Vorwort
Die Parteidespotie
scheint diejenigen, die ihr widerstanden haben, doch insofern
geprägt zu haben, als sie sie mehr oder weniger zu Schwärmern
gemacht hat. Ich stelle das an mir jedenfalls fest. Weil wir
die Herrschenden immer nur kritisieren, nie aber selbst Verantwortung
übernehmen und politisch handeln konnten, neigen wir zu
utopischer Konstruktion von Politik oder zur Resignation. Wir
unterschätzen oder überschätzen leicht die realen
Widerstände, die dem politischen Handeln erwachsen. Sie
richtig einzuschätzen und mit ihnen umzugehen, müssen
wir erst lernen.
So hatte ich die deutsche Einigung lange herbeigesehnt, war aber
dann über die Art und Weise, wie sie zustande kam, einigermaßen
verwirrt und enttäuscht. Warum nur? Zunächst, weil
ich zu den christlichen Oppositionsgruppen in der DDR gehörte,
die Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung auf
ihre Fahne geschrieben hatten. Wir dachten bei dem Begriff "Frieden"
an einen vernünftigen Ausgleich, eine Sicherheitspartnerschaft
zwischen West und Ost, wie sie sich seit Gorbatschow ja auch
zu entwickeln schien. Daß diese Entwicklung jedoch zur
Unterwerfung des Ostens und zum Sieg der Reaganschen Politik
führen würde, hat uns verwirrt. Bei dem Begriff "Gerechtigkeit"
dachten wir an einen Abbau des Gegensatzes zwischen dem reichen
Norden und dem armen Süden dieser Erde, wohl wissend, wie
groß die Hindernisse waren, die gerade diesem Anliegen
im Wege standen. Das Enttäuschende an der Umwälzung
in Osteuropa aber war, daß sie sich zunehmend als das Scheitern
einer Entwicklungsstrategie und dessen ideologische Kompensation
entpuppte: Während die betreffenden Länder auf den
Status von Entwicklungsländern zurückzufallen drohten,
war ihre ideelle Orientierung immer mehr darauf gerichtet, sich
auf die Seite des reichen Westens zu schlagen. Unter "Bewahrung
der Schöpfung" schließlich verstanden wir den
Übergang zu umweltverträglicheren Produktionsmethoden,
zu einer bescheideneren Lebensweise, zu einem entsprechend selektiven
und qualitativen Wachstum. Davon war nun zwar zu Beginn der Umwälzung
noch viel die Rede, dann jedoch machte sich der enorme ökonomische
Nachholbedarf unserer Länder geltend und reduzierte das
ökologische Anliegen auf die unumgänglichen äußerlichen
Korrekturen.
Ich war aber noch zusätzlich enttäuscht, weil ich die
Leitideen des Konziliaren Prozesses nicht in dieser Abstraktheit
hatte belassen wollen, sondern versucht hatte, sie auf die Bedingungen
deutscher Politik zu beziehen. Meine Frage war die nach dem konkreten
Träger einer entsprechenden Politik, denn dieser Träger
konnte ja nicht die Weltchristenheit sein. Wenn mit den Ideen
ernstgemacht werden sollte, dann war es aber das Naheliegendste,
bei sich selber, der eigenen Nation anzufangen. Außerdem
war die Anregung zum Konziliaren Prozeß von deutschen Christen
ausgegangen (Vancouver 1983) und fand das Projekt in Deutschland
den meisten Widerhall. Man erinnere sich auch an das Engagement
für die Dritte Welt seit den sechziger Jahren, die darauf
folgende Ökologiebewegung und die Friedensbewegung Anfang
der achtziger Jahre! Zeigte sich da nicht eine erfreuliche Sensibilität
für die Menschheitsprobleme? Ich fand in der damaligen Situation
und darüberhinaus in der Tradition Deutschlands durchaus
günstige Ansatzpunkte für eine von jenen Ideen geleitete
Politik (vgl. den letzten Aufsatz dieses Buches). Meine Hoffnung
war im Grunde: Würden die Deutschen das als ihre gemeinsame
Aufgabe, ihre Grundorientierung, ihre "Identität"
begreifen, so würde ihnen auch die staatliche Einheit früher
oder später zufallen, nach dem Muster von Matth. 6, 33 oder
von Pichts Satz: "Nicht das Subjekt setzt sich die Aufgabe,
sondern die Aufgabe konstituiert das Subjekt." (WVV, 337)
Natürlich war das Schwärmerei und mußte es anders
kommen. Die Aufgabe stellt sich zwar nach wie vor, aber das Subjekt
hat sich an ihr vorbei konstituiert, weshalb es auch nicht eigentlich
Subjekt ist, sondern eher eine zufällige Machtzusammenballung.
