen haben! Aus diesem Grunde wurde auch der Satz eingefügt: "Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit." (1, 4) War es nur ein Versehen, daß in der Präambel dieses wichtigen Vertragswerkes der Ausgangspunkt des Prozesses, der zu ihm geführt hatte, überhaupt nicht erwähnt war: die Herbstrevolution 89? Art. 14 (später 15) mußte völlig neu geschrieben werden, weil er schlicht davon ausging, daß unsere Landwirtschaft, die schon zusammenzubrechen begann, von heute auf morgen in die EG integriert werden könne. Recht dürftig war auch der Art. 15 (später 16) zum Umweltschutz geraten, obgleich schon die Blechlawine rollte, das Sero-System starb und die Müllberge anschwollen. Wir trugen immerhin das Vorsorge-, das Verursacher- und das Kooperationsprinzip nach und brachten den Satz ein: "Bei der weiteren Gestaltung eines gemeinsamen Umweltrechtes werden die Umweltanforderungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland so schnell wie möglich auf hohem Niveau angeglichen und weiterentwickelt." (16, 4) In bezug aufs Arbeitsrecht sollte nach dem Entwurf der Bundesregierung die Aussperrung erlaubt sein! (urspr. Anlage II, Leitsätze) Das konnten unsere Vertreter verhindern, allerdings nur deshalb, weil angesichts der steigenden Arbeitslosenzahl die Unternehmer im Arbeitskampf ohnehin im Vorteil sein würden. Nach Art. 16 (2) sollte die Unfallversicherung wie die anderen Versicherungen zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen werden, obwohl sie in der alten Bundesrepublik allein von den Arbeitgebern finanziert wird! Dagegen haben wir uns erfolgreich gewehrt. Die Beitragssätze für die Sozialversicherung sollten ohne weiteres auf das bundesrepublikanische Niveau von 17,95% angehoben werden. Wir haben durchgesetzt, daß den Empfängern niedriger Einkommen dafür eine Zeitlang ein Ausgleich gewährt wurde. Im Papier der Bundesregierung war von "Maßnahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik wie berufliche Bildung und Umschulung" nichts zu lesen. Arbeitslose können vielleicht ermessen, wie wichtig es war, daß der entsprechende Satz noch aufgenommen wurde. (Art. 19) Und Rentner waren sicher angesichts der steigenden Preise froh, daß das Prinzip der Mindestrente für eine Übergangszeit in Anwendung blieb (Art. 20) - was von der Bundesregierung ursprünglich auch nicht vorgesehen war.

Gerechtigkeit

Freilich konnte eine ganze Reihe von Problemen in den Verhandlungen nicht annähernd gelöst werden. Ich nenne drei, die deshalb besonders wichtig sind, weil es bei ihnen um die Überführung des sogenannten Volkseigentums in verantwortliches Eigentum ging.
Zuvor noch ein Wort zur Überschrift dieses Absatzes. Wir christlichen Oppositionellen in der DDR waren immer von der Vorstellung ausgegangen, der Gegensatz zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden der Erde müsse verringert werden. Dabei waren uns die Differenzierungen, die hier nötig sind, durchaus bewußt, ebenso die Tatsache, daß es eine einfache Lösung nicht geben kann. Dennoch meinten wir, das müsse ein Hauptziel der Politik sein. Jetzt jedoch wurde uns am Verhältnis zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten unseres Landes deutlich, wie wenig dieses Ziel die Richtung der Politik überhaupt bestimmen konnte! Und zwar nicht, weil es durch die Dynamik des Vereinigungsprozesses an den Rand gedrängt wurde, sondern: Wie sollte von mehr Gerechtigkeit gegenüber den fernen Entwicklungsländern die Rede sein, wenn schon gegenüber einem Teil der eigenen Nation, der in eine schwere Existenzkrise geraten war, so scharf kalkuliert wurde? Die DDR galt bekanntlich nicht als Entwicklungsland, aber gerade im Vereinigungsprozeß befiel manchen von uns die Befürchtung, sie könnte es jetzt werden, und zwar nicht allein infolge der Mißwirtschaft der SED!
Der Staatsvertrag bestimmte paradoxerweise, daß den "volkseigenen" Betrieben im Zusammenhang mit der Währungsumstellung die Schulden, die sie bei der Staatsbank hatten, nicht erlassen werden. Wußte man nicht, daß es sich um staatlich geleitete Betriebe handelte, die Kredite auf staatliche Anweisung hin aufgenommen worden waren? Es waren im Grunde Schulden, die der Staat gemacht hatte! Wenn man sie den Betrieben anrechnete, dann mußte man ihnen andererseits auch die Gewinne anrechnen, die sie Jahr für Jahr an den Staat hatten abführen müssen. Außerdem: Wie vertrug sich diese Belastung der Betriebe mit der erklärten Absicht der Bundesregierung, den industriellen Aufschwung im Osten fördern zu wollen? Behielten die Betriebe die Schulden, dann war der Neubeginn nicht nur psychologisch erschwert, dann mußten sie der Deutschen Bank auch hohe Zinsen zahlen und bekamen vielleicht nicht die Kredite, die sie zur Modernisierung so notwendig brauchten. War hier nun die wirtschaftsliberale Strategie der "schöpferischen Zerstörung" am Werke oder das Interesse, westlichen Unternehmern möglichst viel an Konkursmasse zum Kauf anbieten zu können? - Letztlich waren die Schulden allerdings Schulden bei der Bevölkerung der DDR, den Sparern. Daher der Einwand, für die Sparkonten der Bürger müßten die Betriebe schon auf diese Weise einstehen. Wer sollte es denn sonst tun? Hieß Entschuldung der Betriebe nicht Enteignung der Sparer? - Dieser Einwand hat mir zunächst zu denken gegeben; aber nur, weil ich davon ausging, daß der Staat DDR ja bald nicht mehr bestehen würde. Noch bestand er aber, konnte er also auch Schulden haben! Warum sollte denn die DDR ohne Schulden in die deutsche Einheit eintreten, wenn die Bundesrepublik es doch mit einer enorm hohen Verschuldung tat? Vielleicht weil der Staat DDR eben gar nicht in die Einheit "eintrat", sondern sich in nichts auflöste?
Aber war das nicht dennoch ungerecht? - Dagegen ließ sich nun wieder einwenden, daß der Staat als solcher ja nicht produziere; es komme daher darauf an, wer Schulden habe, ein Staat mit einer schwachen oder ein Staat mit einer starken Wirtschaftsbasis. Nur drehte man sich mit dieser Argumentation im Kreise: Weil unser Staat eine schwache Wirtschaft zur Grundlage hat, darf er keine Schulden haben. Auf wen sollen die Schulden aber abgewälzt werden? Auf eben diese schwache Wirtschaft, damit sie noch schwächer werde. Nach dem biblischen Motto: Wer wenig hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.
Nach der Abstimmung über den Staatsvertrag beruhigte mich ein Interview, das Bundesbank-Vizepräsident Schlesinger gegeben hatte. Darin hieß es, die Schulden der DDR-Unternehmen betrügen nur 120 Milliarden DM, und das sei nicht viel mehr als die jährliche Neuverschuldung der Unternehmen in der Bundesrepublik. Die Schuldenlast und die rückständige Kapitalausstattung unserer Unternehmen brauche nicht zu pessimistischen Prognosen zu führen, denn in Spanien und Portugal sei die Kapitalausstattung nicht besser, dennoch entwickle sich die dortige Wirtschaft sehr gut. (Süddeutsche Zeitung, 23./24. 6. 1990) Beruhigt hat mich hieran, daß der von der Bundesregierung eingerichtete "Fond Deutsche Einheit" (115 Milliarden DM) fast die Höhe der industriellen Verschuldung der DDR erreichte.
Die Bundesrepublik übernahm demnach zwar nicht diese Schulden, verschuldete sich selber aber in gleichem Maße um der Einheit willen. Oder böse gesagt: Die Summe, die sie "großzügig" zur Förderung der DDR-Wirtschaft einsetzte, hatte sie ihr zuvor schon als Schuld aufgeladen! Gut gerechnet!
Eine weitere Frage, die der Staatsvertrag nicht beantwortete, sondern aufwarf, hieß: Was sollte mit den Erlösen aus der Privatisierung des von der Treuhandanstalt verwalteten riesigen Volksvermögens geschehen? Art. 10 (6) sah vor, daß "nach seiner vorrangigen Nutzung für die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts ... den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2 zu 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann." Das war von dem lange diskutierten Gedanken übriggeblieben, mit dem sogenannten "Volkseigentum" endlich einmal ernstzumachen und es über Anteilscheine unter den Bürgern aufzuteilen. Dieser Gedanke hat mir zwar nie sonderlich eingeleuchtet, aber das Faszinierende an ihm war das Gerechtigkeitspathos, das er in sich trug, der radikale Bruch mit dem angemaßten Staatseigentum und die Hoffnung, bei wirklichem, verantwortlichem Eigentum aller (bzw. vieler) werde es zu einem ungeahnten Aufschwung der wirtschaftlichen Initiative kommen. - Aber wer würde denn in der Lage sein, solche Volksaktien zu kaufen? Doch nicht die große Masse der DDR-Bürger! Und waren die, die in der DDR reich geworden waren, dies immer auf redliche Weise geworden? Sollten die Schichtendifferenzen, die sich hier herausgebildet hatten, denn noch bestätigt werden? Wenn die Anteilscheine aber verschenkt würden, nach welchem Schlüssel sollte das geschehen? Und was würden die Bürger denn zu kaufen bekommen? Doch zu einem großen Teil heruntergewirtschaftete, nicht konkurrenzfähige Betriebe! Würden sie das Risiko, in ein unsicheres Unternehmen zu investieren, überhaupt auf sich nehmen wollen? Als Arbeitnehmer würden die einen sich an einem prosperierenden Unternehmen beteiligen können, die anderen müßten sich an einem gefährdeten beteiligen, so daß von Gerechtigkeit keine Rede sein konnte. Ging man aber nicht vom Arbeitsplatz aus, sollte also jeder sich beteiligen können, wo er wollte, wo blieb dann der positive Effekt für die wirtschaftliche Initiative, das Engagement für das eigene Unternehmen? Die Schwächen der Idee der Anteilscheine waren die der direkten Demokratie auf die Wirtschaft angewandt: Sie läßt sich auch hier nicht generell, sondern nur als Korrektiv verwirklichen.
Aber der Staatsvertrag meinte es mit dieser Idee ohnehin nicht sonderlich ernst. In den Artikeln 26 (4) und 27 (3), die ebenfalls die Verwendung des Volksvermögens behandelten, war sie gar nicht mehr in Betracht gezogen. Außerdem gab es zwischen diesen Artikeln einen schwerwiegenden Widerspruch! Der eine besagte, die Erlöse aus der Privatisierung sollten vorrangig für die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts genutzt werden (wobei das "und" schon sehr viel offenließ!); der andere jedoch ging davon aus, daß jene Erlöse gar nicht ausreichen würden, um den Staatshaushalt zu sanieren, so daß für Zwecke der Strukturanpassung gar nichts mehr übrigbleiben würde. Wieder blieb unsere Wirtschaft also auf der Strecke: Sie bekam nicht nur die Schulden aufgehalst, die sie selber auf Anweisung des alten Staates hatte machen müssen, sondern nun auch noch die, die der Staat ganz unabhängig von ihr gemacht hatte.
Unsere Wirtschaft wurde durch den Vertrag noch ein drittes Mal geschwächt. Wenn auch viele unserer Produktionsanlagen nicht mehr viel wert waren, so hatten wir doch immerhin reichlich Grund und Boden in günstiger Lage. Das war neben unseren qualifizierten Arbeitskräften beinahe der einzige Schatz, der uns geblieben war. Da die Marktwirtschaft zwar den Handel mit Grund und Boden einschließt, dieser aber mehr als jedes andere Gut soziale und ökologische Verantwortung erheischt - und zudem die Bodenpreise in der DDR ja lächerlich niedrig waren - galt es, diesen Schatz zu hüten und vor Spekulation zu schützen. Dazu hatten die beteiligten Fraktionen schon in der Koalitionsvereinbarung festgelegt: "Spekulation mit Grund und Boden ist durch Bau- und Bodenrecht zu verhindern ... Die Vorteile des in der BRD gültigen Erbbaurechts einschließlich der sich daraus ergebenden Pacht- und Nutzungsrechte sind in der Übergangsphase bevorzugt einzusetzen. In einer Übergangszeit von 10 Jahren kann natürlichen und juristischen Personen, die an einem bestimmten Stichtag nicht ihren Sitz in der DDR haben, grundsätzlich nur ein Erbpachtrecht mit Vorkaufsrecht nach Ende der Übergangszeit zu den dann marktüblichen Preisen eingeräumt werden. Vor Begründung von Erbpachtrecht besteht eine zeitlich begrenzte Anbietungspflicht an natürliche und juristische Personen aus der DDR. Derartige Geschäfte unterliegen dem Genehmigungsvorbehalt der zuständigen Behörden."
Dagegen wurde in den Verhandlungen von seiten der Bundesregierung immer wieder eingewandt, ohne die Möglichkeit des unbeschränkten Erwerbs von Grund und Boden seien die Chancen, daß bei uns investiert würde und die dafür notwendigen Kredite bereitgestellt würden, gering. Wir brauchten aber nichts dringender als Investitionen, und in der Tat war das erwartete große Engagement westlicher Unternehmen in der DDR ja bisher ausgeblieben. So mußten wir uns beugen und Anlage IX des Staatsvertrages akzeptieren, die den Eigentumserwerb privater Investoren an Grund und Boden mit nur einer Einschränkung freigab: Der zunächst vereinbarte Grundstückspreis könne nach einer Übergangsfrist überprüft und nachträglich an die inzwischen gestiegenen Preise angeglichen werden. Dabei müsse jedoch "die Übergangszeit kurz und die Kalkulierbarkeit der Belastung für den Erwerber gewährleistet sein." (Anl. IX, Ziffer 4) Der Wirtschaftsausschuß und der Ausschuß "Deutsche Einheit" der Volkskammer konnten nur weiteren Klärungsbedarf anmelden, noch einmal an das in der Bundesrepublik gültige Erbbaurecht erinnern und die Regierungen auffordern, in Erläuterungen zum Vertrag doch noch "gesetzliche Regelungen zur Verhinderung von Spekulationen mit Grund und Boden" zuzulassen, "die über den in Ziffer 4 der Anlage IX enthaltenen Hinweis auf die Möglichkeit rechtsstaatlicher Vereinbarungen hinausgehen." (Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses vom 8. 6. 90) Dem sind die Regierungen jedoch nicht gefolgt.