Ich habe daher während des Vereinigungsprozesses zuweilen
einen solchen Ekel gegenüber der Politik empfunden, daß
ich sie am liebsten aufgegeben hätte und wieder zur Theologie
zurückgekehrt wäre. Ähnlich ist es aber vielen
Engagierten, nicht nur Christen ergangen! War das nicht eine
indirekte Bestätigung dafür, daß ich mit meiner
Sondierung der Identität der Deutschen so unrecht nicht
hatte? Da war auf der einen Seite das Machtgeschehen der Wiedervereinigung
und auf der anderen Seite eine Intelligenz, die im Großen
und Ganzen mit ihr nichts anfangen konnte oder sie geradezu ablehnte.
Ich habe mich jedoch gefragt, ob der Widerwille, den ich empfand,
nicht vielleicht der alte deutsche Ekel vor der Politik überhaupt
war, den etwa Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen
so beredt zum Ausdruck gebracht hat? Dann war aber Vorsicht geboten!
Denn dann erlag die Intelligenz womöglich wieder der alten
Versuchung, sich der politischen Verantwortung zu entziehen und
die Macht sich selbst zu überlassen, und der charakteristisch
deutsche, gefährliche Widerspruch von Geist und Macht war
wieder da! Daher habe ich ausgeharrt, die Einheit auch in dieser
Form bejaht und als Aufforderung verstanden, die Identität
weniger platonisch zu denken.
Nun hat die Intelligenz ihre Ablehnung bzw. ihr Desinteresse
an der deutschen Einheit hauptsächlich mit der Größe
der Schuld begründet, die die Deutschen durch den Zweiten
Weltkrieg auf sich geladen haben. Aber selbst wenn wir die fragwürdige,
monströse Kollektivschuldthese passieren lassen, so folgt
aus ihr doch keineswegs, daß der Schuldige sich nun passiv
treiben lassen und einer Fremdbestimmung unterwerfen muß!
Denn wie, wenn eben darin ein Gutteil seiner Schuld bestanden
hätte, er sie damit also nur in anderer Weise fortsetzte?
Der Theologe Karl Barth hat schon 1945 betont, es ginge nicht
um die Schuld als solche und um innere Zerknirschung, sondern
um wirkliche Umkehr und die Begründung eigener Verantwortung
für die Zukunft. Die Deutschen müßten
lernen, ihre künftige Geschichte zu ihrer eigenen
Geschichte zu machen, statt sich vom Lauf irgendeines Schicksals
tragen zu lassen (Genesung, 62 f., 84). - Folgt darüberhinaus
aus einer noch so großen Schuld, daß man sich zum
Werkzeug von Mächten machen muß, die die Welt mit
der totalen Vernichtung bedrohen? Ist das nicht eine ähnliche
Todesverbundenheit, wie sie dem Nationalsozialismus eigen war?
Woher nehmen deutsche Intellektuelle nur das Recht, sich selber
von der deutschen Geschichte freizusprechen, zum Richter über
sie aufzuwerfen und deren Ende zu proklamieren? Ist das nicht
derselbe un- und endgeschichtliche Standpunkt, der die Deutschen
gerade ins Verhängnis geführt hat, nur jetzt mit umgekehrtem
Vorzeichen? Da war Thomas Mann, der seine Verstrickung in die
deutsche Geschichte bekannte und es ablehnte, zwischen einem
guten und einem bösen Deutschland zu trennen, wahrlich vernünftiger.
Ich gestehe, daß ich einen anderen, aber nicht geringeren
Widerwillen empfand gegenüber den Moralisten und Ästheten,
die mit ihrer Fixierung auf die böse deutsche Vergangenheit
diese nur verlängern, indem sie vor der Gegenwart und Zukunft
sich drücken. Die progressive Intelligenz in Deutschland
muß aufpassen, daß sie sich nicht in genau die politikferne
Innerlichkeit hineinbegibt, die früher für die konservative
kennzeichnend war!