Frieden

Dem Außenstehenden wird es ganz unbegreiflich sein, daß ich dem Vertrag trotz der beschriebenen schweren Mängel zugestimmt habe. Es ist dies ein Musterbeispiel für den Charakter, den unsere Entscheidungen in der Volkskammer hatten und den politische Entscheidungen vielleicht überhaupt haben. Ich kann mich freilich nicht nur damit rechtfertigen, daß Kompromißbereitschaft eine demokratische Tugend ist. Gewiß hatten wir in den Verhandlungen auch manches erreicht, und gewiß ist es politisch falsch, um hehrer Prinzipien willen das Erreichte wieder zu gefährden. Es war zu diesem Zeitpunkt außerdem klar, daß es wegen der zahlreichen ungelösten bzw. noch gar nicht erörterten Probleme der Vereinigung weitere Verhandlungen und einen zweiten Staatsvertrag geben müsse. Es ging also ohnehin nur um eine vorläufige Entscheidung. Schon von anderen ist viel darüber gesagt worden, unter welch enormem Zeitdruck wir standen. Die Ausreisewelle hielt unvermindert an, und auch außenpolitisch schienen sich gerade im Juni für den Vereinigungsprozeß noch einmal Hindernisse aufzutürmen. So war es uns gar nicht möglich, alle Aspekte der Sache, über die wir zu befinden hatten, wirklich zu überblicken. Letztlich mußten wir uns oft vom Gefühl leiten lassen. Bei mir führte das zu einem gewissen Fatalismus: Ich hatte schon seit der Erfahrung mit dem Demokratischen Aufbruch gelernt, daß die Geschichte - die ich hier bewußt hypostasiere - ganz schnell etwas anderes wollte, als ich es mir in Ruhe ausgedacht hatte, und war nun geneigt, mich darein zu schicken. Mein tiefstes Motiv für die Zustimmung zum Staatsvertrag war jedoch, daß ich die deutsche Vereinigung wollte - nicht um jeden Preis, aber der Preis, der jetzt zu zahlen war, erschien mir schließlich doch nicht zu hoch.
Mein ganzes bewußtes Leben hatte ich "mit der Teilung leben" (Müller-Gangloff) müssen. Sicher hatte ich sie (und die Teilung der Menschheit!) tief verinnerlicht, mein ganzes Weltbild war durch sie geprägt. Aber seit 1983, in der letzten Phase des Kalten Krieges, als mir klar wurde, daß Deutschland tatsächlich in besonderer Weise der Gefahr des atomaren Untergangs ausgesetzt war, habe ich mich mit ihr nicht mehr abfinden können. In der Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und Tradition suchte ich einerseits im Zusammenhang der Friedensbewegung "Wege aus der Gefahr", war also von der Sorge um den Fortbestand dieses Landes bewegt, und kam ich andererseits zu einem bestimmten, sehr fordernden Begriff von deutscher Identität. Was 1990 geschah, wurde diesem Begriff keineswegs gerecht, und darunter habe ich gelitten: Weder kam es zu mehr ökologischer Vernunft, noch zu einer wirklichen Vermittlung zwischen Ost und West, noch zu einer Partnerschaft mit der Zweidrittelwelt. Aber war es nicht immerhin die lang ersehnte und erstaunlich friedliche Verwirklichung der Einheit, ein Weg aus der drohenden Kriegsgefahr? Sollte die Wirklichkeit sich nach der Idee richten oder die Idee nach der Wirklichkeit? Und verschlechterten sich denn die Bedingungen dafür, die Idee nach der Herstellung der Einheit weiter zu verfolgen und langfristig umzusetzen? Konnte sie nicht überhaupt nur langfristig umgesetzt werden?
Wenn ich manchmal abends nach den Volkskammersitzungen in den Straßen Berlins spazierenging, nun auch in denen von Westberlin, wenn ich die bröckelnde Mauer und die verlassenen Wachtürme sah, dann wußte ich zuweilen gar nicht mehr, was wirklich und was unwirklich war, dann befiel mich ein solches Staunen und auch ein Gefühl der Dankbarkeit, daß dies wohl den Ausschlag gegeben hat bei meiner Entscheidung.
Die Kehrseite war die immer wieder aufkeimende Sorge, daß beim Vereinigungsprozeß außenpolitisch noch etwas schiefgehen könnte. Aus der Friedensbewegung kommend, arbeitete ich im außenpolitischen Arbeitskreis der Fraktion mit und nahm als Parlamentsvertreter an den 2+4-Gesprä chen teil. Gerade durch den Verlauf dieser Verhandlungen im Juni bekam meine Sorge neue Nahrung.
Die Sowjetunion war mit der Forderung in die 2+4-Gespräche gegangen, sie müßten zu einem Friedensvertrag oder zu einer ähnlich umfassenden Regelung aller die deutsche Vereinigung betreffenden Fragen führen. Sie wollte alles Mögliche in die Verhandlungen einbeziehen, was eigentlich durch die KSZE oder durch bilaterale Verträge des künftigen souveränen Deutschland hätte geregelt werden müssen. Sie bauschte das deutsche Problem sozusagen zum Weltproblem auf, was angesichts der zwei Weltkriege allerdings eine gewisse Berechtigung hatte. Dennoch war es ein sonderbarer Eindruck, die Vertreter der Sowjetunion mehr philosophieren als zielstrebig verhandeln zu sehen.
Ihnen standen die Vertreter der USA, Englands, Frankreichs und der Bundesrepublik in geschlossener Front gegenüber. Sie alle wollten die Gespräche möglichst schnell abschließen und aus pragmatischen Gründen alle Fragen ausklammern, die nicht unmittelbar mit der Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands zusammenhingen. Sie wehrten sich gegen jede "Singularisierung" der deutschen Frage, wie sie es nannten. Auch das war verständlich, denn wurde die böse Vergangenheit Deutschlands nicht am besten dadurch bewältigt, daß die Völkergemeinschaft seine Sonderrolle einfach nicht mehr ernst nahm und es als Land wie jedes andere behandelte?
Mir erschienen diese gegensätzlichen Haltungen zunächst als treffende Illustration des Gegensatzes zwischen russischem und angelsächsischem Denken. Aber hinter der Haltung der Sowjetunion standen natürlich begreifliche Ängste angesichts der Wiedervereinigung Deutschlands und seiner Einbeziehung ins westliche Bündnis, zumal die Verhältnisse in der Sowjetunion selber immer labiler wurden. Ihren Vertretern blieb, wenn sie nicht in die alte Konfrontation zurückfallen wollten, angesichts der veränderten Machtlage wohl gar nichts anderes übrig als eine solche Verzögerungsstrategie. Und dabei mußte man geradezu Mitleid mit ihnen haben, denn sie vertraten ja nicht die stalinistische, sondern eine reformierte Sowjetunion. Das hatten sie nun von ihrer Perestroika! Hinter der Haltung der westlichen Mächte stand das Wissen um ihre Überlegenheit und der Wille, sie auszunutzen und Deutschland als Ganzes ins eigene Bündnis einzugliedern.
Wir, die DDR-Delegation, wollten grundsätzlich auf eine Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem hinwirken. Wir sahen aber ein - und das ist mir zunächst schwergefallen -, daß ein solches System nicht derart rasch zustandekommen könne wie der Vereinigungsprozeß ablief. Daher mußte Deutschland, wenn es sicherheitspolitisch nicht in der Luft hängen sollte, für eine Übergangszeit Mitglied der NATO werden, allerdings einer veränderten NATO und mit einem Sonderstatus für das Gebiet der ehemaligen DDR. So hieß es in der Koalitionsvereinbarung: "Die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ist den osteuropäischen Staaten nur zumutbar, wenn damit sicher das Aufgeben bisher gültiger NATO-Strategien, wie Vorneverteidigung, Flexible Response und nuklearer Ersteinsatz, verbunden ist. Auf dem heutigen Gebiet der DDR befinden sich für eine Übergangszeit neben den sowjetischen Streitkräften deutsche Streitkräfte, deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist und die weder der NATO unterstellt noch Teil der Bundeswehr sind."
Wir wollten, daß die Sowjetunion und ebenso Polen der deutschen Vereinigung nicht nur gezwungenermaßen, sondern aus Überzeugung zustimmen könnten, daß ihre Sicherheitsinteressen wirklich beachtet würden. Und wir befürchteten, daß sich die Sowjetunion angesichts der sehr weitgehenden Forderungen der westlichen Mächte stur stellen würde und die Gespräche sich ergebnislos hinziehen könnten. In der Tat führte die Verzögerungsstrategie der Sowjetunion wiederholt zu so langweilig-pedantischen Diskussionen um einzelne Formulierungen, daß ich mich an bestimmte exegetische Übungen in der Theologie erinnert fühlte. Die Strategie ging bei den Gesprächen auf Beamtenebene im Juni soweit, daß Herr Bondarenko, der Sitzungsleiter, die Zügel einfach schleifen ließ und einen Text studierte, so daß die hohen Beamten sich wie eine Schulklasse ohne Lehrer benahmen und jeder machte, was er wollte. Beim zweiten Treffen der Außenminister am 22. 6. in Berlin legte die Sowjetunion dann ein Papier vor, das unsere Befürchtungen bestätigte und unsere Hoffnung, bald vernünftige außenpolitische Rahmenbedingungen für die Vereinigung zu bekommen, zunichte machen konnte. Nach diesen "Grundprinzipien für eine abschließende völkerrechtliche Regelung mit Deutschland" sollte das Gebiet der ehemaligen DDR nach der Vereinigung noch fünf Jahre dem Warschauer Pakt zugehören und die sowjetische Armee so lange hier stationiert bleiben. Die Bundeswehr sollte nur westlich der Linie KielBremen-Frankfurt-Heilbronn-Stuttgart-Konstanz stationiert sein und die NVA östlich der Linie Rostock-Leipzig-Gera-Schleiz. Erst 21 Monate nach der Vereinigung sollte über die Beendigung der Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte für Berlin und ganz Deutschland überhaupt verhandelt werden. - Aus dieser Situation und der geschilderten Grundhaltung der DDR-Delegation heraus waren bestimmte Äußerungen Markus Meckels und Rainer Eppelmanns, die in der Presse Verwunderung hervorriefen, durchaus verständlich. Wenn Markus Meckel sich zum Beispiel für einen schnelleren Ausbau von KSZE-Strukturen an Stelle einer bloßen Erweiterung der NATO auf ganz Deutschland aussprach oder die Ergebnisse des NATO-Gipfeltreffens in London nicht befriedigend fand, so waren das in dieser Situation durchaus richtige Signale.
Experten meinten allerdings zu wissen, daß das sowjetische Grundsatzpapier gar nicht ernst zu nehmen sei, daß es nur einen Schachzug im Verhandlungsspiel darstellte oder ein vorläufiges Zugeständnis an die alten Apparatschiks in der Parteiführung, daß es jedenfalls nicht das letzte Wort der Sowjetunion sei. Aber wer konnte das angesichts der Meldungen über die immer schwächer werdende Stellung Gorbatschows und Shewardnadses denn sicher sagen? Erst der Parteitag der KPdSU Anfang Juli würde in dieser Frage neue Erkenntnisse bringen.
In der Tat hatte sich das Bild beim nächsten Außenministertreffen am 17. Juli in Paris völlig gewandelt. Gorbatschow war auf dem Parteitag als Generalsekretär mit großer Mehrheit wiedergewählt und Ligatschow als Stellvertreter nicht bestätigt worden. Die Reformer hatten sich also doch durchgesetzt. Schon zwei Tage nach dem Ende des Parteitags fanden die Gespräche zwischen Kohl und Gorbatschow in Schelesnowodsk statt, bei denen Gorbatschow überraschend Deutschland die volle Souveränität und seine mögliche NATO-Mitgliedschaft zugestand.
Diese Wendung der Dinge war für mich wieder eine ernüchternde Erfahrung, wenn auch keine überraschende mehr. Ich hatte bei unseren außenpolitischen Besprechungen lange schon das dunkle Gefühl, daß wir nur in der Einbildung politisch handelten, und die großen verlassenen Räume des Außenministeriums verstärkten den Eindruck des Geisterhaften. Nun wurde uns endgültig deutlich gemacht, daß es eine DDR-Außenpolitik überhaupt nicht mehr gab. Der Bundeskanzler hatte offenbar beschlossen, die entscheidende "historische Tat" allein zu vollbringen. So waren wir, als wir in Paris am Konferenztisch saßen, von der Bundesregierung über das Ergebnis der Gespräche in Schelesnowodsk noch nicht einmal informiert worden. Inhaltlich aber war die nun präsentierte Lösung so trivial, wie ich es nie erwartet hätte. Bis dahin hatte ich noch gehofft, aus den langen leidvollen Erfahrungen mit dem Kalten Krieg würde für die Menschheit mehr an politischem Gewinn herausspringen als das altbekannte Ergebnis, daß eben einer der Sieger ist und ein anderer der Verlierer. Bestand die deutsche Einigung also darin, daß wir uns auf die Seite der Sieger schlugen? Wo blieb unsere Mittlerrolle zwischen West und Ost? Hatten wir mit unserem Ziel, eine gesamteuropäische Friedensordnung zumindest anzubahnen, von vornherein auf verlorenem Posten gestanden? Wir kamen eben aus der Friedensbewegung und brachten es einfach nicht fertig, Reagans abenteuerliche Politik, die wir in böser Erinnerung hatten, nun selber mit zu Ende zu führen.

Bewahrung der Schöpfung

Zu gleicher Zeit wurde exemplarisch deutlich, daß wir unsere Identität nicht nur in innen- und außenpolitischer Hinsicht verfehlen würden, sondern auch angesichts der ökologischen Herausforderung.
Am 22. Juni wurde die erste Lesung des Ländereinführungsgesetzes durch einen Antrag von 18 Abgeordneten unterbrochen, der verlangte, sofort den Minister für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit herbeizurufen. Was war geschehen? Wir hatten aus der Presse erfahren, daß in der folgenden Woche die gesamte Energieversorgung der DDR an die drei größten Energieunternehmen der Bundesrepublik verkauft werden sollte.
Dieses Vorhaben verstieß in mehrfacher Hinsicht gegen unsere gerade errungene demokratische Ordnung. Erstens hatte der Minister den entsprechenden Volkskammerausschuß nicht ausreichend informiert und auf eine Anfrage unserer Fraktion, die schon vierzehn Tage zurücklag, nicht geantwortet. Zweitens hatte er die Lösung einer Aufgabe, die eigentlich der Treuhandanstalt oblag, an sich gerissen, indem er die Zeit nutzte, als diese noch nicht arbeitsfähig war. Drittens aber widersprach der geplante Vertrag sowohl der Koalitionsvereinbarung als auch dem schon verabschiedeten Treuhandgesetz, dem gerade diskutierten Kommunalvermögensgesetz und dem Grundgesetz Art. 28. Laut Koalitionsvereinbarung war ausdrücklich die "Schaffung dezentraler Wärme- und Energieversorgungsbetriebe (Stadtwerke) bei gleichzeitiger Entflechtung der Energiekombinate" vorgesehen, und laut Treuhandgesetz vom 17. Juni sollte volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufgaben und Dienstleistungen diente, den Städten und Gemeinden auch übertragen werden (§1, Abs. 1). Die Exekutive versuchte also diesmal nicht nur an der Legislative vorbei, sondern gegen beschlossene Gesetze zu handeln. Politisch hätte sie mit ihrem Vorhaben die Position der Kommunen geschwächt und damit die demokratische Selbstverwaltung. Ökonomisch hätte sie die freie Konkurrenz und damit die Position der Verbraucher untergraben. Das ökologisch Unverantwortliche an diesem Vertrag aber war, daß er die Chancen der Dezentralisierung und Energieeinsparung einfach in den Wind schlug. Alle Fraktionen außer CDU und DSU haben leidenschaftlich gegen ihn gestritten. Das war eine der Sternstunden der Volkskammer!
Minister Steinberg wurde also herbeigerufen. Es sei daran erinnert, daß dieser Mann informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit war, was sich allerdings erst in der vorletzten Sitzung der Volkskammer herausstellte. Nachträglich drängt sich die Frage auf, ob er sich vielleicht deshalb den neuen Mächtigen gegenüber so gefügig zeigte. Sein Hauptargument für den Vertrag war, nur die großen Stromkonzerne seien in der Lage, die für die DDR-Energiewirtschaft notwendigen Investitionen zu tätigen und die Arbeitsplätze in diesem Bereich zu erhalten. Aber es lag eine Fülle von Angeboten kleinerer Unternehmen aus der Bundesrepublik vor! Die Auskünfte des Ministers waren so unbefriedigend, daß das Parlament den Vertragsabschluß fürs erste untersagte und zugleich die anderen Ministerien an ihre Berichtspflicht in bezug auf eventuelle ähnliche Verhandlungen erinnerte.
Eine Woche später wurde eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung der Vorgänge auf dem Energiesektor gebildet. Sie brachte noch eine weitere Ungeheuerlichkeit ans Tageslicht: Staatssekretär Pautz vom Energieministerium hatte in einem Gespräch mit Vertretern unserer Fraktion gedroht, nach dem 1. Juli werde es zu Flächenabschaltungen in der DDR kommen, wenn wir dem Vertrag nicht zustimmten. Die gleichen Drohungen hatte der Chemnitzer Oberbürgermeister vom Direktor des dortigen Energiekombinats zu hören bekommen. Die Liberalen stellten nun den Antrag, "die Treuhandanstalt sofort anzuweisen, mit allen interessierten Elektrizitätsunternehmen der Bundesrepublik Deutschland in Verhandlungen einzutreten, um für die Umstrukturierung der Stromwirtschaft der DDR eine wettbewerblich verträglichere Lösung zu erreichen". Der Wirtschaftsausschuß nahm diesen Antrag in seine Beschlußempfehlung auf, forderte darüber hinaus die Einsetzung einer EnqueteKommission zu den Problemen eines neuen Energiekonzepts und legte noch einmal folgende Leitlinien fest:
I. Sicherstellung einer vielfältigen, gemischten Struktur von Energieversorgungsunternehmen - bestehend aus Verbundwirtschaft, Regionalwirtschaft und Kommunalwirtschaft - bei der Energieerzeugung und -verteilung im Sinne einer Verhinderung von wettbewerbs- und damit verbraucherfeindlicher Monopolisierung bzw. Oligarchisierung der Energiewirtschaft in der DDR. Den Auflagen des Amtes für Wettbewerbsschutz ist bindend nachzukommen.
II. Die Rechte und Interessen der Länder und Kommunen müssen im Sinne des §1 des Treuhandgesetzes sowie insbesondere des §5 des Kommunalvermögensgesetzes respektiert werden. Die Treuhandanstalt beginnt daher umgehend mit der Neuorganisierung der Energiewirtschaft in der DDR in voller Berücksichtigung der Interessen von Ländern und Kommunen.
Das alles wurde von der Volkskammer am 22. Juli mit großer Mehrheit beschlossen. Nach der Sommerpause jedoch, am 22. August, wurde der Stromvertrag zwischen der DDR, vertreten durch das Energieministerium und die Treuhand, und den drei großen Konzernen der Bundesrepublik unterzeichnet. Zwar wurden die drei Großunternehmen jetzt "nur" zu 75% am Grundkapital der DDR-Energieversorgung beteiligt und der Rest auf andere Unternehmen verteilt, aber die Grundintention der Volkskammerbeschlüsse war unterlaufen worden. Zugleich wurde eine Durchführungsverordnung zum Kommunalvermögensgesetz erlassen, die das Gesetz wieder einschränkte und so dem Vertrag den Weg ebnete. Wären wir nur nicht in den Urlaub gegangen! Aber wahrscheinlich ist eine Exekutive, unterstützt von mächtigen Interessengruppen, einer Legislative auch dann überlegen, wenn diese pausenlos arbeitet.
Am 6. September machte unsere Fraktion mit Bündnis 90 gemeinsam noch einen letzten verzweifelten Versuch, die Zustimmung der Volkskammer zum Vertrag zu verhindern. Wir verwiesen auf 150 Städte in der DDR, die bereit waren, die Energieversorgung selbst in die Hand zu nehmen. Aber die Liberalen waren inzwischen "umgefallen", und so passierte der Vertrag auch das Parlament. Die große Chance der Umorientierung auf eine moderne, ökologisch verträgliche Energiewirtschaft war vergeben.

Es tut mir leid, den Leser mit immer neuen Klagen belästigen zu müssen. Die letzte Klage, die ich führen muß, betrifft den Einigungsvertrag. Unsere Fraktion hatte frühzeitig auf die Notwendigkeit eines zweiten Staatsvertrages hingewiesen. Schon zur Zeit der Verabschiedung des ersten Staatsvertrages waren unsere Arbeitskreise damit beschäftigt, die entscheidenden Punkte eines zweiten zu fixieren. Hier wurde eben gearbeitet, und der sehr lebendige und von Hingabe an die Sache geprägte Diskurs in der Fraktion war in dieser sonst so ambivalenten Volkskammerzeit etwas, was nun wirklich Spaß gemacht hat. Ich habe in diesen Sitzungen nicht nur inhaltlich manches gelernt; ich habe mich oft auch einfach an der Ausdrucksfähigkeit der Kollegen und am Fortschritt der Diskussion erfreut und so erst richtig begriffen, welch große Bedeutung in der Tat der "Interaktion" neben der "Arbeit" zukommt.
Beim Einigungsvertrag hatten wir mehr Gelegenheit als beim zum ersten Staatsvertrag, unsere Vorstellungen in die Verhandlungen einzubringen. Auch das Parlament als Ganzes war diesmal stärker in die Verhandlungen einbezogen. Mehrfach wurden die Ausschüsse zu Stellungnahmen aufgefordert, die der Ausschuß "Deutsche Einheit" dann gebündelt der Delegation mit auf den Weg geben konnte. Schließlich war die Bundesregierung nach den Landtagswahlen in Niedersachsen, die der SPD die Mehrheit im Bundesrat brachten, gezwungen, auch sie stärker an der Erarbeitung des Vertrages zu beteiligen.
Auf diese Weise kamen folgende Ergebnisse zustande:
- die Anerkennung der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone
- eine Regelung der offenen Vermögensfragen bei dringenden Investitionen nach dem Prinzip "Entschädigung vor Rückgabe" (inzwischen weithin unterlaufen!)
- in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch die vorläufige Beibehaltung der Fristenlösung in der ehemaligen DDR und die Anerkennung des Prinzips "Hilfe statt Strafe" bei einer neuen gesamtdeutschen Gesetzgebung
- die Orientierung auf eine neue Verfassung für Deutschland
- eine Investitionsförderung für unsere Länder, die höher ausfiel als die bisherige Zonenrandförderung
- die Verwendung des Vermögens der SED und der Blockparteien zu gemeinnützigen Zwecken
- eine Vorgehensweise bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit, die das entsprechende Volkskammergesetz "umfassend berücksichtigte" (Um dies durchzusetzen, hatte es freilich zusätzlicher Anstrengungen der engagierten Bürger bedurft: der Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin.)
Wegen dieser Erfolge haben wir dem Vertrag nach heftigen Debatten schließlich doch zugestimmt. Aber die Debatten waren nicht ohne Grund geführt worden. Das Parlament war, obwohl es Impulse geben und Stellung nehmen durfte, doch wieder mißachtet worden, und zwar in geradezu demütigender Weise. Damit meine ich nicht, daß uns der Vertragstext erst am 6. September vollständig vorlag, weshalb wir die für diesen Tag vorgesehene erste Lesung vertagen mußten. Ich meine damit auch nicht einmal, daß die Stellungnahmen der Ausschüsse nicht hinlänglich ernst genommen wurden. Eine Woche vor der Entscheidung im Parlament hatte zum Beispiel der Ausschuß "Deutsche Einheit" noch einmal die Voten der anderen Ausschüsse ausgewertet und Herrn Krause 13 Punkte genannt, die im Vertrag noch berücksichtigt werden müßten. Im Ergebnis war nur ein einziger von ihnen erfüllt! Waren unsere Anliegen wirklich am Widerstand des Verhandlungspartners gescheitert oder waren sie gar nicht entschieden genug zur Geltung gebracht worden? Was ich als demütigend empfand, war etwas, das an die Grundlagen der Demokratie rührt: Da hatten wir nun monatelang beraten und Gesetze ausgearbeitet, die das Zusammenwachsen der beiden deutschen Gesellschaften vernünftig regulieren sollten, und am Ende stellte sich heraus, daß sie in den Einigungsvertrag gar nicht oder nur bruchstückhaft aufgenommen waren. Da ließen die Regierungen uns also Gesetze machen, die sie in den Vertrag gar nicht einbringen konnten oder wollten, von denen sie - spätestens gegen Ende der Verhandlungen hin - genau wußten, daß sie gar keinen Bestand haben würden! So geschah es mit dem Kommunalvermögensgesetz, dem Marktorganisationsgesetz für die Landwirtschaft, einem Privatisierungsgesetz für die Landwirtschaft, dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz (alle im Juli verabschiedet), einem einstimmigen Beschluß der Volkskammer hinsichtlich der Übergangszeit für die Landwirtschaft (im August), dem Rehabilitierungsgesetz, dem Gesetz über Gruppenbetriebe, dem Rundfunküberleitungsgesetz (Anfang September) und dem Zivildienstgesetz. (Obwohl letzteres aus der Zeit vor der ersten frei gewählten Volkskammer stammt, wurde es auch von ihr getragen.)
In allen diesen Punkten wurde uns also durch den Einigungsvertrag bescheinigt, daß wir ganz umsonst gearbeitet hatten. Wir wurden gewissermaßen als "Quasselbude" eingestuft! Es gibt nur eine Entschuldigung dafür, nämlich die, daß die Regierungen ebenfalls in diesen Monaten ein außergewöhnliches Arbeitspensum zu bewältigen hatten, daß sie unter Zeitdruck standen und unter Zeitdruck die Demokratie eben aus den Fugen gerät. Aber diese Entschuldigung erweist sich bald als unecht, wenn man inhaltlich genauer hinschaut.
Aus meiner Feststellung spricht nicht nur die gekränkte Eitelkeit des Volksvertreters, sondern auch das Wissen um die konkreten Folgen, die diese Weglassungen für die ostdeutsche Bevölkerung haben mußten:
Dadurch, daß das Kommunalvermögensgesetzes verkürzt wurde, verloren die ohnehin finanzschwachen Kommunen die Chance, durch Erzeugung, Verteilung und Verkauf von Energie eigene Mittel zu erwirtschaften, blieben ihnen nur Verlustgeschäfte wie Nahverkehr und Müllabfuhr. (Ich erinnere hier zugleich an die mangelhafte Finanzausstattung der Länder, die im Einigungsvertrag begründet ist.)
Mit dem Wegfall des Marktorganisationsgesetzes fiel das Preisstützungs- und Außenschutzsystem weg, das wir eingerichtet hatten, um unsere Landwirtschaft nicht abrupt härtesten Marktbedingungen auszusetzen.
Nach der Streichung des entscheidenden §8 des Privatisierungsgesetzes vom 22. Juli war es nicht mehr möglich, die Erlöse der Treuhand aus der Privatisierung volkseigener landwirtschaftlich genutzter Grundstücke vorrangig für die Sanierung und Strukturanpassung der Landwirtschaft einzusetzen.
Zugleich gab es infolge der Streichung des §53 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes für unsere kapitalschwachen Landwirte bzw. landwirtschaftlichen Betriebe keinen Schutz mehr vor kapitalkräftigen Käufern von Grund und Boden aus den westlichen Bundesländern oder dem Ausland.
Die Mißachtung des Volkskammer-Beschlusses vom 24.8. bedeutete, daß unserer Landwirtschaft kein klar definierter Übergangszeitraum zur Anpassung an den EG-Markt zugestanden wurde, wie es beim Beitritt anderer Länder zur EG üblich war.
Das Gesetz über Gruppenbetriebe hatte ein bewährtes französisches Vorbild, es kombinierte Genossenschafts- und Personenrecht und sollte den Landwirtschaftlichen Produk-tionsgenossenschaften ermöglichen, sich auf die neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen einzustellen. Daß es nicht in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde, die Bundesregierung vielmehr auf den kleinen Familienbetrieb setzte, kann nur wieder auf die Strategie der "schöpferischen Zerstörung" zurückgeführt werden.
Weil das Rehabilitierungsgesetz nur zum Teil beibehalten wurde, konnten nun die Bürger nicht mehr rehabilitiert werden, die durch willkürliche Verwaltungsakte oder willkürliche Entscheidungen von Betrieben der alten DDR Unrecht erlitten hatten. Das waren aber gerade die charakteristischen und zahlreichsten Fälle.
Weshalb das Rundfunküberleitungsgesetz, das auf der Grundlage von Art. 36 des Einigungsvertrages und in Absprache mit dem Bundesinnenminister erarbeitet worden war (!), schließlich doch nicht seine Billigung fand, das wird erst heute, angesichts der Medienpolitik der konservativ regierten südostdeutschen Länder, verständlich.
Schließlich hob der Einigungsvertrag eines der schönsten Ergebnisse der Herbstrevolution, die Gleichstellung von Wehr- und Zivildienst, wieder auf und führte auch für die Wehrdienstverweigerer bei uns die eigenartige Gewissensprüfung der alten Bundesrepublik ein.

Ich hatte mir als Pfarrer immer gewünscht, in der Gemeinde einmal mehr Taufen und Trauungen zu haben als Beerdigungen. Nun sah es 1989 so aus, als würde da eine ganz große Taufe stattfinden und eine Hochzeit noch dazu. Im Jahr darauf jedoch gewann ich den Eindruck, daß es doch nur wieder eine Beerdigung war.

 