Ich bilde mir nicht ein, daß der Gegensatz von Geist und
Macht je überwunden werden könnte. Ich möchte
nur, daß aus ihm eine fruchtbare Spannung wird und nicht
wieder ein zerstörerischer Widerspruch. Mein Vorschlag ist
daher, die Einheit als Chance oder zumindest als Faktum zu akzeptieren
und nun endlich mit ihr etwas anzufangen, das Beste aus ihr zu
machen! Was aber das Beste ist, worin deutsche Identität
bestehen sollte, darüber muß zunächst diskutiert
werden. Dies Buch möchte dazu anregen, indem es auf den
Konziliaren Prozeß, die umfassendste freie Diskussion,
die es in der DDR vor der Wende gegeben hat, zurückgreift.
Es ist oft gefragt worden, was denn von der DDR bleiben wird,
und kaum jemandem fiel etwas ein. Vielleicht ist es dieser ideelle
Anstoß für die saturierte alte Bundesrepublik?
Ich erzähle in diesem Buch zuerst persönlich
von der vielleicht tiefsten politischen Erfahrung meines Lebens,
dem Herbstfrühling 1989 und seinem Ende. Ich habe damals
nicht die Zeit gehabt, Tagebuch zu führen, so ist leider
manches an Unmittelbarkeit des Eindrucks verlorengegangen. Ich
berichte dann sachlich und polemisch - dem Gegenstand
angemessen - aus der Sicht eines Abgeordneten von der Arbeit
eines Parlaments, das die originelle Aufgabe hatte, sich selbst
samt dem Gemeinwesen, dem es vorstand, möglichst rasch "abzuwickeln".
Da es sich um den Vereinigungsprozeß handelt, wird hier
der Abstand zu dem, was deutsche Identität sein könnte,
deutlich. Sodann wechsle ich nochmals die Form und gehe zur Erörterung
über. (Die Aufsätze sind zum Teil aus Vorträgen
entstanden, die ich im letzten Jahr gehalten habe.) Im Anschluß
an den Bericht über die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit
in der Volkskammer blicke ich zunächst auf die gemeinsame
deutsche Vergangenheit zurück und zeige, wie der
reine Geist der bloßen Macht nicht nur entgegengesetzt,
sondern auch sehr nahe ist. Danach blicke ich auf die sowjetische
Vergangenheit zurück, frage, warum sie eigentlich so plötzlich
und unerwartet für alle abgeschlossen wurde und messe sie
an den Kriterien Frieden, Gerechtigkeit, Schöpfungsbewahrung.
Einen ähnlichen Chiliasmus, wie ich ihn als letzte Ursache
des Scheiterns des russischen Sozialismus begreife, erkenne ich
auch im siegreichen amerikanischen Liberalismus, und komme
damit auf die durch ihn geprägte Gegenwart. Schließlich
wende ich mich der Zukunft zu, erörtere die Bedingungen
von Mündigkeit nach dem Scheitern des sogenannten realen
Sozialismus, überlege, inwiefern die Sozialdemokratie durch
dessen Zusammenbruch mitbetroffen und herausgefordert ist, und
ende mit dem Aufsatz, auf den alles andere zuläuft und zu
dem ich oben schon einführende Bemerkungen gemacht habe.
Ein herzliches Dankeschön sage ich dem KONTEXTverlag, der
schon in der Zeit der SED-Herrschaft der Opposition eine begrenzte
Öffentlichkeit ermöglicht hat, und ebenso Frau Fischer
in Weimar, die mir gleichfalls schon in jener Zeit geholfen hat,
Aufsätze in eine lesbare Form zu bringen.
Weimar, Dezember
1991
I
Der
Demokratische Aufbruch
Die Geschichte
des Demokratischen Aufbruch begann für mich, als mir Friedrich
Schorlemmer Anfang Juni 1989 mitteilen ließ, daß
für den Sommer ein Treffen geplant sei, auf dem etwas Wichtiges,
über die bisherige Arbeit der Oppositionsgruppen Hinausgehendes,
beschlossen wer den solle. Ich müsse unbedingt kommen, Zeitpunkt
und Ort des Treffens würde ich noch erfahren.
Am 23./24. Juni fand in Berlin eine Tagung "Kirche und Gruppen"
statt, zu der die Studienabteilung beim Bund der Evangelischen
Kirchen eingeladen hatte. Sie sollte zur Klärung des spannungsvollen
Verhältnisses zwischen Kirche und Basisgruppen beitragen.
Ich hielt auf dieser Tagung ein Referat und sagte, daß
diese Spannung heute nicht mehr das entscheidende Problem sei,
sondern daß es jetzt um den Freiraum der Gesellschaft gegenüber
dem Parteistaat gehe. Dafür hätten sich beide einzusetzen,
die Kirche, damit sie wahrhaft Kirche sein könne und nicht
mehr von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben überfordert würde;
die Gruppen, damit sie nicht Gruppen bleiben müßten,
sondern sich als Keime einer zivilen Gesellschaft erweisen könnten.