Exemplarische Aufarbeitung der Vergangenheit

Sie begann für uns, die Mitglieder der SPD-Fraktion, schon Ende März, vor der ersten Tagung der Volkskammer, aufgrund der Enthüllungen des Spiegel über Ibrahim Böhme. Ich war ja damals immer noch neu in der SPD, jedenfalls in ihren oberen Etagen, hatte vom Machtgerangel nur erzählen hören. Umso erschrockener war ich, als ich gerade am Tag, als Böhmes Verschwinden gemeldet wurde, Richard Schröder fröhlich pfeifend durch die Räume des Hauses der Parlamentarier spazieren sah.
Ich kannte Ibrahim Böhme seit vielen Jahren und konnte nicht glauben, daß er für die Stasi gearbeitet hatte. Gewiß gab es irritierende Züge an ihm: seine allzu ausgeprägte Höflichkeit; sein verborgenes, mir eigentlich unbekanntes Privatleben (Hatte er überhaupt eines?); das Nomadische seiner Existenz (Er hatte als Waisenkind nie ein zu Hause erlebt); das Seiltänzerische seiner politschen Redeauftritte in der letzten Zeit. - Dennoch hatte ich in ihm immer einen der unseren gesehen, und zwar einen der liebenswürdigsten, weil er ein Leidender war und kein Macher. Das hat ihm sicher auch die Sympathien der Leute eingetragen und ihn zum Spitzenmann der jungen Partei werden lassen.
Böhme ist in meinen Augen zuerst Opfer gewesen, auch wenn er sich in jungen Jahren hat zum Werkzeug machen lassen. Die Täter sind andere Charaktere. Sein Fall zeigte besonders deutlich, wie sehr es darauf angekommen wäre, zunächst den Führungskräften des MfS den Prozeß zu machen.
Wenn ich diesen Gedanken, den ich ja nicht allein hatte, ansprach, dann bekam ich folgende Argumente zu hören:
1. Die Stasi sei doch keineswegs nur eine Terrororganisation gewesen, sie habe ja auch vieles Normale, in anderen Staaten ebenso Übliche getan wie Wirtschaftsaufsicht, Meinungsforschung, Spionageabwehr usw. - Darauf ließ sich leicht antworten, daß man ja nicht alle Abteilungen und Unterabteilungen der Stasi zur Verantwortung ziehen mußte, sondern nur die, die gegen Grundrechte verstoßen hatten.
2. Eine solche Masse von Menschen könne und dürfe man nicht ausgrenzen, sondern müsse sie in die Gesellschaft integrieren, nach der Losung des Herbstes: "Stasi in die Volkswirtschaft!" - Dagegen war zunächst, sofern der Akzent auf die Masse der Stasi-Mitarbeiter lag, nur ergänzend zu dem ersten Argument zu sagen, daß die hierarchische Gliederung der Organisation es doch erlaubte, die richtigen Leute zu fassen. Sofern der Akzent aber auf dem Integrieren lag, wäre einmal zu sagen: Integration darf nicht heißen, daß der Stasi-Offizier eine Spitzenposition in der Wirtschaft bezieht, während der, der unter ihm leiden mußte, womöglich arbeitslos wird; und zum anderen: In einem modernen Strafrecht hat jede Ausgrenzung letztlich das Ziel der Reintegration.
3. Eine großangelegte Aktion gegen die Stasi würde den ohnehin gefährdeten Frieden im Land möglicherweise zerstören. Stasi-Leute könnten zu Verzweiflungsaktionen mit unverantwortbaren Folgen provoziert werden. - Aber meines Erachtens gab es nach den Aktivitäten der Bürgerkomitees und der öffentlichen Bekundung des Mehrheitswillens der Bevölkerung diese Gefahr gar nicht mehr. Der innere Frieden wurde viel mehr dadurch gefährdet, daß man diese Aufarbeitung der Vergangenheit unterließ und damit nicht nur die alte dumpfe Gleichgültigkeit wieder aufkommen ließ ("Es hat ja doch alles keinen Sinn"), sondern einen düsteren Zynismus erzeugte ("Wer von Moral und Recht am wenigsten hält, kommt am weitesten")
4. Das gewichtigste und ehrwürdigste Argument war: Unser heute gültiges Recht darf nicht rückwirkend auf die Zeit angewandt werden, in der noch das alte DDR-Recht galt, und diesem gemäß war das MfS nicht illegal (nulla poena sine lege).
Zunächst ist da von Veränderungen des Rechts keine Rede, nur von zwei festen Rechtsordnungen, die miteinander nichts zu tun haben: Wenn die neue herrscht, herrscht die alte nicht mehr, und als die alte herrschte, herrschte die neue noch nicht. Aber befinden wir uns nicht gerade in einer Phase des Übergangs von der einen zur anderen Rechtsordnung? Wer die StasiLeute nicht zur Verantwortung ziehen will, der bestreitet also, daß es sich um eine Revolution handelt, ja er rechnet offenbar überhaupt nicht mit Wandel, Entwicklung, Fortschritt des Rechts, sondern lebt nur in der jeweiligen Gegenwart und hält sie für ewig. In der Tat ist das die Auffassung der Konservativen. Sie haben die Revolution nicht gewollt und sind nun daran interessiert, sie baldmöglichst zu beenden. Ihr Argument erinnert an die Beweise des Zeno von Elea, daß es Bewegung gar nicht geben könne: Im Grunde ruht der fliegende Pfeil, weil er sich in jedem Augenblick an einem bestimmten Ort befindet.
Sodann wird da von zwei gegebenen Rechtsordnungen ausgegangen statt von einem natürlichen Recht für alle. Wie ist aber die Revolution, der Übergang von der alten zur neuen Rechtsordnung, überhaupt zustande gekommen? Doch offenbar aufgrund des verbreiteten Bewußtseins, daß die alte ungerecht war und die neue gerechter sein würde. Die beiden Ordnungen wurden also an einem dritten gemeinsamen Maßstab gemessen, den die Stasi-Leute auch sehr wohl kannten: dem Menschenrecht. Selbstverständlich war die Opposition mit ihren Untergrundzeitungen, Demonstrationen, Parteigründungen auch eine permanente Verletzung des positiven Rechts der DDR. Wenn die Stasi legal war, dann war die Opposition natürlich illegal. Das bedeutet aber: Wer die Stasi heute nicht zur Rechenschaft ziehen will, der hätte aus demselben Grund (eben vom positiven Recht her) früher die Opposition zur Rechenschaft ziehen müssen. In der Tat sind die Leute, die dies früher getan oder befürwortet oder zumindest zugelassen haben, heute diejenigen, die den Eifer in bezug auf die Stasi-Vergangenheit gar nicht verstehen. Es ist der alte deutsche Rechtspositivismus, der hier wieder Blüten treibt. Konsequenterweise müßte er heute auch die Nürnberger Prozesse noch ein mal anfechten.
Schließlich: Die Stasi-Kräfte waren überhaupt nicht individuelle Rechtsverletzer, denen man ihre mangelnde Kenntnis künftiger besserer Gesetze zugutehalten muß. Es versteht sich von selbst, daß man sie unter dieser Voraussetzung nicht belangen kann, denn sie waren kollektive Vertreter des damaligen Rechts. (Umgekehrt waren auch die Oppositionellen nicht individuelle Rechtsverletzer, denen man ihre Hoffnung auf künftige bessere Gesetze zugutehalten konnte, sondern kollektive Vertreter eines gerechteren Rechts.) Wenn die Stasi-Leute nur nach den Gesetzen der alten DDR belangt werden können, dann kann man auch die Mitglieder einer Räuberbande nur belangen, sofern sie sich nicht an ihre eigenen Gesetze gehalten haben. Sie müssen aber zur Verantwortung gezogen werden, gerade weil sie sich an diese Gesetze gehalten haben. Das MfS sicherte das positive Recht der DDR gegen das Menschenrecht; es verdankte seine Existenz und sein ständiges Wachstum genau dem Widerspruch, in dem sich dieses positive Recht zu den Menschenrechten befand.
Diese Fragen wurden zwar im Frühjahr 1990 mehr oder weniger gründlich diskutiert, es gab aber keine Chance, dem rigorosen Standpunkt Geltung zu verschaffen. Ich muß gestehen, daß ich selber ihn in der Fraktion nicht entschieden vertreten habe; einmal aus dem Gefühl heraus, ja in der SPD noch ein Neuling zu sein und mich nicht vordrängen zu wollen; zum anderen und vor allem aber deshalb, weil ich seit der Enttäuschung über den DA und die Wahlen und die Große Koalition ziemlich orientierungslos und resigniert war. Meine Hoffnung, politisch noch etwas gestalten zu können, war gering. Letztlich war es nicht meine Politik, die da gemacht wurde. Ich wunderte mich, mit welchem Eifer manche meiner Fraktionskollegen ans Werk gingen: War es der billige Spaß an der Macht, der sie motivierte? Merkten sie gar nicht, daß sie im Grunde nur noch Getriebene waren? Oder waren sie robuster und realitätsnäher als ich?
Immerhin erklärte sich noch vor der ersten Volkskammertagung unsere Fraktion bereit, alle Mitglieder auf eventuelle frühere Stasi-Mitarbeit überprüfen zu lassen. Nachdem die anderen Fraktionen eine ebensolche Erklärung abgegeben hatten, wurde in der ersten Plenartagung die Bildung eines "Zeitweiligen Prüfungsauschusses" beschlossen, dessen Aufgaben und Zusammensetzung in der zweiten Tagung festgelegt wurden. Er sollte die Unterlagen des MfS/AfNS über diejenigen Abgeordneten prüfen, bei denen nach Einsicht in die Kartei der Verdacht auf eine Mitarbeit entstanden war, und bei Bestätigung des Verdachts den betreffenden Abgeordneten den Rücktritt empfehlen.
In diesen ersten Sitzungen war aber zugleich die breite Phalanx der ehemals Angepaßten so recht anschaulich geworden. Ich erinnere mich noch lebhaft an das Unbehagen, das die Vorstellung der Regierungsmannschaft bei mir hervorrief: Ein Ministerpräsident, der noch 1987 als stellvertretender Präses der Bundessynode die Verteilung des Papiers "Gegen Praxis und Prinzip der Abgrenzung" an die Synodalen untersagte, weil es staatsfeindlichen Charakter trüge. Der Minister Reichenbach, der den "Weimarer Brief" der CDU-Reformer als "Pamphlet" bezeichnet und noch Ende September 1989 in der Presse geäußert hatte, CDU und SED hätten "von jeher das Gemeinsame gesucht und ausgeübt"! Auf seine frühere Haltung angesprochen, antwortete er: Wenn ihn diese Schuld daran hindern sollte, Minister zu werden, dann müßten die ehemaligen Stasi-Mitglieder sich heute "alle aufhängen"! Ein Innenminister, der 1980 eine außerordentliche Aspirantur an der Sektion Rechtswissenschaften der Universität Leipzig erhalten und in seiner Dissertation noch vor fünf Jahren geschrieben hatte, die AgrarIndustrie-Vereinigungen hätten "grundlegende Bedeutung für den allmählichen Übergang zum Kommunismus"! Ein Justizminister, der schon unter Ulbricht dieses Amt bekleidete (1968-72) und die neue Strafgesetzgebung von 1968 mit zu verantworten hatte! Danach Professor an der Humboldt-Universität, sprach er noch 1988 überzeugt von der "Festigung und Weiterentwicklung der zum Sieg geführten sozialistischen Produktionsverhältnissse - unter tatkräftiger Mitwirkung unserer Partei" (der LDPD) und wies die Kritiker entschieden zurück, "die aus ihrem dünnen Glashaus Steine werfen in unseren aufblühenden Garten" (die DDR)! Ein Wirtschaftsminister, der schon seit 1981 im Volkskammerausschuß für Industrie, Bauwesen und Verkehr mitgewirkt und die Wirtschaftspolitik der SED mitzuverantworten hatte; der zudem als CDU-Kreisvorsitzender (in Forst) Lageberichte über die Kirche und die kirchliche Friedensarbeit an die SED geliefert hatte. Ein Entwicklungsminister, der noch im September 1989 von der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt Leipzig als Vorbild für konstruktive Zusammenarbeit gelobt worden war! Er hatte sich noch am 5. Oktober geweigert, die Thomaskirche den Friedensgruppen zu öffnen, als die Nikolaikirche die Menschenmassen längst nicht mehr fassen konnte.
Wenn schon nicht durchweg Leute aus der früheren Opposition die Regierung bilden konnten, so hätte man doch wenigstens unbelastete Personen finden müssen! Übrigens wurde die Vorstellung und Wahl der Regierung so zügig abgewickelt, daß den Abgeordneten diese Hintergründe gar nicht wirklich bekannt sein konnten. Grund zur Skepsis war jedenfalls reichlich vorhanden. Nur demjenigen, der sich mit dem alten System überhaupt auseinandergesetzt und unter ihm gelitten hatte, konnte ja an der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit wirklich gelegen sein - aber wieviele waren das schon? Die Masse derer, die sich gefügt und mitgemacht hatten, konnte daran kein ernsthaftes Interesse haben, höchstens das verlogene, an ihrer Statt ein paar Köpfe rollen zu sehen.
So kam denn der "Zeitweilige Prüfungsausschuß" mit seiner Arbeit auch nicht voran, ohne daß festzustellen war, woran es im einzelnen lag. Dankward Brinksmeier, der Vorsitzende des Ausschusses, kam aus der SPD-Fraktion und wurde wiederholt von uns hart angefragt: Fehlt eine klare Konzeption? Ist der Arbeitsstil mangelhaft? Liegt es am schlechten persönlichen Verhältnis zum Innenminister? Wir forderten mehrfach Zwischenberichte von ihm. Brinksmeier konnte zunächst immer nur darauf verweisen, daß bestimmte Fraktionen die Protokolle der Erstüberprüfung ihrer Mitglieder dem Ausschuß noch gar nicht übergeben hatten. Noch am 6. Juni, als die Einsichtnahme in die Akten beginnen sollte, fehlten solche Protokolle. Dann warf er dem Innenminister vor, die Arbeit des Ausschusses direkt zu behindern. In der Tat hatte Diestel am 10. Juli die Anordnung erlassen, daß aus Datenschutzgründen keine Einsichtnahme in MfS-Akten und keine Herausgabe solcher Akten erfolgen dürfe. Zwar wurde Ende August der Ausschußvorsitzende neu gewählt, aber zur gleichen Zeit wurden die (auch in der Presse lautwerdenden) Bedenken gegen Innenminister Diestel so stark, daß am 13. September in der Volkskammer seine Entlassung gefordert wurde. Und was die Behinderung der Ausschußarbeit durch bestimmte Fraktionen betrifft, so ergab der Schlußbericht, daß die relativ meisten einer früheren Stasi-Mitarbeit verdächtigen Abgeordneten der FDP und der CDU angehörten, wobei 9 Mitglieder der CDU-Fraktion sich noch nicht einmal zur Überprüfung bereit erklärt hatten.
Diese vorletzte (eigentlich letzte) Sitzung der Volkskammer am 28. September, in welcher der Bericht endlich gegeben wurde, wird sich den Fernsehzuschauern gewiß eingeprägt haben. Nicht nur der "Zeitweilige Prüfungsausschuß" hatte so viel Zeit gebraucht, um zu seinem - immer noch lückenhaften - Ergebnis zu kommen, sondern 56 Abgeordnete, die um ihre unklare Vergangenheit ja wußten und vom Vertrauensmann ihrer Fraktion auch darauf angesprochen wurden, hatten die Unverfrorenheit besessen, bis zum Schluß an ihrem Mandat festzuhalten. Der Sinn der Überprüfung, wenigstens die Volksvertretung von jenem bösen Erbe zu befreien und das Vertrauen in die neue Demokratie nicht zu enttäuschen, war also verfehlt.
Damit war der Antrag, die Namen der Stasi-Verdächtigen zu verlesen, erneut auf der Tagesordnung. (Er war schon in der vorangegangenen Sitzung vom Bündnis 90 gestellt worden). Und es entspann sich ein parlamentarisches Schauspiel, ein Ringen im moralischen Anspruch, wie es in der Geschichte des Parlamentarismus sehr selten sein dürfte.
Der Prüfungsausschuß, der um eine Stellungnahme gebeten worden war, erläuterte ausführlich das Für und Wider einer solchen Namensnennung, betonte, daß nicht er, sondern nur die Volkskammer selber entscheiden könne, schließlich aber schlug er vor, dem Antrag nicht zuzustimmen, denn:
Der Ausschuß sei vom Parlament verpflichtet worden, Verschwiegenheit zu wahren.
Die öffentliche Nennung des Namens bedeute, den Betreffenden gleichsam an den Pranger zu stellen, mit unkalkulierbaren Folgen für ihn und seine Familie.
- Umgekehrt könnten diejenigen Abgeordneten, deren Name nicht genannt werde, meinen, auf diese Weise ihre eigene Unbescholtenheit bestätigt zu bekommen. Das sei aber eine Illusion. Die vorliegende Liste stelle im Grunde eine "Zufallsauswahl" dar. Da das MfS die Akten "in wohlweislicher Konfusität" übergeben habe, könne niemandem bescheinigt werden, daß es über ihn keine belastende Akte in den Archiven gäbe.
Die Erwiderungen ließen nicht auf sich warten. Denn jetzt ging es nicht mehr nur um die Stasi-Vergangenheit bestimmter Abgeordneter, sondern um das, was sie daraus gemacht hatten: Mißbrauch des Vertrauens der Bevölkerung in das erste frei gewählte Parlament der DDR, Wählerbetrug und zynische Ausnutzung der bisherigen Verschwiegenheit in dieser Sache. Vermutlich hatten die Betreffenden darauf gebaut, daß das Verwischen der Spuren noch vollständiger gelungen sei. Was blieb dem Parlament angesichts dieses Zynismus anderes übrig als gezielt die Öffentlichkeit zu suchen?
Öffentlichkeit bedeutet ja nicht nur, Gericht zu halten, sondern ist auch die einzige Möglichkeit wahrhaftiger Versöhnung. Marianne Birthler (Bündnis 90) hat es treffend gesagt: "Oder glaubt hier jemand, daß geflüsterte Namen und unausgesprochener Verdacht weniger schädlich sind als die offene Auseinandersetzung? Nur diese Offenheit, mit der die Volkskammer ein wichtiges Zeichen setzen könnte, macht es möglich, daß sich hierzulande ein Klima entwickeln kann, in dem auch ehemalige Täter über ihre Vergangenheit sprechen und damit einen Neuanfang wagen können."
War es aufgrund der Aktenkonfusion, die das MfS hinterlassen hatte, leider nicht mehr möglich, zwischen Opfern und Tätern, gut und böse zu unterscheiden, so daß im Grunde alle verdächtig blieben? Aber dann hätte der Ausschuß einfach sein Scheitern eingestehen müssen und gar kein Ergebnis vorlegen können. Oder war es gottseidank nicht mehr möglich, die Spreu vom Weizen zu sondern, weil es moralisch verwerflich, nämlich pharisäisch wäre, das auch nur zu wollen? Es soll sich nur ja keiner einbilden, er sei ein Gerechter! - so konnte man die Worte des Ausschußvorsitzenden auch deuten. - Dann war das Bemühen das Ausschusses jedoch von vornherein verfehlt, wie das ganze Bemühen um Aufarbeitung der Stasi-Erbschaft, weil Opfer und Täter, gut und böse grundsätzlich nicht zu unterscheiden sind; weil es sich dabei um einen fiktiven moralischen Anspruch handelt, der die Übermacht des Bösen völlig verkennt. - Wenn die Stellungnahme des Prüfungsausschusses so zu verstehen war, dann war sie natürlich ein glänzendes Plädoyer für diejenigen, die am Verdrängen und Verschleiern des Gewesenen ein dringliches Interesse hatten. Einer der Abgeordneten warf ein, diese Argumentation erinnere ihn an die Erzählung von Franz Werfel, die darauf hinausläuft, daß der Ermordete selbst schuld ist und nicht der Mörder. Mich erinnerte sie an eine bestimmte, in Deutschland sehr ausgeprägte theologische Tradition, die von der Sünde immer viel mehr zu singen und zu sagen weiß als von der Gnade und vom Gesetz.
Nach den Erwiderungen auf das Votum des Prüfungsausschusses schlug sich das Präsidium der Volkskammer überraschend auf die Seite der Befürworter einer Namensnennung. Allerdings erklärte Frau Bergmann-Pohl, sie sehe sich nicht in der Lage, diese Handlung selber zu vollziehen, denn sie könne es nicht verantworten, daß womöglich die Familien der Betreffenden ins Unglück gestürzt würden. Daraufhin erklärte Dr. Wolfgang Ullmann als Präsidiumsmitglied seine Bereitschaft, die Namen bekanntzugeben und brachte gleich einen Briefumschlag mit zum Rednerpult, der die Liste offenbar enthielt. Aber woher hatte er den Brief? Durfte es nicht nur eine Liste, allein in der Hand des Ausschusses, geben? Doch ehe es überhaupt zur Verlesung kam, entspann sich eine lange Debatte darüber, welche Kategorie der Überprüften eigentlich öffentlich gemacht werden sollte. Denn da gab es solche, bei denen sich der Verdacht bestätigt hatte, aber auch solche, bei denen aus unterschiedlichen Gründen die Akteneinsicht nicht möglich gewesen war, oder solche, die noch gar nicht die Bereitschaftserklärung abgegeben hatten. Man einigte sich schließlich, daß um der Differenziertheit der Aussage willen alle Kategorien genannt werden sollten.
Nun war eine Pause angesetzt, die sich aber verdächtig in die Länge zog. Im Foyer wurde schon gemunkelt, es gebe Versuche, den Beschluß rückgängig zu machen. Wir schworen uns, den Saal heute nicht zu verlassen, ehe die Namen genannt wären. Nach der überlangen Pause teilte der Präsident plötzlich mit, es sei ein Antrag eingegangen, die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses durch den Ausschuß für Verfassungsreform überprüfen zu lassen. Der Antrag war von einem FDP-Abgeordneten unterzeichnet. Sofort kam der Einwand, daß ein Ausschuß doch nicht nachträglich einen Parlamentsbeschluß prüfen könne; das könne höchstens ein Verfassungsgericht, das wir aber nicht hätten. Trotzdem wurde mit knapper Mehrheit beschlossen, das Urteil des Ausschusses zu hören. Daraufhin riß uns, einigen Abgeordneten von Bündnis 90 und SPD, der Geduldsfaden: Wir setzten uns im Raum vor dem Präsidium auf den Fußboden und blockierten die Sitzung. Im Protokoll steht an dieser Stelle: "Große Unruhe", "Unterbrechung der Sitzung".
Beim erneuten Beginn machte ein Abgeordneter der CDU noch einmal den Versuch, die Offenlegung zu verhindern: "Wenn diese Namensliste nur eine haltlose Behauptung enthält ..., dann ist der Schaden menschlich nicht wieder gutzumachen." Es handle sich um eine Vorverurteilung der Betroffenen und um eine Art Indizienprozeß. Aber inzwischen hatte der Verfassungsausschuß beraten und stellte nun fest: "Es handelt sich bei den Untersuchungen nicht um strafrechtliche Sachverhalte. Zum zweiten gibt es grundsätzlich kein rechtsstaatliches Prinzip, das den Urheber von gesellschaftlich zu mißbilligenden Handlungen vor der öffentlichen Benennung schützt, wenn ein öffentliches Interesse an der Aufklärung und Benennung besteht. Dies ist in besonders hohem Maße bei Amtsträgern und Mandatsträgern gegeben."
Wer nun meinte, der Weg wäre endlich frei gewesen, diejenigen, die das Vertrauen der Wähler mißbraucht hatten, den Wählern auch bekanntzugeben, befand sich aber im Irrtum. Denn jetzt stellte der Vorsitzende der CDU/DA-Fraktion, Dr. Krause, den Antrag, die Öffentlichkeit bei der Verlesung der Namensliste auszuschließen. Die Volkskammer stelle "schon genügend Öffentlichkeit" dar, und "die Betroffenen" hätten das Recht, in der weiteren Öffentlichkeit sich selbst zu allererst "mit ihrem Schicksal" darzustellen. Man vergegenwärtige sich die Voraussetzungen dieses Antrags: ein sich selbst genügendes, den Bürgern nicht rechenschaftspflichtiges Parlament, und darin eine große Zahl von einem Schicksal betroffene, also unfreie Abgeordnete!
Bevor über den Antrag entschieden wurde, begannen jedoch einige der Überprüften, die noch vorhandene Öffentlichkeit zu nutzen und sich in persönlichen Erklärungen zu offenbaren bzw. zu rechtfertigen. Dabei kehrte ein Aspekt immer wieder und konnte die Gesamtproblematik erhellen. Schon der erste Redner, Bauminister Viehweger, schnitt das Thema an. Er war Stadtrat für Energie gewesen und hatte nach seiner Darstellung nur Situationsanalysen über diesen sensiblen Bereich an die Stasi liefern müssen. Seine Selbstrechtfertigung gipfelte in dem Satz: "Als ... ehemaliger Stadtrat von Dresden, der im Hauptteil seiner Arbeit Briketts verteilt hat, vor allen Dingen in den Wintern, und organisiert hat, daß es läuft, gratuliere ich denen, die ihre weiße Weste organisiert haben." Nehmen wir noch die anderen hinzu, die, ebenfalls in leitender Stellung, Wirtschaftskriminalität nicht anders bekämpfen konnten als mit Hilfe der Stasi, dann sollte das wohl heißen: Ihr in untergeordneten Stellungen hattet es ja leicht, sauber zu bleiben, aber in einer Leitungsposition mußte man sich zwangsläufig die Hände schmutzig machen. - Das stimmt natürlich so nicht, denn es gab sehr viele Leute in Führungspositionen, die sich nicht mit dem MfS eingelassen haben, und umgekehrt konnte gerade eine untergeordnete Stellung der Ansatzpunkt für die Werbung der Stasi sein. - Oder hieß der Satz vielleicht, daß verantwortungsethisch eine Zusammenarbeit mit dem MfS gerechtfertigt sein konnte, nur gesinnungsethisch nicht? Aber ist es nicht ein Widerspruch in sich, die Unterscheidung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik zu treffen und sich zugleich an der Unterdrückung anderer Gesinnungen zu beteiligen, d.h. die Unterscheidung wieder aufzuheben? - Oder bedeutete die Aussage: Wer mit der Ökonomie befaßt ist, kann nicht moralisch rein bleiben, und umgekehrt: Der moralische Standpunkt ist untauglich zur Bewältigung ökonomischer Probleme? Ich muß gestehen, daß ich darin einen Kern Wahrheit entdecken kann. Zwar glaube ich nicht, daß man so eine Zusammenarbeit mit dem MfS rechtfertigen kann. Ich glaube auch nicht an einen grundsätzlichen Gegensatz von Ökonomie und Moral. Aber der Satz sagt etwas über die Ursache des hier behandelten Streits aus, über die Ursache der hohen Sensibilität der Progressiven in der Stasi-Frage und der mangelnden Sensibilität der Konservativen. Seit November 1989 überwogen im Verlauf der Umwälzung in der DDR immer deutlicher die ökonomischen Probleme. Ist es eben nicht ökonomisch völlig bedeutungslos, ja womöglich sogar schädlich, wenn mit der moralischen Aufarbeitung der Vergangenheit soviel Wind gemacht wird? Wurde das nicht schon in der Nachkriegszeit bald als hinderlich für den wirtschaftlichen Aufschwung erkannt? Das Leben muß einfach weitergehen, und dazu braucht man weniger Moral als vielmehr Verstand, Geschick und Durchsetzungsvermögen. Diese elementare, ziemlich moralfreie Kontinuität der Geschichte, der ewige Kreislauf der Ökonomie ist es, woran die Konservativen letztlich glauben, nicht der moralische Fortschritt und der daher notwenige Bruch mit der Vergangenheit. Daher nicht nur ihr Desinteresse an der Stasi-Problematik, sondern auch ihre unbekümmerte Wendehalsigkeit, ihr ungenierter Opportunismus früher wie heute! Das kann nur den empören, der der Interaktion den Vorrang vor der Arbeit gibt, die ja bekanntlich schon im alten System vergötzt worden war.
Ich komme zum traurigen Schluß. Der CDU-Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit wurde durchgesetzt. Der spätere Vorschlag, nun wenigstens die Abgeordneten bekanntzugeben, deren Stasi-Mitarbeit einwandfrei nachgewiesen war, wurde abgelehnt. (Natürlich standen die wichtigsten Namen schon am nächsten Tag in der Zeitung.) Es stellte sich heraus, daß außer Bauminister Viehweger noch drei weitere Minister zu ihnen gehörten (Pohl, Steinberg, Preiß). Obwohl ich, wie erwähnt, ohnehin einen recht zwiespältigen Eindruck von der Regierung hatte, war ich von dieser Zahl erschüttert. De Maiziere wurde gefragt, weshalb er, obwohl er bereits seit 15 Tagen über den Tatbestand informiert war, bisher daraus keine Konsequenzen gezogen habe. Er antwortete, daß er über die Belastung des einen Ministers erst gestern endgültig erfahren habe, den anderen auf seine Bitte hin beurlaubt habe (nicht entlassen) und dem dritten zugestanden habe, seinen Fall zunächst juristisch klären zu lassen. (Pohl war schon im August aus anderen Gründen entlassen worden.) Verfassungsgemäß hätte eigentlich die Volkskammer über die Entlassung der Minister entscheiden müssen, aber davon war nun keine Rede mehr. Der Antrag, die Akten von Gysi und de Maiziere, die schon vor der Regierungsbildung geprüft worden waren, noch einmal vom regulären Ausschuß kontrollieren zu lassen, wurde mehrheitlich abgewiesen. Inzwischen ist der Verdacht gegen de Maiziere erneut wachgeworden, und er hat daraus die Konsequenzen gezogen.
Es fand noch eine Debatte über die neun Mitglieder der CDU-Fraktion statt, die nicht einmal bereit waren, sich überprüfen zu lassen. Sie führte zu dem Beschluß, die CDU-Fraktion nochmals untersuchen zu lassen und das Ergebnis der Volkskammer auf ihrer letzten Sitzung bzw. dem Bundestag vorzulegen. Die letzte Sitzung am 2. Oktober war aber ein Festakt, so daß mir das Ergebnis trotz Nachfrage und Mitgliedschaft im Bundestag bis heute nicht bekannt ist.
Schließlich wurde von unserer Fraktion noch beantragt, Hans Modrow von der Liste der in den Bundestag entsandten Abgeordneten zu streichen, weil er als Chef der Bezirksverwaltung der SED zugleich der Vorgesetzte der Bezirksverwaltung des MfS war. Wir wollten darauf aufmerksam machen, daß man doch nicht die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen darf. Das formalrechtliche Argument, das dagegen ins Feld geführt wurde, war der Beschluß der Volkskammer, daß allein die Fraktionen die Delegierten zu bestimmen hätten. So zogen wir unseren Antrag zurück, auch aus der Einsicht heraus, daß das Problem des Verhältnisses von MfS und Befehlsgeber SED ohnehin noch kaum behandelt worden war.
Kann die Stasi-Vergangenheit so überhaupt aufgearbeitet werden? Daß das Fußvolk gefaßt, die Drahtzieher aber laufengelassen werden, hängt natürlich damit zusammen, daß es oberhalb des staatlichen Rechts eine Dimension des willkürlichen Machtspiels gibt, daß wir kein international durchsetzbares Menschenrecht haben und uns insofern nach wie vor in einem "Naturzustand" befinden. In dieser Sphäre bewegen sich die "Großen" und profitieren davon auch dann noch, wenn sie von ihrer Höhe herabstürzen. Solange wir uns mit diesem Naturzustand abfinden, ist offenbares Unrecht nicht strafbar. Solange wir kein über den Staaten bzw. "Systemen" stehendes, gegen sie einklagbares Recht haben, ist auch das Stasi-Problem nicht lösbar, weil es eben das Problem eines ganzes Staates bzw. "Systems" darstellt. Im KSZE-Prozeß waren wir aber schon vor der Umwälzung in Osteuropa soweit, die Forderung der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten hinter uns zu lassen!
In gewisser Hinsicht ist das Problem freilich dadurch gelöst, daß das Unrechtssystem zusammengebrochen ist, d.h. sich selbst gerichtet hat bzw. von den Völkern gerichtet wurde, zumal die Umwälzung ja aus einem Neuen Denken hervorgegangen ist und der Versuch zu einer neuen internationalen Ordnung war. Aber es geht eben um ihre Weiterführung! Wird sie womöglich dadurch abgebrochen, daß der Westen sich auf ihre Intention nicht einläßt? Wenn die Menschenrechte das sind, was sie zu sein versprechen, dann ist jetzt, nach dem Ende der Spaltung der Menschheit, die Zeit gekommen, ihnen übernationale Garantien zu verschaffen. Das ist die Herausforderung, vor die die Umwälzung im Osten den Westen stellt, und die Zukunftsorientierung, die eine Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit erst ermöglicht. Sollte der Westen diese Herausforderung nicht annehmen und sich nicht entsprechend wandeln, dann wird die Menschenrechtslehre in ihrem universellen Anspruch unglaubwürdig und die Zyniker, die das Recht nur als Instrument der Macht ansehen, behalten das letzte Wort.