In einer Tagungspause sprach mich Rainer Eppelmann an und nannte
mir Termin und Ort für das geplante Treffen. Es sollte sinnigerweise
am 21. August, dem Tag des Einmarsches in die CSSR 1968, in einer
Wohnung in Dresden stattfinden. Wolfgang Schnur würde auch
dabei sein. Von Bärbel Bohley erfuhr ich am selben Tag,
daß auch sie ein solches Treffen plante, und zwar für
den 9./10. September in Grünheide. Weil ich um die persönlichen
Antipathien zwischen ihr und Rainer Eppelmann wußte und
der Meinung war, in dieser entscheidenden Situation müßten
wir alle zusammengehen, habe ich darauf gedrungen, daß
wir miteinander sprachen. So einigten wir uns, die Ergebnisse
der beiden Treffen zurückzuhalten und damit erst am 1. Oktober
gemeinsam an die Öffentlichkeit zu treten. Auf dem Heimweg
sagte mir Bärbel allerdings wieder, sie könne mit Eppelmann
und Schnur nicht zusammenarbeiten. Ich suchte ihr klarzumachen,
daß persönliche Differenzen jetzt zurückgestellt
werden müßten; sie dagegen war der Ansicht, die Differenzen
seien nicht allein persönlicher Art und würden jetzt
erst richtig hervortreten. Sie hat damit mehr als recht behalten.
Ich habe in jener Zeit öfter beobachtet, wie sich in der
politischen Auseinandersetzung Unterschiede zwischen Menschen
ins Überdimensionale steigern.
Der 21. August war ein sehr heißer Tag. Ich war froh, daß
Ehrhart Neubert mich im Auto nach Dresden mitnahm. In der Dresdner
Wohnung kamen Eppelmann, Neubert, Pahnke, Schnur, Schorlemmer,
Sell, Wagner und Welz zusammen. Allen war klar, daß die
bisherige Arbeit der Gruppen und ihres Netzwerkes nicht mehr
ausreichte. Sollte also eine Partei oder zunächst nur eine
politische Vereinigung gegründet werden? Wenn die Gründung
einer Partei in Frage kam, dann nur die einer sozialdemokratischen.
Das wurde ernsthaft erwogen, aber schließlich als verfrüht
verworfen. Gegen die Bildung einer Vereinigung gab es zudem nach
Schnurs Auskunft weniger verfassungsrechtliche Bedenken. Wie
sollte dann die Vereinigung heißen? Da es sich um eine
Initiative zum öffentlichen Dialog handeln sollte - im Sinne
des späteren Neuen Forum -, wurde der Name "Dialog"
vorgeschlagen. Der erschien uns aber als zu wenig zündend,
und so einigten wir uns auf "Demokratischer Aufbruch"
mit dem Zusatz "sozial und ökologisch". Auf die
Ökologie legte besonders Friedrich Schorlemmer viel Wert.
Das Wort "sozialistisch" wollten wir ausdrücklich
vermeiden, weil es nach unserer Meinung durch den "real
existierenden" Sozialismus in Mißkredit geraten war.
Schnur wurde damit beauftragt, ein Statut auszuarbeiten, ich
sollte ein Programm entwerfen. Zur Programmatik gab es allerdings
nicht eigentlich eine Diskussion, sondern nur eine Art Ideenkonferenz.
War im Grunde alles klar, oder war eine klare Orientierung gar
nicht so wichtig?
Mir fiel schon damals auf, daß Schnur und Eppelmann inhaltlich
wenig einzubringen hatten. Offenbar fühlten sie sich mehr
für die Organisation (und die Machtverteilung) zuständig.
Rainer Eppelmann hatte sich vor nicht allzu langer Zeit im Fernsehen
mit CDU-Vertretern präsentiert. Ich wies ihn darauf hin,
daß er, nachdem sich jetzt unsere politische Orientierung
abzeichnete, mit solchen Auftritten vorsichtig sein müsse.
Seine Antwort: Er habe keine ideologischen Vorurteile und lasse
es sich nicht nehmen, mit allen zu reden. Das wollte ihm
auch niemand nehmen, er sollte sich nur an die vereinbarten Prinzipien
halten! Vieles von dem, was sich später in der politischen
Szene abspielte, war in dieser Anfangszeit schon im Keim vorhanden.