 

 

II

Nachruf auf den sog. realen Sozialismus

 

Der schlampige Gebrauch des Begriffs "Sozialismus" hat mich immer schon geärgert. Da bemühe ich mich nun zwanzig Jahre, meinen Mitbürgern in der DDR klarzumachen, daß das, was wir in unserem Lande haben, mit Sozialismus nichts zu tun hat; sie aber rufen "Freiheit statt Sozialismus!", scheren sich einen Dreck um meine Unterscheidung zwischen Begriff und Realität, folgen also immer noch der Ideologie, die sie abzulehnen meinen! Da haben Hochschullehrer bei uns jahrzehntelang Zeit gehabt, sich mit der Tradition des Sozialismus und der Analyse unserer Gesellschaft zu beschäftigen; dennoch wollen sie immer noch "sozialistische Errungenschaften" bewahren, den Sozialismus "weiterentwickeln" oder "modernisieren"! Da hat in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik eine intensive Diskussion um den Charakter des realen Sozialismus stattgefunden, aber ein so renommiertes Blatt wie Die Zeit kann angesichts der jüngsten Ereignisse in Osteuropa ohne weiteres eine Umfrage veranstalten unter dem pauschalen Titel "Ist der Sozialismus am Ende?".

I
Klar ist zunächst, daß das, was bei uns real existierte, geradezu als Verkehrung der normativen Gehalte der Marxschen Theorie erscheinen mußte. Marx hatte unter der "Diktatur des Proletariats" den Beginn radikaler Demokratisierung (des "Absterbens" des "Schmarotzerauswuchses" Staat) verstanden. Wir haben die Diktatur einer Partei und eine ungeheure Entfaltung der Staatsmacht erlebt. Marx hatte darauf gerechnet, daß die vereinigten Proletarier aller Länder die Gegensätze zwischen den Ländern unterlaufen und schließlich überwinden würden. Wir haben eine ungeahnte Zuspitzung der internationalen Gegensätze erlebt. Marx hatte ein gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, das zugleich die "Wiederherstellung des individuellen Eigentums" bedeuten sollte, ins Auge gefaßt. Wir dagegen haben unter einem der Gesellschaft und den einzelnen entfremdeten Partei- und Staatseigentum gestanden. Die Humanisierung der Arbeit und eine Neugestaltung des Verhältnisses zur Natur war der Kern der Zielvorstellungen von Marx. Wir haben die Entfremdung der Arbeit und die Verwüstung der Natur noch weitergetrieben.
Freilich droht der Marxismus, wenn man derart vom Normativen her denkt, zur reinen Lehre zu werden, auf die das Kriterium der Praxis wohl nie recht anwendbar ist - im Widerspruch zu seiner eigenen Intention! Wie andere Marxisten hat darum auch Lenin versucht, die Theorie der geschichtlichen Erfahrung neu anzupassen und zwar hauptsächlich durch seine Auffassung von der Partei, vom Imperialismus und von der Rolle der Produktivkräfte.
Er hat einerseits an den direkt demokratischen Vorstellungen von Marx festgehalten, andererseits aber der Partei eine Bedeutung beigemessen, die Marx völlig fremd gewesen wäre, die auf die Bedingungen der russischen Despotie zugeschnitten war und schon den Keim zu neuer Despotie enthielt. Rosa Luxemburg hat das schon 1904 bemerkt und sich gegen den "rücksichtslosen Zentralismus" Lenins gewandt, wobei sie um die Besonderheiten der russischen Situation durchaus wußte (vgl. Organisationsfragen, GW I/2, 424 ff.).
Der bewußte politische Wille der Partei war gleichsam der Ersatz für die mangelnde Stärke der Arbeiterschaft in Rußland. Zwar hat Lenin noch auf die westliche Arbeiterklasse als Revolutionssubjekt gehofft, schließlich jedoch den "nationalistischen Osten" als neuen Träger der Weltrevolution gegen den "imperialistischen Westen" angesehen (AW II, 1016 ff.). Damit waren aber an die Stelle von Klassen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft unvermerkt Staaten im weltpolitischen Zusammenhang getreten und war der Internationalismus in gefährlicher Weise mit Nationalismus vermengt.
Der Nationalismus war wieder gleichsam der Ersatz für die fehlenden positiven ökonomischen Bedingungen der Revolution. Zwar hat Lenin noch in Übereinstimmung mit Marx eine beträchtliche Unabhängigkeit der Produktionsverhältnisse vom Stand der Produktivkräfte behauptet. Zugleich jedoch hat er Marx' kritische Analyse der Struktur der Produktivkräfte geradezu ignoriert und die schleunigste Übernahme der kapitalistischen Technologie und Arbeitsorganisation proklamiert! Damit war aber der weiteren Verwüstung der menschlichen Leiblichkeit und der Natur Tür und Tor geöffnet!
Die Leninsche Neuorientierung an der geschichtlichen Erfahrung lief also auf die Schlußfolgerung hinaus, daß eine Despotie nur durch eine andere Despotie, Imperialismus nur durch einen stärkeren Antiimperialismus und Ausbeutung der Natur nur durch eine noch massivere Ausbeutung der Natur überwunden werden kann; mit anderen Worten, daß der Teufel nur mit Beelzebub ausgetrieben werden kann und es nichts Neues unter der Sonne gibt. Dabei verzichtete sie aber keineswegs auf normative Gehalte, sondern borgte sich von Marx immer noch die quasieschatologische Hoffnung auf ein Neues und Besseres! Das ist die Lüge des Schwärmertums, des Chiliasmus! So lehrte der Leninismus schließlich, die Verkehrung, die mit der Verwirklichung des Wahren verbunden ist, als solche hinzunehmen und doch zugleich als wahre Verwirklichung zu verstehen. Er lehrte das bevorstehende Absterben des Staates; die Sowjetunion war aber praktisch umgekehrt gezwungen, erst einmal ein moderner Staat zu werden! Er proklamierte den proletarischen Internationalismus; aber die internationalen Gegensätze konnten gar nicht mehr aus dem Inneren der Nationen heraus entschärft werden, sondern mußten durch Weckung eines neuen Nationalismus gerade verschärft werden! Mit dem Sozialismus sollte begonnen werden, auch ohne daß ein bestimmter Stand der Produktivkräfte schon erreicht war; dies führte jedoch nur dazu, daß die Produktivkraftentwicklung zur alles beherrschenden Forderung wurde und umso brutaler durchgeführt werden mußte, und zwar nun von den Sozialisten selber! Paradoxerweise mußten die "Sozialisten" das Gleiche tun wie die Bourgeoisie, und da die Dynamik des Kapitalismus ungebrochen blieb, mußten sie es weiter tun. Die Widersprüche, die sie zu überwinden angetreten waren, mußten sie umgekehrt selber erst herstellen. Da somit der Sozialismus durchaus nicht real werden konnte, wurde die Idee des Sozialismus als solche zu eine Realität hypostasiert. Da die praktische Welt eine "verkehrte" war, produzierte sie den Sozialismus nun als "verkehrtes Weltbewußtsein", als eine Art Religion. Er wurde "die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund" (MEW 1, 378). Was man "realen Sozialismus" nannte, war eine Gesellschaft nachholender Industrialisierung mit despotischem Erbe und einer sozialistischen Ideologie.

II
Ich erinnere kurz an die Diskussion über den Charakter des realen Sozialismus, die in den siebziger Jahren geführt worden ist. Leninisten selber hatten damals die Auffassung vertreten, es handle sich gar nicht um Sozialismus, sondern um eine bürokratisch deformierte Übergangsgesellschaft (Mandel) oder um eine Form von Staatskapitalismus (Bettelheim). Freilich waren diese Theorien noch zu sehr an den Eigentums- und Austauschverhältnissen orientiert und von der Leninschen Vergötzung der Produktivkräfte geprägt.
Die Diskussion hatte sich darum zunehmend auf den Bereich der unmittelbaren Produktion zubewegt. Hier mußte der Punkt liegen, von dem aus sowohl die Analogie als auch die Differenz zum Kapitalismus begriffen werden konnte. So war z.B. nach Robert Jungk die kapitalistische Gestalt der Technik und Arbeitsorganisation gleichsam die "trojanische Maschine", die den Erfolg des Sozialismus vereitelte. "Die Revolution veränderte zwar die Besitzverhältnisse bei den Produktionsmitteln, nicht aber ihre noch vom Geist des aufstrebenden Kapitalismus geprägte Machart, die auf Leistung und Gewinn, auf Ausbeutung und Anpassung der sie Bedienenden hin angelegt war. Die "trojanische Maschine" - ganz besonders die Rüstungsmaschine - trägt ihr Gutteil Schuld an dem Nichtzustandekommen eines humanen Sozialismus." (Jungk, Jahrtausendmensch, 76) Von ihr her ließ sich aber auch die Differenz zwischen den beiden Ordnungen begreifen. Das Staatseigentum und die ganz andersartige Herrschaftsstruktur im realen Sozialismus mußten dann darauf zurückgeführt werden, daß Technik und Arbeitsorganisation von ihm nachholenderweise übernommen wurden, also einerseits unter Zugzwang und andererseits in ihrer entwickeltsten Gestalt.
Allerdings drängt sich bei dieser Sicht des realen Sozialismus nun die Frage auf, wie es denn überhaupt zu dem Entwicklungsrückstand kam, der sich ja heute immer noch zeigt bzw. zu dem Nachholzwang, der ja immer noch anhält. Wieso mußte und muß denn diese Gesellschaft überhaupt Technik und Arbeitsorganisation in weitem Umfang von außen übernehmen, war und ist sie so wenig in der Lage, sie aus sich selber heraus entstehen zu lassen? Wer war denn überhaupt das Subjekt dieser Übernahme, da sie doch offenbar nicht spontan geschah? Wieso mußte Initiative in dieser Gesellschaft immer künstlich geweckt, gefordert, ja geradezu dekretiert werden, wodurch sie natürlich eher behindert als gefördert wurde? Woher das charakteristische Sich-selbst-im-Wege-Stehen bei allem, was man wollte?
Der sowjetischen Gesellschaft waren bestimmte Züge eigen, die gern mit sozialistischen verwechselt wurden, in Wahrheit jedoch mit dem Gegensatz Kapitalismus - Sozialismus gar nichts zu tun hatten, sondern das Erbe der halb-asiatischen Produktionsweise und ihrer despotischen politischen Form darstellten. Ich kann hier nicht auf die weitläufige Diskussion um den Charakter des alten Rußland und seine Bedeutung für die Sowjetunion eingehen. Nur auf einen wichtigen Punkt muß ich unbedingt hinweisen: auf die außerordentliche Rolle des Staatseigentums schon im alten Rußland!
Schon seit Iwan dem Schrecklichen war die Masse des Landes in Rußland staatlich reguliert oder zugewiesen (Wittfogel, 284 ff.; Gitermann, I, 179 f.). Zwar wurden im 18. Jahrhundert die pomestje-Besitzer zu Privateigentümern erklärt, sie waren aber immer noch an den Staat gebunden und durch ein zersplitterndes Erbrecht geschwächt. Nirgends in Europa sei die Stabilität des Grundeigentums so gering wie in Rußland, stellte im vorigen Jahrhundert ein Autor fest (bei Wittfogel, 246, 353). Aufgrund dessen, daß die Adligen primär Staatsbeamte und nur sekundär Grundeigentümer waren, konnten sowohl die Aufhebung der Leibeigenschaft als auch die Stolypinsche Agrarreform mit ihrer (wenn auch widerwilligen) Hilfe durchgeführt werden. Von 1861-1914 ging der Grundbesitz dieser Schicht um 40% zurück! (Wittfogel, 235, 426). Schon Marx hatte die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland als einen Vorgang eingeschätzt, der sich deutlich von der Bauernbefreiung in Westeuropa unterschied: Sie war für ihn "die Vollendung der Autokratie", die "Niederreißung der Schranken, die der große Autokrat bisher an den vielen, auf Leibeigenschaft gestützten, kleinen Autokraten des russischen Adels fand" (MEW 14, 498).
Auch in bezug auf die Industrie kam dem Staatseigentum eine Bedeutung zu, die es in Westeuropa keineswegs hatte. Zwar kontrollierten auch die absolutistischen Staaten Westeuropas die neuen Industrien in vielfältiger und penetranter Weise (anschauliche Schilderungen bei Sombart, Der moderne Kapitalismus). In Rußland jedoch war im 18. Jahrhundert die Masse der Schwerindustrie und ein beträchtlicher Teil der Leichtindustrie direkt in staatlicher Hand. "Während der Staat in anderen Ländern die Entwicklung des Industriekapitalismus eher auf indirektem Wege förderte, indem er die allgemeinen Rahmenbedingungen seiner ungehemmten Entfaltung schuf (Bau von Verkehrswegen, Industrie- und Handelsgesetzgebung, Stabilisierung des Finanzwesens, protektionistische Maßnahmen usw.), ging er in Rußland über eine solche indirekte Unterstützung weit hinaus." So entstand im 19. Jahrhundert ein "umfangreicher staatskapitalistischer Wirtschaftssektor", wie ihn der Westen bis dahin nicht kannte, und fehlte andererseits fast völlig die freie Konkurrenz. Bei aller privatkapitalistischen Monopolbildung ist es doch niemals zu einer Unterordnung des zaristischen Regierungsapparates unter die Monopole gekommen (Lorenz, 31 ff.). Vor der Revolution war z.B. das entscheidende Finanzkapital völlig unter staatlicher Kontrolle (Wittfogel, 236). Auf Rußland traf also Lenins Imperialismusdefinition überhaupt nicht zu, nach der umgekehrt der Staat immer mehr unter die Kontrolle des Finanzkapitals gerät!
Auf den Streit zwischen Leninisten und kritischen Marxisten, ob nun das Privateigentum die Ursache der Entfremdung der Arbeit sei oder umgekehrt, brauchte man sich demnach gar nicht einzulassen. Denn er war als ein Reflex der Auseinandersetzung zwischen den tief in der Geschichte verankerten Sozialordnungen des Ostens und Westens leicht zu durchschauen. Wenn Marx den Primat der Arbeitsfrage hervorhob, so dachte er bezogen auf die westliche liberale Entwicklung, setzte er die Freiheit der Gesellschaft gegenüber dem Staat voraus und hatte er den Osten gar nicht im Blick. Wenn andererseits der Leninismus den Primat der Eigentumsfrage betonte, so knüpfte er (wenn auch natürlich im Widerspruch) an die östliche soziale Tradition an, die jene Freiheit der Gesellschaft überhaupt nicht kannte. Der Leninismus rechnete sich also ein Verdienst zu, das ihm gar nicht zukam, eben die Aufhebung des Privateigentums; und er verlangte vom Westen etwas, was dort durchaus nicht als entscheidender Fortschritt begriffen werden konnte. Denn dort kam eben der Humanisierung der Arbeit Priorität zu und befürchtete man bei Eingriffen in die Privateigentumsordnung nur eine neue Übermacht des Staats.
Damit soll nun nicht etwa eine einfache Kontinuität der russisch-sowjetischen Geschichte behauptet und der Bruch, den die Oktoberrevolution bedeutet, geleugnet werden. Natürlich war der sowjetische Staat keine Fortsetzung der zaristischen Despotie und war die sowjetische Produktionsweise keine Fortsetzung der halbasiatischen. Aber daß der Kampf gegen die Despotie wiederum despotisch geführt wurde und die neue Produktionsweise, gerade indem sie gegen die alte durchgesetzt wurde, deren Züge annahm, das war allerdings charakteristisch für sie. Man erinnere sich an Lenins Formulierung, der Staatskapitalismus der Deutschen müsse übernommen werden, "ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken" (W 27, 333)! Die Theorie der nachholenden Industrialisierung (der "trojanischen Maschine") bedarf also der Ergänzung, denn es kann ihr nicht gelingen, die ganz andere Rolle des Staats im realen Sozialismus aus der Übernahme der westlichen Technik und Arbeitsorganisation abzuleiten: Indem sie von Übernahme spricht, setzt sie diesen Staat als deren Subjekt ja schon voraus! Und dieser war nicht nur Instrument, auch nicht nur Organisator der Industrialisierung bzw. der Produktion, sondern ihr despotischer Organisator, und insofern paradoxerweise zugleich ihr Hemmschuh. (Wobei die Frage allerdings offenbleiben muß, ob die Trägheit der Gesellschaft auf die Despotie oder umgekehrt die Despotie auf die Trägheit der Gesellschaft zurückzuführen ist.) Über die Analogie zum kapitalistischen Industrialismus darf die Differenz, die in den völlig anderen historischen Ausgangsbedingungen der sowjetischen Gesellschaft begründet ist, nicht vernachlässigt werden. Der reale Sozialismus ist somit historisch einzuordnen als ein "nichtkapitalistischer Weg zur Industriegesellschaft" (Bahro), wobei der Terminus "nichtkapitalistisch", der auf den ersten Blick nur unbestimmt und eine Verlegenheit scheint, die Problematik dieser Gesellschaft durchaus treffend umreißt: Es handelte sich um eine bloße Antithese zum Kapitalismus, die auf die These permanent fixiert blieb.
Wenn aber der Sozialismus nicht real war, dann kann er weder bewahrt werden noch am Ende sein. Was am Ende ist, ist der despotische Weg nachholender Industrialisierung einerseits und die sozialistische Ideologie andererseits, ist der schreiende Widerspruch zwischen Nachholzwang und Überholideologie. Was bewahrt werden wird, ist die sozialistische Idee, die ihre Träger in den vielfältigen alten und neuen sozialen Bewegungen hat. Sie zielt nicht überschwenglich auf "Überwindung", sondern nüchtern auf Begrenzung und Kontrolle des Staates, der internationalen Gegensätze und der Entfremdung zwischen Mensch und Natur.

III
Damit ist aber der Punkt bezeichnet, an dem auch an der Marxschen Theorie eine Korrektur angebracht werden muß. Daß die Verwirklichung der Idee ihre Verkehrung wurde, lag natürlich nicht nur an der bösen Wirklichkeit, sondern auch an einer verkehrten Fassung der Idee. Daß die Idee derart zur Ideologie werden konnte, lag daran, daß sie selber ideologische Elemente enthielt: ein ganzes Stück Chiliasmus! Insofern hat sich der Leninismus mit einem gewissen Recht auf Marx berufen können.
Es gibt eine Affinität zwischen der Idee der direkten Demokratie und der realen Despotie, zwischen der Idee der "Überwindung" der internationalen Gegensätze und der Realität ihrer Verschärfung; zwischen der Idee der "Aufhebung" des Privateigentums und der Verwirklichung eines willkürlichen, verantwortungslosen Staatseigentums.
Korrigiert werden muß Marx' Einschätzung des Phänomens der Repräsentation bzw. der "Vermittlung" (Hegel!), sein Glaube an Unmittelbarkeit. Ich zeige das - meiner Gliederung von vorhin folgend - zunächst in bezug auf die Innenpolitik und dann in bezug auf die Ökonomie. Die Außenpolitik lasse ich hier weg, weil bei Marx an dieser Stelle einfach ein Defizit vorliegt. (Der ursprüngliche Plan seines Hauptwerks enthielt Bücher über den Staat und den Weltmarkt, die nicht geschrieben wurden).
Im Hinblick auf die Innenpolitik ist die entscheidende Frage, ob die Idee der Diktatur des Proletariats überhaupt in sich stimmig ist (vgl. "Der Bürgerkrieg in Frankreich", MEAS I, 446 ff.)? Lassen sich liberale Grundsätze durch direkt-demokratische überhaupt in der Weise überbieten, wie es Marx im Anschluß an die Pariser Kommune vorschwebte? Wieso befürwortet Marx angesichts einer vom Mittel zum Zweck gewordenen Exekutive (Napoleon III.!), d.h. einer "Macht an sich" (die bekanntlich "böse" ist), nicht eine Stärkung der Legislative und Judikative, d.h. der Macht der Vernunft und des Rechts? Der ursprüngliche Sinn des Prinzips der Gewaltenteilung war es doch, die alleinige und daher willkürliche Gewalt zwar nicht zu zerbrechen, aber zu brechen, eben durch Teilung zu verrechtlichen und zur Vernunft zu bringen. Marx hält das Prinzip für überflüssig, weil er es in der Diktatur des Proletariats als radikal und total verwirklicht ansieht: Vermittels eines mysteriösen revolutionären "Sprungs" ist die Gewalt hier ohnehin gleich auf das ganze Volk verteilt und damit Recht und Vernunft selbstverständlich geworden. Aber darf man dessen so sicher sein?
Daß andererseits in der alten Ordnung die Legislative zur "Gewalt der Phrase" und die Unabhängigkeit der Richter zum Schein geworden sind, läßt sich doch nur sagen, wenn man sie an ihrem Wesen mißt, also anerkennt, daß sie es ihrem Wesen nach eben nicht sind. (Nach den positiven Erfahrungen mit dem allgemeinen Wahlrecht in Deutschland hat Engels ja später der Arbeiterbewegung auch andere Ratschläge gegeben: vgl. Einl. zu Marx, Die Klassenkämpfe..., AS I, 114 f.) Marx argumentiert hier tatsächlich in einer Weise, die wir vom Leninismus her kennen und die darin besteht, daß ständig vom Mißbrauch einer Sache auf deren Unbrauchbarkeit überhaupt geschlossen wird und so das (saubere) Kind mit dem (schmutzigen) Bade ausgeschüttet wird. Natürlich ist das Kind nie ganz sauber, ist die Sache nie ganz von Mißbrauch frei, haften der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt immer Mängel an. Aber angesichts einer verrückt gewordenen nackten Vollzugsgewalt treten sie in den Hintergrund, und man kann nicht alle Probleme auf einmal lösen.
Im Hinblick auf die Ökonomie sagt Marx im Unterschied zum Leninismus, daß die Selbstentfremdung der Arbeit die Ursache des Privateigentums sei, nicht umgekehrt. Also kann die Herrschaft des Privateigentums nur gebrochen werden durch die beherrschte Arbeit selber. Das ist einleuchtend insofern, als der 3. Feuerbachthese gemäß ja ausgeschlossen werden muß, daß die kapitalistischen Umstände von einer höheren Instanz stellvertretend für die Menschen verändert werden, die Revolution also nur zu neuer Herrschaft führt (Staatseigentum!) bzw. gar nicht eigentlich stattfindet. Daß aber die Herrschaft des Privateigentums überhaupt "aufgehoben" werden soll, ist dabei vorausgesetzt, so sehr Marx die notwendigen Bedingungen dafür deutlich macht. Es ist das aber die gleiche Voraussetzung, die wir im Zusammenhang der Politikkritik schon fragwürdig fanden: die einer direkten Demokratie und Ablehnung jeglichen Vertretenwerdens, jeglicher Repräsentation. Wie die unmittelbare Demokratie nicht davor geschützt ist, in Despotie umzuschlagen, so ist die "unmittelbar vergesellschaftete Arbeit" (MEW 23, 92 f. u.a.) nicht davor geschützt, in Zwangsarbeit umzuschlagen. In der Tat kann Marx auch nicht begreiflich machen, worauf diese Unmittelbarkeit sich gründen soll: auf die Internalisierung des allgemeinen Produktionsinteresses, das bisher das Kapital vertrat, also auf einen noch nie dagewesenen Arbeitsenthusiasmus? (vgl. etwa Gru, 231: "die strenge Disziplin des Kapitals" werde "allgemeiner Besitz des neuen Geschlechts" sein!) - Oder auf eine solche Verbesserung der Bedingungen der Arbeit, daß sie aus einer Last zu einer Lust werden kann (Engels, Anti-Dühring) und es den Individuen erlaubt, sich "total" zu entwickeln (MEW 23, 512)? Zugespitzt gefragt: Ist nun Erlösung durch die Arbeit oder von der Arbeit (im bisherigen Sinne) gemeint? Wenn Marx dann im Alter nüchterner sagt, daß die Sphäre der materiellen Produktion immer ein "Reich der Notwendigkeit" bleiben werde und das "Reich der Freiheit" nur "jenseits desselben" aufblühen könne, so hat er damit zwar nicht das Ziel einer Humanisierung der Arbeitsbedingungen aufgegeben (vgl. MEW 25, 828), aber doch das Ziel, die Entfremdung der Arbeit geradezu zu "überwinden". Der innere Widerspruch, in dem die Arbeit sich bewegt, wird ja so nicht mehr "gelöst", sondern nur relativiert durch Einbettung in das umfassendere soziale Leben. Wenn aber dieser Widerspruch nur begrenzt, überbrückt, von außen reguliert werden kann, dann muß es auch eine eigene rechtliche Sphäre geben, die eben das leistet. - Wie wir daher vorhin gefragt haben, ob nicht ein Unterschied besteht zwischen einem Vorrang der Legislative und einem Übergewicht der Exekutive, zwischen einer Vertretung des Allgemeininteresses und einer Usurpation dieser Vertretung durch Sonderinteressen, so müssen wir jetzt fragen, ob das Privateigentum an Produktionsmitteln denn notwendig das allgemeine Produktionsinteresse, das es den Konsuminteressen gegenüber vertritt, für Sonderinteressen usurpieren muß, oder ob es nicht kontrolliert und gezwungen werden kann, sich auf jene Repräsentation zu beschränken. Warum soll die Herrschaft des Privateigentums überhaupt verschwinden und nicht vielmehr sozial (uns ökologisch!) eingegrenzt werden? Die Arbeiterbewegung der westlichen Länder hat sich jedenfalls mit dieser Zielstellung begnügt und entsprechend Elemente von Demokratie korrigierend auch in die Wirtschaft eingebracht.

IV
Das ist die Position der Sozialdemokraten frühestens seit Bernstein, spätestens seit Bad Godesberg. "Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe", keine Gegebenheit (Grundsatzprogramm, Bad Godesberg 1959).
Für Sozialdemokraten ist der Staat nicht bloß Machtinstrument der herrschenden Klasse, sondern auch eine genuine Form des Zusammenlebens. Sie zielen nicht darauf, ihn zum "Absterben" zu bringen, sondern seine Exekutivgewalt zu begrenzen und zu kontrollieren. Sie vertreten nicht eine direkt-demokratische Ideologie bei gleichzeitiger despotischer Politik, sondern bekennen sich zur indirekten Demokratie und versuchen, diese durch direkt-demokratische Elemente zu korrigieren und zu ergänzen. Sozialdemokraten wollen nicht einen proletarischen Internationalismus mit nationalistischen Mitteln durchsetzen, machen den Internationalismus also nicht zur nationalistischen Ideologie, sondern erkennen die Nationen und ihre Gegensätze als eine Realität an und versuchen, diese Gegensätze zu überbrücken und vernünftig zu regulieren (vgl. das Konzept der Sicherheitspartnerschaft). Sozialdemokraten können darin keine sozialistische Lösung sehen, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln durch das Staatseigentum ersetzt und die Entfremdung der Arbeit in neuer Form reproduziert wird. Sie sehen überhaupt nicht die Eigentumsfrage, sondern die der Entfremdung der Arbeit als Schlüsselfrage an. Sie gehen von der bestehenden Privat-Eigentumsordnung als Tatsache aus und suchen sie durch Gegenmachtbildung der Arbeiter, demokratische Mitbestimmung und Humanisierung der Arbeit zu relativieren und zu unterlaufen. Zugleich stellen sie seit den siebziger Jahren dem herrschenden Konsum- und Wachstumsfetischismus die Forderung nach Lebensqualität und einem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft entgegen.

 

 

Notiz über den mißverständlichen Begriff "Bewahrung der Schöpfung"

 