Nur daß Schnur für die Stasi arbeitete, hätte
keiner gedacht: Redlichkeit und Liebenswürdigkeit schienen
gerade ihn auszuzeichnen! Ich erinnere mich, daß wir die
üblichen Schwierigkeiten hatten, an einem so heißen
Tag noch etwas zu trinken zu bekommen. Wolfgang Schnur fuhr mit
uns geduldig umher bis zum Neustädter Bahnhof, wo wir endlich
Wein bekamen. Und er bezahlte für alle.
Die erste größere öffentliche Versammlung war
- wie mit Bärbel Bohley abgesprochen - für den 1. Oktober
in Berlin vorgesehen; allerdings in Eppelmanns Samariterkirche,
was mich befürchten ließ, Bärbels Gruppe würde
sich daran doch nicht beteiligen. Bis dahin sollte jeder von
uns zehn Leute, die er persönlich gut kannte, für den
Demokratischen Aufbruch gewinnen, um der Sicherheit willen aber
auf keinen Fall ganze Gruppen ansprechen. Es fiel mir nicht schwer,
in den Thüringer Basisgruppen engagierte Leute zu finden,
zumal Ende August eine Vorbereitungssitzung für deren traditionelles
Herbsttreffen stattfand. Schwer fiel es mir jedoch, den Programmentwurf
fertigzustellen, zum einen, weil ich bis zum 1. September mein
Deutschlandbuch zu Ende bringen mußte, zum anderen, weil
ich an diesem Tag ins "nichtsozialistische Ausland"
reisen durfte, und zwar mit ausschweifender Hin und Rückfahrt
zwölf Tage!
Die Reise ging zu den tapferen Waldensern nach Norditalien, die
das 300jährige Jubiläum ihrer Rückkehr in die
Heimat feierten und aus diesem Anlaß eine historische Konferenz
veranstalteten. So interessant der Stoff war, ich saß in
den Vorlesungen wie auf Kohlen, und auch für die herrliche
Landschaft hatte ich kaum einen Blick. Ich wollte auf der Rückreise
in der Bundesrepublik Station machen und unbedingt mit Freunden
und Politikern über unsere Pläne reden. Einen Freund
in Bremen hatte ich sofort alarmiert, und er verabredete für
die drei Tage, die mir nach der Konferenz noch blieben, schon
die Termine. Endlich war es soweit: In Köln hatte ich ein
Gespräch mit Mitgliedern des Bundesvorstands der Grünen.
Auf meine Darstellung unserer Ziele reagierten sie u.a. mit der
Bemerkung: "Ach, bloß die Grundrechte wollt ihr!"
Nun hatte ich in der Tat auf die innenpolitischen Veränderungen
besonderes Gewicht gelegt, aber mußte das denn nicht einleuchtend
sein für denjenigen, der sich ein wenig in unsere Situation
hineinversetzte? Diese mangelnde Sensibilität für die
- auch in ökonomischer Hinsicht - völlig andere Lage
der Menschen in der DDR ist es gewesen, die den Grünen bei
den Wahlen 1990 so geschadet hat. Im Gespräch mit Vertretern
der SPD in Bonn stellte ich direkt die Frage, wie sie über
eine Neugründung der Partei in der DDR denken würden.
Dies sei eine zu starke Brüskierung der SED, antworteten
sie, wir sollten besser nur eine Vereinigung ins Leben rufen;
so ähnlich hatten wir ja auch gedacht. Ein anderes Argument
war seltsamerweise, eine sozialdemokratische Partei könne
unter illegalen Bedingungen nicht arbeiten! Aber hatte die Sozialdemokratie
unter Bismarcks Sozialistengesetz nicht ausgezeichnet gearbeitet?
Am 11. September - ich wohnte bei Freunden in Köln - hörte
ich, daß sich in der DDR eine Initiativgruppe "Neues
Forum" gebildet habe, die den öffentlichen Dialog über
die Widersprüche im Lande forderte. Ich schaute in meinen
Kalender und stellte fest, daß dies nur die Gruppe um Bärbel
sein konnte, die sich ja am 9./10. September in Grünheide
treffen wollte. Also hatte sich Bärbel nicht an unsere
Abmachung gehalten! Ich war erbost, rief mehrmals bei ihr an,
erreichte aber nur ihren Sohn, der berichtete, daß Autos
vom Staatssicherheitsdienst vorm Haus stünden. Als mir Ehrhart
Neubert am Telefon bestätigte, daß es keine Information
von Bärbel an uns gegeben habe, entschloß ich mich,
nun im Namen des Demokratischen Aufbruch auch an die Öffentlichkeit
zu gehen. Ich mußte es auf eigene Faust tun, konnte es
mit den Freunden nicht absprechen, weil die Telefongespräche
ja abgehört wurden. Um meine Rückkehr nicht zu gefährden,
bat ich den Journalisten, dem ich ein Interview gegeben hatte,
die Meldung erst nach dem 13. September herauszubringen.
So begann das Wettrennen zwischen den verschiedenen politischen
Gruppierungen, das die ganze Zeit der Umwälzung über
anhielt und wohl für politisches Handeln überhaupt
charakteristisch ist: Wer ist zuerst, am häufigsten und
am eindrücklichsten in den Medien? Das war die wichtigste
Frage, nicht die der politischen Inhalte, die sich am Anfang
ohnehin sehr ähnlich waren. Da ich nun einmal in die Medien
vorgedrungen war, hatte ich nach meiner Rückkehr des öfteren
Interviews zu geben. Daß mein "Bekanntheitsgrad"
stieg (ein Begriff, der damals noch nicht zu meinem Wortschatz
gehörte), war eine ganz neue Erfahrung, aber es war mir
recht, weil es der Werbung für den "Demokratischen
Aufbruch" zugute kam.
Der Grad der Politisierung der Bevölkerung bzw. der Auflösung
des Systems wurde mir daran deutlich, daß die Leute ohne
Angst bei mir anriefen oder mir schrieben, sie wollten beim Demokratischen
Aufbruch mitmachen. Die Geschichte kam jetzt so ins Rollen, daß
ich bald keinen freien Abend mehr hatte. Und ich mußte
doch den Programmentwurf fertigstellen! Nach einer Veranstaltung
der Evangelischen Akademie am 16. September in Halle, auf der
ich ein Referat gehalten hatte, warf ich mir zum ersten Mal vor,
daß ich die Aufgeschlossenheit der Menschen nicht sofort
genutzt und sie in großer Zahl für den Demokratischen
Aufbruch geworben hatte. (Der Kreisverband Halle war später
einer der schwächsten.)
Am 20. September fand in Weimar in einem kirchlichen Heim der
erste Informationsabend über die neuen Gruppen statt. Zu
unserer Überraschung war der Saal total überfüllt!
Ich stellte die Aufrufe von Neuem Forum, "Demokratie Jetzt",
SDP und Demokratischem Aufbruch brav der Reihe nach vor, in der
naiven Hoffnung, daß sie sich ohnehin bald zusammentun
würden, um die von allen angestrebte Veränderung
herbeizuführen. Ich wurde auch später immer wieder
gefragt, warum es denn so viele verschiedene Gruppierungen gebe,
da es doch im Grunde um eine Sache ginge. Ich konnte nur
- mit schlechtem Gewissen - darauf verweisen, daß wir die
Pluralität, die wir anstrebten, eben jetzt schon vorwegnähmen.
Der Andrang der Leute ermutigte uns, für die nächste
Zeit eine große Gemeindeveranstaltung zum selben Thema
in der Weimarer Herderkirche zu planen.
Am 23. September hatte ich endlich den Programmentwurf fertig.
Am 24. September fuhr ich zu einem Treffen von Vertretern der
oppositionellen Gruppen nach Leipzig, das der wechselseitigen
Verständigung dienen sollte. Es kam aber zu keiner Verständigung.
Die Organisationskonzepte und letztlich die Demokratiebegriffe
wichen zu stark voneinander ab: Das Neue Forum wollte lediglich
Dialogplattform bzw. basisdemokratische Bewegung sein und wehrte
sich gegen jede Struktur; die SDP dagegen betonte ihren Parteicharakter
und das Ziel der repräsentativen Demokratie; zwischen beiden
standen "Demokratie Jetzt" und Demokratischer Aufbruch
und schienen mir damals noch am ehesten vereinbar. Auch die Gespräche
mit Bärbel Bohley und Martin Gutzeit führten nicht
weiter: Bärbel wollte von Programmatik nichts wissen, sondern
alles der Spontaneität der Basis überlassen, und das
hieß für mich: ihrer eigenen Spontaneität. Martin
Gutzeit gab sich wie immer siegessicher, so als wüßte
er etwas, was sonst niemand weiß. Für ihn schien die
ganze Umwälzung nur ein strategisches Spiel zu sein. Immerhin
konnte ich ihm meinen Programmentwurf mitgeben, sodaß er
sicher und schnell zu den Freunden nach Berlin gelangte.