Von Sentimentalitäten abgesehen kann der (moderne) Mensch die Natur wohl noch weniger lieben als die Menschheit. Hier wird seine Liebe nicht nur abstrakt, sie schlägt sogar in Gleichgültigkeit um. Die Liebe zur Natur scheint von vornherein nichts anderes zu sein als der Wille, sie zu beherrschen. Je tiefer die "Liebe" zu ihr, die Versenkung in ihre Zusammenhänge, die Verliebtheit in ihre Details (Naturwissenschaft), desto größer die Chancen ihrer Beherrschung (Technik). In der Arbeit scheint der Mensch mit der Natur solidarisch zu werden, ja sich ihr zu unterwerfen; in Wahrheit jedoch unterwirft er damit sie, eignet er sie sich an, überlistet er sie, indem er sie schließlich in Gestalt der Maschine für sich arbeiten läßt. Weil die Natur blind und in sich widersprüchlich ist, kann der Mensch derart ihre Kräfte gegeneinander ausspielen und sie ausnutzen. Die "Liebe" zu ihr ist nur eine List, ein Manöver, sie zu täuschen.
Und muß der Mensch nicht so mit ihr verfahren? Zunächst verhält die Natur sich ja auch heute keineswegs nur freundlich und duldsam ihm gegenüber - wie manche Romantik offenbar voraussetzt -, sondern oft auch feindlich und jedenfalls unberechenbar. Immer wieder geht sie gleichgültig nicht nur über unsere technischen, sondern auch über unsere moralischen Zwecke hinweg. Zwischen Mensch und Natur ist eine Fremdheit, die schon gedanklich kaum zu überbrücken ist. Der Mensch steht daher vor der Alternative, diese Irrationalität entweder hinzunehmen und wieder schicksalsgläubig zu werden oder über alles Schicksalhafte hinweg Rationalität zu setzen, Sinn zu stiften. Er kann in der Natur, wie er sie vorfindet, gar nicht leben, er muß sie umgestalten zu einer "zweiten" Natur. - Sodann ist zu bedenken: Wenn es schon beim menschlichen Zusammenleben in größerem Rahmen ohne Leitung und Regierung nicht abgeht, dann doch umso mehr beim Zusammenleben mit der bewußtlosen Natur. Da hier eine konkrete und zugleich allumfassende Liebe noch weniger erfahrbar ist, es zwar Symbiosen gibt, zugleich aber einen unerbittlichen Kampf ums Dasein, kann man spekulieren, ob die Natur nicht selber gleichsam nach einem verlangt, der sie stellvertretend vereinigt, und ob dieser Repräsentant der Natur nicht der Mensch ist. Es könnte dann nur darum gehen, daß er seine Herrschaft über die Natur nicht willkürlich, sondern "rechtlich" (den Gesetzen der Natur entsprechend) ausübt, nicht jedoch darum, auf sie zu verzichten. - Schließlich ist von "Herrschaft" wie von "Liebe" in diesem Zusammenhang wenn überhaupt, dann ohnehin nur in einem analogen Sinne zu reden. Wenn Herrschaft über Menschen kritisiert wird, weil da Menschen als Hunde oder Dinge behandelt werden, so ist damit eben auf den Unterschied zwischen Mensch und Natur abgehoben und gesagt, daß dies ein der Natur gegenüber angemessenes Verhältnis bzw. hier gerade nicht Herrschaft ist. Herrschaft über die Natur zu kritisieren, heißt daher schon, die Natur in unangemessener Weise zu vermenschlichen.
Das Problem, das uns schon die ganze Zeit über bewegt, ist freilich: Wird der Mensch, indem er fortschreitend an seiner zweiten Natur baut, nicht nun von dieser abhängig, und zerstört er damit nicht notwendig die erste Natur, so aber zugleich seine eigene Lebensbasis? Sollte er daher nicht doch aufhören, die Natur beherrschen zu wollen und sie wieder lieben und ehren lernen? Zumal es die Frage ist, wer auf längere Sicht wen überlistet! Rächt sich die Natur nicht für alle Vergewaltigung, die wir ihr antun? Je mehr wir von ihr begreifen, desto größere Rätsel gibt sie uns auf. Je tiefer wir in sie eindringen, desto bedrohlicher werden die Gewalten, mit denen wir es zu tun bekommen. Wenn wir sie in Gestalt der Maschine für uns arbeiten lassen wollen, dann müssen wir zuvor unsere eigene körperliche Arbeit zum mechanischen Ablauf erniedrigen und danach unsere geistige Arbeit zu Monotonie verdammen. Indem wir uns die Natur anzueignen meinen, werden wir vielmehr in Produktion und Konsum auf sie fixiert und von ihr vereinnahmt. Das oben Gesagte läßt sich also auch im entgegengesetzten Sinne deuten: Wir scheinen die Natur zu unterwerfen, in Wahrheit unterwirft immer noch sie uns! Und unser vollkommener Sieg über sie wäre eigentlich unsere vollkommene Niederlage. Wenn unser Fortschritt in der Naturbeherrschung demnach nur eine Einbildung ist - und zwar eine gefährliche Einbildung, weil sie uns über die natürlichen Leiden hinaus maßlose künstliche Leiden beschert -, sollten wir uns dann nicht endlich von ihm verabschieden?
Aber eine neue Liebe zur Natur wäre nicht nur aufgrund unseres geschichtlichen Standes, sondern auch grundsätzlich identisch mit einer romantischen Liebe zum Tode, sofern menschliches Leben eben nur in einer zweiten Natur möglich ist! Stehen wir also vor dem Dilemma, entweder unsere natürliche Umwelt zu erhalten, damit aber uns selbst aufzugeben, oder uns selbst zu erhalten, damit aber die natürliche Umwelt preiszugeben und so schließlich auch uns selbst? Wenn menschliche Produktion und Bewahrung der Natur derart einander ausschließen, dann ist das menschliche Leben so oder so, direkt oder indirekt zum Untergang verurteilt, dann ist es von tragischem Charakter. Und aus diesem Dilemma haben wir nur dann eine Chance herauszukommen, wenn Mensch und Natur nicht in einem solchen prinzipiellen Gegensatz zueinander stehen. Genau das aber ist das biblische Wort in dieser Sache! Denn die biblische Verheißung besagt doch, daß beide zum Leben bestimmt sind, freilich zu einem ganz anderen Leben, als wir es aus der geschichtlichen Erfahrung kennen.
Die biblischen Aussagen scheinen hier widersprüchlich: Die eine Tendenz ist die oben schon angeklungene: Die Erde ist nicht Eigentum des Menschen, also auch nicht bloßes Material seiner technischen Verfügungsmacht. Der Mensch verfügt auch nicht über sich selbst, sondern ist wie die Natur Gott unterstellt. Der Mensch scheint also in den Zusammenhang der Natur eingeordnet, selbst ein Naturwesen zu sein. In diese Richtung weist es etwa, wenn nach der Priesterschrift der Mensch am selben Tag geschaffen ist wie die Tiere, und die Tiere nicht zum Nahrungserwerb töten darf (jedenfalls bis Gen. 9, 3 f.), wenn in den Psalmen die Natur dankbar bewundert wird, wenn Jesaja vom Ende des Kampfes ums Dasein spricht (Jes. 11, 6-8) oder wenn Paulus sagt, daß die Schöpfung mit uns auf die Befreiung wartet (Röm. 8, 19 ff.). - Dagegen steht aber nun eine andere starke Tendenz, die dem Christentum gerade in jüngster Zeit viel Kritik eingetragen hat (vgl. etwa Carl Amery): Der bekannte Auftrag an den Menschen, die Natur zu unterwerfen (Gen. 1, 28), die radikale Entzauberung der Natur in den Schöpfungsgeschichten und die Entmachtung der Geistermächte im Neuen Testament (etwa Röm. 8, 38 f.). Hier wird ja der Mensch wie nirgends sonst in der Antike über die Natur erhoben und diese rationaler Verwertung zugänglich gemacht! Wie sind diese einander entgegengesetzten Tendenzen miteinander zu vereinbaren?
Ich sehe die Lösung darin, daß wir streng von dem Eigentum Gottes am Menschen und an der Natur zugleich ausgehen. Gott will zu seinem Recht an der ganzen Schöpfung kommen, er will "alles in allem" werden (1. Kor. 15, 28, vgl. Kol. 3, 11). Sowohl der Mensch als auch die Natur gehören letztlich - d.h. in eschatologischer Perspektive - nicht sich selbst, sondern Gott. Die Natur wird dem Menschen immer neu geschenkt und der Mensch wird dem Menschen immer neu geschenkt. Mißachtet man dieses doppelte Recht Gottes, so wird man entweder die Natur als bloßes Material nehmen und sich als ihren absoluten Herrn verstehen. Diese Selbstvergötzung des Menschen geht dann einher mit der Vergötzung der eigenen Produktion und der Unterwerfung unter sie und führt so zum Klassengegensatz (neuzeitlicher Kapitalismus). Oder man wird die Natur als wunderbaren Kosmos anbeten und sich ihr unterworfen wissen. Die Vergötzung der Natur bedeutet aber Verwischung des Unterschieds zwischen Mensch und Natur; mit der sozialen Konsequenz, daß Menschen direkt mit der Natur identifiziert, als Dinge behandelt werden können. Sie führt also ebenfalls zum Klassengegensatz (antike Sklaverei)! Das wird heute oft vergessen, wenn man angesichts der ökologischen Probleme eine neue Naturfrömmigkeit anstrebt. Diese soziale Konsequenz der Verdinglichung von Menschen will die Bibel ausschließen, indem sie die Natur der rationalen Bearbeitung übergibt. Gewiß gehört die Natur nicht dem Menschen, aber der Mensch gehört auch nicht ihr! Die Bibel führt aus dem beschriebenen Dilem ma heraus: Sie bewundert die Natur, sofern sie als Gottes Schöpfung Bewunderung verdient. Die Schöpfungstaten Gottes vor Augen, kann der Mensch sich nicht als absoluter Herr vorkommen. Seine Arbeit ist nicht Schöpfung. Aber die Bibel betet die Natur nicht an, sie schließt eine Vergötzung der Natur aus und verhindert so, daß der Mensch als ihr Sklave verstanden und behandelt wird. Seine Arbeit ist auch nicht bloß ein Naturgeschehen. Indem die Natur als immer neues Geschenk erfahren wird, ist der Mensch weder ihr Sklave noch ihr Herr, sondern er geht mit ihr um, wie man eben mit einem kostbaren Geschenk umgeht.
Von der Bibel her ist also etwa der Versuch, die Natur als "Partner" des Menschen zu deuten und so zu personifizieren, nicht vertretbar. Partner des Menschen sind nur in einem analogen Sinne die Lebewesen, und "die Natur" als ganze begegnet uns gar nicht. Die Natur aber als immer neues Geschenk zu verstehen, das bedeutet:
(a) Sie ist "sehr gut", für unsere menschlichen Bedürfnisse offen, und wir brauchen das Widerständige und Bedrohliche, das von ihr ausgeht, nicht als "Geschick" hinzunehmen.
(b) Sie ist keine geschlossene, fertige Sache, sondern offener Prozeß, überraschende Geschichte.
(c) Wir können sie immer nur ausschnittweise erfahren und nur besitzen, nie ganz begreifen und zum Eigentum haben.
In dieser Richtung ist das verheißene ganz andere Leben zu suchen, in dem Mensch und Natur miteinander vereinbar werden. Fassen wir es als Postulat unserer praktischen Vernunft auf, so folgt daraus zumal heute die Forderung einer anderen Weise des Produzierens. Die Frage nach dem ganz anderen, "ewigen" Leben ist praktisch-ethisch immer die nach dem wahren, d.h. entsprechenden Leben in der Zeit gewesen. Und die Frage danach ist theoretisch-dogmatisch wiederum die nach der realen Voraussetzung dessen.
Unsere Situation scheint mir nun dadurch gekennzeichnet, daß wir die Produktion als solche vergötzen, ohne ihr übergeordnete Zwecke. Damit ist sie aber von den anderen Dimensionen des geschichtlichen Lebens losgelöst und von Destruktion letztlich gar nicht mehr zu unterscheiden. Der volle Begriff der Zivilisation ist verloren und eine unheimliche Nähe zur Barbarei gegeben, am deutlichsten im "Gleichgewicht des Schreckens", auf dem unsere Welt bis vor kurzem beruhte. Daraus ergibt sich wie der Kater aus dem Rausch die ständige Sehnsucht nach einer ursprünglichen, einfachen, "ersten" Natur. Aber diese erste Natur ist nicht weniger zweideutig und als solche, losgelöst von der zweiten, ebenfalls eine Fiktion. Was man von ihr verlangt, kann sie niemals leisten: Heimat zu sein. Diese Sehnsucht ist daher nur das ohnmächtige schlechte Gewissen des Produktionsgötzendienstes oder dient sogar dazu, seine destruktive Kehrseite zu verstärken. Denn die Vergötzung der Natur ist heute nicht mehr naiv wie in der Antike, und wenn die Natur für uns nicht mehr in diesem Sinne Natur sein kann, dann sucht man sie womöglich künstlich wiederherzustellen, durch Zerstörung der Zivilisation mit zivilisatorischen Mitteln (vgl. den Nationalsozialismus!).
Offensichtlich zerstörerisch ist also einerseits eine Produktion, die blind über die Naturbedingungen hinweg ständig quantitativ erweitert und um ihrer selbst willen betrieben wird. Abzulehnen ist aber andrerseits auch eine Totalkritik der industriellen Zivilisation, die an vorindustriellen Zeiten oder der Natur ihr Leitbild sucht. Denn diese Kritik schüttet das Kind mit dem Bade aus und ist in der Atomkriegsdrohung längst institutionalisiert. Es geht nicht einfach um Begrenzung oder Abbau der Produktion, sondern um die Bestimmung ihrer Ziele, ihre Einbettung in das Ganze des menschlichen Lebens und ihre entsprechende Umgestaltung. Lebensfördernd wäre daher ein Produzieren, das den Naturbedingungen bewußt Rechnung tragen würde, um der wirklichen Bedürfnisse willen betrieben und ständig qualitativ verbessert würde. Die biblische Lebenszusage besagt, daß dies überhaupt möglich ist und macht uns frei, in dieser Richtung erfinderisch zu werden.

 

 

Chancen und Aufgaben politischer Bildung: Wie können wir die Aufklärung noch fortsetzen?

 

I Anknüpfung: Das Verlangen nach Mündigkeit als Motiv der Herbstrevolution

Es ist ganz unvermeidlich, beim Thema "Mündigkeit" auf Kants berühmte Definition der Aufklärung zurückzugreifen: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache der selben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung." ("Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" in: Schriften zur Rechtsphilosophie, 215) In der Tat kann diese Definition uns helfen, die Revolution in der DDR (und den anderen Ländern Osteuropas) richtig zu deuten. Denn ein Motiv dieser Revolution war zweifellos das Bedürfnis der Menschen, sich endlich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen zu können, es war keineswegs bloß das Streben nach westlichem Wohlstand! Schon die, die ausreisten, taten das ja nicht bloß um des Wohlstands willen, sondern auch, um endlich ihren eigenen Verstand gebrauchen und sich als mündige Menschen bewegen zu können. Im Herbst 89 haben wir es dann wie ein Wunder erlebt, daß da Leute, die wir nur als "Muffel" kannten, plötzlich reden konnten, ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken konnten; daß sie eine Phantasie und einen Witz entfalteten, wie wir es bei DDR-Bürgern nie für möglich gehalten hätten; daß sie Analysen und Konzepte zu allen möglichen Problemen des Zusammenlebens ausarbeiteten, für die sich zwar heute niemand mehr interessiert, aber nicht etwa, weil sie überholt sind! - Auch die Unmündigkeit zuvor war im Grunde eine selbstverschuldete, d.h. im Mangel der Entschließung und des Mutes begründet. Denn einerseits waren die Bürger bei uns nicht dümmer, auch nicht weniger informiert als anderswo; andererseits waren die Zwänge des Systems nicht unausweichlich. Und so war die Umwälzung ein - freilich etwas später - Akt der Aufklärung, d.h. des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sie war politische Bildung im Vollzug, als Ereignis, aber die reale Geschichte ist, wie's scheint, über sie hinweggegangen.
Am liebsten würde ich die ganze kleine, so wunderbare Schrift Kants hier vortragen, denn sie enthält noch eine Fülle von Hinweisen zur Deutung dessen, was wir in den letzten Jahren erlebt und empfunden haben.

II Erinnerung: Unmündigkeit und Vormundschaft im politischen System der DDR

"Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit." (ebnda, 216) Satzungen und Formeln: Wie haben wir uns mit ihnen plagen müssen, in der Schule, im Studium, bei der Zeitungslektüre! Ich selber frage mich heute, ob ich nicht Jahre meines Lebens umsonst damit zugebracht habe, mich mit den Formeln der Leninisten auseinanderzusetzen, die vielleicht nur noch den Sinn hatten, vom eigenen Verstandesgebrauch abzuhalten.
"Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen... Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich: ja, es ist, wenn man ihm nur die Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich." (S. 216) Wie haben wir unter der Vereinzelung gelitten und darunter, daß Öffentlichkeit nicht zustande kam! Nicht von ungefähr begann die Perestroika in der Sowjetunion mit der Forderung nach Glasnost.
(Übrigens kommt Kant, indem er den öffentlichen Gebrauch der Vernunft fordert, erst zum eigentlichen Begriff der Mündigkeit, und geht er über seine eigenen philosophischen Grundlagen hinaus: Der Verstandesgebrauch ist an die Sprache gebunden, wie schon Hamann und Herder gegen Kant eingewandt haben.)
Weil bei uns die Partei an ihrem Erkenntnismonopol und dem selbstgerechten Anspruch auf Gestaltung des ganzen sozialen Lebens festhielt, konnte es zu Dialog und Öffentlichkeit natürlich nicht kommen.
Der Schein der Wissenschaftlichkeit und des Immer-Rechthabens mußte vor der Bevölkerung durch Informationsschranken und eine Aura des Geheimnisses aufrecht erhalten werden. Obwohl die Sprache bekanntlich dazu dient, etwas auszusagen, wurde sie nun umgekehrt dazu benutzt, das Wichtige möglichst nicht auszusagen. Sie mußte wie die Katze ständig um den heißen Brei herumschleichen. Realität sollte ja nicht aufgedeckt, sondern gerade zugedeckt werden. Daher die weitgehende Gehaltlosigkeit der politischen Berichterstattung und das entsprechende Desinteresse, auf das sie stieß. Zur Verheimlichung und Verschleierung kam hinzu die peinliche Tendenz zu beschönigen und zu harmonisieren: Die Bürger sollten durch die Medien nicht mit Widersprüchen und Schwierigkeiten konfrontiert werden, offenbar aufgrund der Befürchtung, daß sie dem nicht gewachsen wären, daß das ihren Enthusiasmus schwächen und sie entmutigen könnte! Es ging um die Mobilisierung einer Masse, gar nicht um die Information mündiger Bürger. Das hing damit zusammen, daß man von der schwärmerischen Tradition der direkten Demokratie und des "Absterbens des Staates" nicht loskam. Das Witzige war, daß die Bürger zwar zum Mitplanen und Mitregieren ermuntert wurden, man ihnen jedoch zugleich fortwährend zu verstehen gab, daß im Grunde ihr Mitplanen und Mitregieren gar nicht nötig sei, insofern ja alles wunderbar lief. Da die öffentlichen Verlautbarungen eben nicht Probleme, sondern geplante oder gelungene Lösungen betrafen, blieb den Bürgern gar nichts weiter zu tun, als sie hinzunehmen oder (im Stillen) abzulehnen. Die Bürger wurden also ideologisch überschwenglich ernstgenommen, real aber als mündige Menschen mißachtet. Das Pauschale der Hinnahme oder Verweigerung, zu der sie gezwungen waren, bedeutete, daß sie vor eine konkrete politische Sachfrage niemals gestellt waren.
Indem die Partei ständig nur Vorträge hielt, so tat, als gäbe es außer ihr im Grunde niemanden, der ihr etwas Entscheidendes sagen könnte, rief sie ein großes demonstratives Schweigen in Lande hervor und auf die Dauer einen Verfall der Sprache. Die DDR-Gesellschaft war bis auf ihre Schriftsteller eine recht stumme, sprachlose Gesellschaft. Jeder, der im westlichen Ausland aufmerksam beobachtete, konnte den höheren Grad an Wachheit, Reflektiertheit des Lebens dort feststellen und mußte nach der Rückkehr den Eindruck des Dumpfen und Stumpfen haben.
Da die Partei im Grunde immer schon Bescheid wußte, konnte sie auch selber nichts mehr entdecken, brauchte sie nur noch zu zitieren, die bekannten Formeln zu beschwören. Reden, Verlautbarungen, selbst persönliche Gespräche wurden so zum Ritual. Man fragte sich vergeblich, ob die Redner denn selber glaubten, was sie verkündeten, geschweige denn die Zuhörer, was sie hörten; vergeblich deshalb, weil es auf persönliche Wahrhaftigkeit ja überhaupt nicht mehr ankam, nur noch aufs äußerliche Mitmachen.