Am 26. September begann in Erfurt die Wende. Im Kapitelsaal des
Augustinerklosters sollten sich die neuen politischen Gruppierungen
zum ersten Mal vorstellen, und ich sollte die Ziele des Demokratischen
Aufbruch erläutern. Kurz vor dem angesetzten Termin kam
ich an - und fand den Kapitelsaal dunkel und leer. Also doch
wieder die alte Erfahrung mit den DDR-Bürgern: Sie kommen
nicht "aus der Knete"! Warum hatten wir auch keine
Einladungen verschickt und keine Plakate ausgehängt! Ich
suchte nach den Organisatoren der Veranstaltung, da sah ich,
daß die Kirche erleuchtet war und am Eingang sich die Leute
drängten. Die Versammlung hatte in die Kirche verlegt werden
müssen, weil über 1000 Menschen gekommen waren! Ich
war überwältigt. Jetzt wußte ich, daß endlich
das begann, worauf wir jahrelang gewartet hatten. Zugleich war
ich irritiert und hatte Angst vor diesen Menschenmassen und vor
dem, was womöglich auf uns alle zukam. Aber es war keine
Zeit, weder für meine Freude noch für meine Angst;
ich mußte sagen, was der Demokratische Aufbruch wollte.
Er wollte in innenpolitischer Hinsicht, daß die
SED ihre "führende Rolle" aufgibt, Öffentlichkeit
hergestellt wird, über eine Pluralität von Parteien
und Vereinigungen freie Willensbildung möglich wird, die
Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung durchgesetzt
werden. Er wollte in ökonomischer Hinsicht, daß
an die Stelle der Fiktion des Volkseigentums Formen von realverantwortlichem
Eigentums treten, daß die Realität des Marktes anerkannt
wird und daß die Gesellschaft selber (nicht mehr der Parteistaat)
zwischen ökonomischer Effektivität einerseits und sozialer
Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit andererseits
den Ausgleich herstellt. Er wollte in außenpolitischer
Hinsicht den Anschluß der DDR an die europäische Entwicklung,
die Einheit Deutschlands, seine Blockfreiheit, weitestgehende
Abrüstung und den Einsatz der damit freiwerdenden Mittel
für die Zweidrittelwelt.
Ziehe ich heute Bilanz, so könnte ich eigentlich zufrieden
sein: Manche der genannten Ziele sind geradezu pünktlich
erfüllt, manche sind auf dem Wege der Erfüllung. Daß
aber manches auch ganz anders kam als gedacht, braucht denjenigen,
der sich mit der menschli chen Geschichte ein bißchen bekannt
gemacht hat, doch nicht zu verwundern! Warum nur ist die Zeit
nach jenem Herbst für mich vorwiegend eine Zeit der Ernüchterung
gewesen? Ich komme auf die Frage zurück.
Matthias Büchner, der spätere Stasi-Auflöser,
stellte das Neue Forum vor, d.h. er verlas den Aufruf vom 11.
September, der mich nun schon langweilte. Ich muß gestehen,
daß ich damals das Neue Forum als Konkurrenzunternehmen
erlebte. Seine lautstarke Präsenz in den Medien schien mir
inhaltlich nicht wirklich begründet, und als am Ende der
Veranstaltung seine Vertreter flink Unterschriften für ihren
Aufruf sammelten, die zugleich als Bereitschaftserklärungen
zur Mitarbeit galten, empfand ich das als unlauteren Wettbewerb.
Ich hatte keine entsprechenden Papierbögen mitgebracht und
mußte nun zusehen, wie dem Demokratischen Aufbruch die
Leute weggeschnappt wurden. Wie wichtig solche Tricks im politischen
Geschäft sind, hatte ich noch nicht begriffen.
Von den Fragen, die uns aus der Menge gestellt wurden, sind mir
einige noch in Erinnerung, weil sie bei den folgenden Veranstaltungen
immer wiederkehrten: Wird die Staatsmacht nicht wie in China
zur Gewalt greifen? Ich antwortete, daß das in Mitteleuropa
und angesichts der Ausreisewelle so nicht möglich sei. Oder:
Warum ich jetzt die nationale Frage anschneiden würde? Ich
antwortete, daß sie sich mit Sicherheit stellen werde und
daß wir sie nicht den Rechten überlassen dürften.
- Hätten die Linken das nur rechtzeitig begriffen!