III Aufarbeitung der Vergangenheit: Die Paradoxie der Unmündigkeit unter der Losung von der Mündigkeit aller

"Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter mariorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein..." (S. 215) Wie oft haben wir uns über diese Faulheit und Feigheit geärgert, allerdings in dem Wissen, daß sie in Deutschland eine große Tradition hat; und andererseits in dem Wissen, daß uns nicht so sehr die Natur als vielmehr die Geschichte freigesprochen hat, vor etwa 200 Jahren, oder noch genauer: die neutestamentliche Botschaft, als sie vor über 450 Jahren wiederentdeckt wurde!
Liegt hier auch der Grund, weshalb die ideelle Vorbereitung unserer Revolution so dürftig ausfiel? Weil ihre geistigen Grundlagen so lange schon bekannt waren und andererseits die Hohlheit der herrschenden Ideologie allzu offensichtlich war?
Aber das Problem ist komplizierter: Der Marxismus wollte ja ursprünglich ein Mehr an Mündigkeit gegenüber dem Liberalismus erreichen! Das Paradoxe ist ja, daß diese Theorie, die über die Aufklärung doch hinausführen wollte, gerade hinter sie zurückgeführt hat. Es ist klar, daß das, was bei uns real existierte, ganz im Gegensatz zur Marxschen Theorie stand. Marx hatte unter der "Diktatur des Proletariats" den Beginn radikaler Demokratisierung (des "Absterbens" des "Schmarotzerauswuchses" Staat) verstanden. Wir haben die Diktatur einer Partei und eine ungeheure Entfaltung der Staatsmacht erlebt. Marx hatte die Pariser Kommune gelobt, weil sie mit dem Prinzip der Öffentlichkeit ernstgemacht hatte: "Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten." (MEAS I, 500) Wir haben eine Regierung erlebt, die sich ständig vergeblich bemühte, das Publikum in ihre Vollkommenheiten einzuweihen! Wie ist diese Verkehrung zu erklären?
Sie ist zunächst auf Lenin zurückzuführen. Er hat einerseits an den direkt-demokratischen Vorstellungen von Marx festgehalten, andererseits aber der Partei eine Bedeutung beigemessen, die Marx völlig fremd gewesen wäre. Sie war auf die Bedingungen der russischen Despotie zugeschnitten und enthielt schon den Keim zu neuer Despotie. Rosa Luxemburg hat das sehr früh (1904) bemerkt und sich gegen den "rücksichtslosen Zentralismus" Lenins gewandt (vgl. "Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie", GW I/2, 424 ff.). Aber obwohl es auch vielen anderen lange schon klar war, wohin Lenins Weg führen würde, wurde er doch bis zum bitteren Ende beschritten. Kann man daran nicht sehen, wie wenig politische Aufklärung im realen geschichtlichen Handgemenge auszurichten vermag? Die Verkehrung ist sodann auf die Ausgangsbedingungen der Oktoberrevolution zurückzuführen: Da war ja kaum eine bürgerliche Ökonomie und Politik, vielmehr hauptsächlich eine halbasiatische Produktionsweise und Despoie! Was aber gar nicht vorhanden war, das konnte auch nicht in Richtung Sozialismus überwunden werden. Wer ein bißchen die russische Geschichte studiert hatte, konnte das wissen. Auch die anderen Länder des sogenannten sozialistischen Systems waren fast durchweg solche mit sehr schwacher demokratischer und marktwirtschaftlicher Tradition, und was man "sozialistisch" nannte, war meist nichts weiter als die Fortsetzung und Steigerung dieser traditionellen Schwäche. Aber das wurde und wird nur von wenigen durchschaut, vielmehr sprach und spricht alle Welt vom "realen Sozialismus"! Wenn das politische Bildung auch heute noch tut, dann verbreitet sie nicht nur historisch Unrichtiges, sondern sie folgt weiter der Ideologie, die sie doch kritisieren müßte! Und sie täuscht sich zugleich über die Schwere der Aufgabe, vor der sie steht! Der sogenannte reale Sozialismus war auch insofern eine der großen Niederlagen der Aufklärung, als er einen Sieg des ideologischen Scheins, der unklaren Worte darstellte!
Umso drängender stellt sich allerdings die Frage, wie gerade der Aufklärer und Ideologiekritiker Marx vor den Wagen des Leninismus gespannt werden konnte! Das ist wieder lehrreich für politische Bildung überhaupt, denn auch ihr kann es ja passieren, daß sie bei bestem aufklärerischen Willen vor den Wagen ganz anderer Zwecke gespannt wird! Darüber hinaus muß sie bei uns davon ausgehen, daß aufgrund der Erfahrung mit dem Marxismus-Leninismus aufklärerische Gehalte von vornherein schwer diskreditiert sind. Ist durch diesen Mißbrauch der Aufklärung nicht die Aufklärung selbst widerlegt? Jedenfalls darf sie nicht mehr doktrinär auftreten.
Daß die Verwirklichung der Marxschen Idee zu ihrer Verkehrung führte, kann nicht nur an der Verdrehung durch den Leninismus und letztlich an der bösen Wirklichkeit gelegen haben; es muß auch an der Idee selber etwas nicht stimmen. Daß die Idee derart zur Ideologie werden konnte, lag auch daran, daß sie selber blind Utopisches enthielt. Insofern hat sich der Leninismus mit einem gewissen Recht auf Marx berufen können. Die Idee der Mündigkeit aller, wie sie Marx vertreten hat, eignet sich gerade deshalb, weil sie die Sehnsucht nach Demokratie radikal zum Ausdruck bringt, zur Legitimierung von Despotie. Sie kam der Sehnsucht der Völker also entgegen, nicht aber ihren realen Möglichkeiten. Verlangen nach Mündigkeit und reale Despotie vertragen sich aber durchaus, zumal wenn letztere beständig beteuert, ja selber der Anwalt jenes Verlangens zu sein.
In der Weise, wie es Marx im Anschluß an die Pariser Kommune vorschwebte, läßt sich die liberale Demokratie nicht durch direkte Demokratie überbieten. In seiner Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich stellt Marx z.B. mit Recht fest, daß im Frankreich Napoleons III. die Exekutive sich völlig verselbständigt hatte und die Legislative zur "Gewalt der Phrase" verkommen war. Daraus leitet er jedoch zu Unrecht ab, die Prinzipien der Repräsentation und der Gewaltenteilung hätten sich überlebt, es dürfe nur noch ein imperatives Mandat geben und die gesetzgebende müsse eine zugleich ausführende Gewalt sein. Denn erstens kann man die Legislative doch nur in dieser Weise kritisieren, wenn man sie an ihrem Wesen mißt, also anerkennt, daß sie ihrem Wesen nach die Gewalt des Wortes ist. Zweitens hat das Parlament als solche Gewalt gegenüber der Routine und Willkür der Exekutive die Selbstbesinnung und kommunikative Vernunft des Gemeinwesens zu verkörpern, darf also gerade nicht mit exekutiven Funktionen belastet werden. Drittens wird ein imperatives Mandat die Verantwortung der Mandatsträger in einer komplexen Gesellschaft keineswegs erhöhen - es wird sie gar nicht wirklich zustandekommen lassen.

IV Vergewisserung in bezug auf die Gegenwart: Verlangen nach Mündigkeit als Streben nach indirekter Demokratie

Kants Unterscheidung von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft oder von Geistesfreiheit und bürgerlicher Freiheit ist freilich seltsam und charakteristisch deutsch: "Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf." (S. 217)
Kann man auf die bürgerliche Freiheit tatsächlich bis zu einem gewissen Grade verzichten bzw. die Vernunft in einen Amtsmechanismus einspannen lassen? Nach dem Motto: "Räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!" Sicher würden wir das heute nicht mehr sagen. Und doch müssen wir, wenn wir nicht realitätsblind sind, eine ähnliche Unterscheidung auch heute noch treffen - sie liegt nur an einer anderen Stelle. Auch wir müssen in vielen (hauptsächlich in ökonomischen) Dingen einfach gehorchen, sind von anderen abhängig und können nicht alle jederzeit und in allen Dingen mitreden, d.h. mündige Menschen sein. Dies zu fordern, wäre nicht nur eine Überforderung, sondern bloße Ideologie, wie wir sie hinreichend kennengelernt haben. Auch aus dem zuletzt über die Ursachen der neuen Unmündigkeit Gesagten geht schon hervor, daß unser Verlangen nach Mündigkeit sich konsequenterweise als Streben nach repräsentativer Demokratie artikulieren mußte, also an die liberale Tradition anknüpfen mußte. Denn das Pferd der direkten Demokratie war ja eben von den Leninisten zu Tode geritten worden, die Mündigkeit aller war ja zum ideologischen Schleier der Despotie geworden! Die Gefahren der direkten Demokratie lagen offen zutage: die Überforderung der Bürger, ihre künstliche und womöglich gewaltsame Mobilisierung, das Umschlagen in Apathie, die Tendenz zur Nivellierung und zur Ausgrenzung von Minderheiten bzw. Andersdenkenden.
Faktisch war diese Weichenstellung aber keineswegs von vornherein klar. Ich selber habe z.B. lange Zeit gerade umgekehrt gedacht, nämlich das, was zur bloßen Ideologie geworden war, ernstgenommen und angemahnt. Ich wollte die Marxisten/Leninisten immer an ihre ursprüngliche Intention erinnern, habe sie damit aber ernster genommen als sie sich selber überhaupt nehmen konnten, habe etwas eingefordert, was beim besten Willen nicht verwirklicht werden konnte: eine Gesellschaft auf der Grundlage herrschaftsfreier Diskussion.
Zum anderen entstanden Ende der siebziger Jahre ja die Friedens- und Ökologie-Gruppen, die die Gesellschaft gern nach ihrem Bilde geformt hätten, also ebenfalls basis-demokratisch dachten. Dabei merkten sie nicht, daß sie in ihrem Gegensatz zum despotischen Staat ihn zugleich ausgezeichnet ergänzten, ihn gar nicht ernstlich infrage stellten und daher auch als Spielwiese toleriert werden konnten!
Die systematische Schwierigkeit der Orientierung auf repräsentative Demokratie bestand wohl darin zu begreifen, daß Mündigkeit und Vertretenwerden sich nicht ausschließen bzw. Vormundschaft etwas anderes ist als Stellvertretung. Dorothee Sölle hat das ja sehr schön deutlich gemacht: Daß ich in vielerlei Hinsicht angewiesen bin auf Vertretung durch andere, ist sozusagen normal, hebt mein Personsein, meine Mündigkeit noch nicht auf. Erst wenn die Angewiesenheit zu einer absoluten wird, wenn ich nicht mehr nur vertreten, sondern ersetzt werden soll, kommt es zur Entmündigung der Person. Entsprechend verwandelt sich Stellvertretung, Verantwortung für andere erst dann in Vormundschaft und Herrschaft, wenn sie ausschließlich und ewig sein will.
Die Weichenstellung ist auch heute noch vielen nicht klar, was sich an der fortwährenden Klage über den Parteienstreit zeigt, oder an der Neigung, angesichts der Schwächen der repräsentativen Demokratie sie mit Despotie in einen Topf zu werfen. Politische Bildung wird daher bei uns noch lange Einübung in die Regeln indirekter Demokratie sein müssen. Das darf jedoch andererseits nicht heißen, daß sie zur technisch-verwaltungsmäßigen Ausbildung verkommt - eine Gefahr, die sich im "Beitrittsgebiet" sehr deutlich abzeichnet! Politische Bildung hat demgegenüber sehr viel mehr mit humaner Allgemeinbildung im Sinne Humboldts zu tun!

V Zukunftsorientierung: Fortsetzung der Aufklärung

Folgender Satz Kants kann unsere Enttäuschung über den Abbruch der Umwälzung und die überstürzte Vereinigung verständlich machen und läßt sie zugleich als eigentlich unbegründet erscheinen: "Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen." (S. 216 f.) Wir wollten die notwendig langsamere Aufklärung schnell, daher waren wir enttäuscht. Wir hätten jedoch wissen können, daß eine Revolution diese "Reform der Denkungsart" gar nicht wirklich zustandebringen kann, darum hätten wir nicht enttäuscht zu sein brauchen! Die Revolution konnte nur die äußeren Fesseln von vierzig Jahren abschütteln, die inneren aber werden wir noch lange mit uns herumtragen, selbst wenn wir wirtschaftlich auf die Beine gekommen sind. Ich teile sogar die Befürchtung mancher Autoren, daß die politische Kultur der Bundesrepublik durch uns nicht aufgefrischt wird, sondern eher traditionell deutsche Züge annehmen wird.
Zweitens bleibt Mündigkeit uns wie Euch aufgegeben, weil die repräsentative Demokratie, die wir nun gemeinsam praktizieren, ja keineswegs der politischen Weisheit letzter Schluß ist, obwohl sie von den Konservativen als solcher angesehen wird. Meine Option für die indirekte Demokratie sollte nicht mißverstanden werden, ihre Gefahren sind mir sehr wohl bewußt: Die Entfernung der Volksvertreter vom Volk, der Umschlag von Freiheit in Willkür, von indirekter Herrschaft des Volkes in indirekte, raffinierte Herrschaft über das Volk, der Bedeutungsschwund der Legislative gegenüber der Exekutive mit ihrer Bürokratie usw. Demgegenüber hat politische Bildung natürlich Gruppenarbeit bzw. neue soziale Bewegungen zu fördern, womöglich sogar anzustiften.
Drittens hat Mündigkeit weltweit in der Informationsgesellschaft zwar ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten erhalten, zugleich ist sie aber in ganz neuer Weise gefährdet. Daß die Bilderkonsumtion des Fernsehens nicht gerade die Mündigkeit fördert, ist bekannt. In gewisser Hinsicht bestand die Umwälzung, die wir erlebt haben, auch darin, daß die bunte Welt des Fernsehens eine graue Theorie verdrängt hat; daß sie aber nicht zugleich das lebendige Denken verdrängt, dafür hat politische Bildung zu sorgen! Gewiß ist das Fernsehen nicht so langweilig wie die alte Ideologie, aber informiert es uns besser? Beschönigt es nicht in anderer Weise auch die harten Tatsachen? Führt es nicht auch zu einer nunmehr modisch-formelhaften Kommunikation und einer nur scheinbaren, weil passiven Partizipation? Demgegenüber ist politische Bildung ein unerläßliches Korrektiv (ich folge hier Ulrich Sarcinelli):
Gegenüber der Gegenwartsfixierung, ja Aktualitätsversessenheit des Fernsehens muß sie Erinnerung und Weitblick lehren, geschichtliche Zusammenhänge deutlich machen, ja geradezu kontemplativ sein.
Mit dem Aktualismus des Fernsehens hängt es zusammen, daß es uns mit immer neuen Informationen konfrontiert, die immer neu unverarbeitet bleiben, und so eine Informationsschwemme erzeugt, die uns gänzlich die Orientierung raubt. Dem hätte politische Bildung eine bewußte Sparsamkeit in der Information entgegenzusetzen (so furchtbar neu ist das jeweils Neueste ja meistens gar nicht) und so die Erarbeitung von Maßstäben, Kategorien, Urteilsfähigkeit zu ermöglichen.
Angesichts einer immer komplexer werdenden Realität bleibt dem Fernsehen wohl meist nichts anderes übrig, als sie in einfache Bilder zu fassen und spannende Schauspiele zu inszenieren, die dann für die Wirklichkeit genommen werden. Politische Aufklärung muß diese Fernsehwelt natürlich entzaubern, diese Mythen - theologisch gesagt - entmythologisieren, wenn wir uns nicht zu Tode amüsieren wollen. Und sie kann das, weil ihr Medium seit alters her das deutliche Wort, die klare Sprache ist, nicht das bunte Bild und die vieldeutige Geschichte.
Politische Bildung sollte statt der scheinbaren, weil einseitigen "Kommunikation", die das Fernsehen stiftet, zu echter, weil wechselseitiger Kommunikation anregen. Sie könnte so von der scheinbaren, bloß symbolischen Partizipation der Bürger an den politischen Prozessen zu wirklicher Partizipation hinführen.
Viertens sollten wir nicht vergessen, was wir von Marx nun immerhin gelernt haben: Die Masse der Menschheit lebt in einem Grad von sozialem Elend oder Abstumpfung durch Arbeit, der es dem einzelnen unmöglich macht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Mündiges Handeln besteht daher für uns hauptsächlich in der Verbesserung der Bedingungen von Mündigkeit für alle. Das Hauptproblem ist in dieser Hinsicht bei uns die Arbeitslosigkeit, zumal die der Jugend. Entgegen einer verbreiteten Meinung spielen Arbeit und Beruf bei der Identitätsfindung Jugendlicher nach wie vor eine ausschlaggebende Rolle. (Nach einer Studie von Göttinger Soziologen sind nur 16% der Jugendlichen primär freizeitorientiert und stehen der Arbeit distanziert gegenüber.)
Man kann daran ermessen, was es bedeutet, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ist man aber ausgebildet und bekommt nun keinen Arbeitsplatz, so führt das je länger desto mehr zu Dequalifikation. Es ist erwiesen, daß bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß der Abstieg bei weitem häufiger ist als ein Aufstieg. Und es ist ebenfalls erwiesen, daß eine schlechte Ausgangsposition beim Eintritt in den Arbeitsprozeß meist im ganzen Berufsleben nicht wieder wettgemacht werden kann! (Hermanns, 23 f.)
Längere Arbeitslosigkeit führt außerdem zum Schwinden des Selbstwertgefühls, zur Identitätskrise einerseits und dem Verlust sozialer Kontakte, ja zu sozialer Isolierung andererseits.
Nimmt man das alles zusammen, so wird klar, daß die Bedingungen von Mündigkeit und damit die Chancen politischer Bildung durch die Arbeitslosigkeit geradezu untergraben werden. Man weiß, wozu das Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts geführt hat!

 

 

Literaturverzeichnis

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Der Autor

Dr. Edelbert Richter, geb. 1943 in Chemnitz, verheiratet, zwei Töchter, wohnt in Weimar.
1961 "wegen ungenügender politischer Reife" vom Philosophiestudium zur Bewährung in die Produktion geschickt, zwei Jahre Kranführer im VEB Papiermaschinenwerke Freiberg, 1963 bis 68 Theologiestudium in Halle, anschließend Assistent am Katechetischen Oberseminar in Naumburg und Vikar in der Sächsischen Landeskirche, 1974 bis 79 Pfarrer in Naumburg und Stößen, 1976 Abschluß einer Dissertation über den Zusammenhang von Religions-, Philosophie- und Ökonomiekritik bei Marx (innerkirchlich, da an staatlicher Universität nicht möglich), 1977 bis 87 Studentenpfarrer in Naumburg, 1987 bis 90 Dozent für systematische Theologie und Philosophie an der Predigerschule Erfurt und Pfarrer in Erfurt, Mitbegründer des "Demokratischen Aufbruch", im Januar 1990 Eintritt in die SPD, Mitglied der letzten Volkskammer der DDR, jetzt Abgeordneter im Europäischen Parlament

Veröffentlichungen:
- bis 1989 in Zeitschriften der Bundesrepublik und in Untergrundpublikationen der DDR.
- Zweierlei Land - Eine Lektion. Konsequenzen aus der deutschen Misere, Berlin 1989.
- Christentum und Demokratie in Deutschland. Beiträge zur geistigen Vorbereitung der Wende in der DDR, Leipzig und Weimar 1991.

 

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