In den Tagen danach begann die Menge der Anrufe und Briefe so
anzuschwellen, daß ich über ein Büro hätte
verfügen müssen, um sie zu bewältigen. Ich nutzte
vormittags die Pausen zwischen dem Unterricht in der Predigerschule,
um mit den Leuten zu sprechen, oder sie kamen nachmittags zu
mir nach Weimar. Eines Mannes, der mich damals besuchte, erinnere
ich mich mit besonderer Dankbarkeit: Hans-Walter Becker, Dipl.-Ing.
in Weimar. Er wurde für mich geradezu die Verkörperung
der Herbstrevolution. Als er zu mir kam, sagte er gleich, daß
er das Visum nach Ungarn noch in der Tasche habe. Er besäße
alles, was ein DDR-Bürger erreichen könne: Häuschen,
Garten mit Swimmingpool, zwei Autos. Trotzdem hätte er die
Schnauze voll gehabt und wollte verschwinden. Jetzt sehe es jedoch
so aus, als ob sich bei uns wirklich etwas bewege. Deshalb habe
er es sich anders überlegt und wolle sich engagieren. Ich
müsse doch jetzt sicher viel umherfahren: Wenn ich ein Auto
brauchte - er stünde mir jederzeit zur Verfügung. Und
so war es dann auch. Ohne Hans und sein Auto hätte ich die
vielen Termine der nächsten Wochen nicht wahrnehmen können.
Und ohne die Gespräche mit ihm im Auto hätte ich nicht
das Gefühl gehabt, den Menschen so nahe zu sein. Als er
und seine Frau die ersten Veranstaltungen mitgemacht hatten,
sprachen sie offen aus, wie froh sie seien, das zu erleben: "Was
haben wir bei allem Wohlstand doch bisher für ein beschränktes
Leben geführt!" Als der Parteisekretär des Betriebes
bei einer Versammlung davon sprach, unter den Dächern der
Kirche würden sich jetzt Staatsfeinde und Kriminelle zusammenrotten,
da stand Hans auf und verlangte, er solle diese Behauptung zurücknehmen;
er selber gehöre zu denen, die sich unter den Dächern
der Kirche "zusammenrotten". Als Hans daraufhin vor
den Direktor geladen und schließlich gefragt wurde, ob
er die führende Rolle der Partei überhaupt anerkenne,
da antwortete er kurz und bündig: "Natürlich,
wenn sie sich freien Wahlen gestellt hat." Später,
als der Demokratische Aufbruch sich in Weimar konstituiert hatte,
lehnte er es ab, irgendeinen Posten zu übernehmen: Er werde
aber immer da sein, wenn er für eine konkrete Aufgabe gebraucht
werde. So hat er bei der Stasi-Auflösung in Weimar und Erfurt
energisch mitgewirkt, einen Betriebsrat mit auf die Beine gestellt,
sich für die Einschränkung der Hubschrauberflüge
der Roten Armee über Weimar eingesetzt usw. Wenn ich ihn
im letzten Jahr sprach, dann bekam er allerdings geradezu cholerische
Anfälle wegen der noch immer frei herumlaufenden Stasi-Offiziere,
der Seilschaften in den Betrieben und der anderen Schweinereien,
von denen er reichlich zu berichten wußte.
Am 29. September erhielt ich eine dringende "Vorladung"
zum Rat der Stadt Weimar für abends 18.00 Uhr, ohne Hinweis
darauf, worum es gehen sollte. Nach einer beträchtlichen
Wartezeit erschien Herr Beuthe, Stadtrat für Inneres in
Erfurt und Stasi-Offizier, und fragte mich: "Na, wie geht
es Ihnen denn, Herr Richter?" Ich antwortete nichtsahnend:
"Ganz gut". Er darauf: "Na also, wenn es Ihnen
gut geht, was wollen sie denn da eigentlich?" Er eröffnete
mir dann, den Staatsorganen sei bekannt geworden, daß am
1. Oktober in Berlin das Treffen einer illegalen Vereinigung
stattfinden solle. Mir werde hiermit dringend empfohlen, in den
nächsten Tagen nicht nach Berlin zu fahren. Auf meinen Versuch,
mit ihm zu diskutieren, ging er nicht ein und erklärte das
Gespräch für beendet.
Am folgenden Tag fand das traditionelle Treffen der Thüringer
Basisgruppen hinter den Mauern des Sophienkrankenhauses in Weimar
statt. (Wie immer hatte es große Schwierigkeiten bereitet,
von den ängstlichen Kirchgemeinden einen passenden Raum
zu bekommen.) Es sollte ursprünglich unter dem Thema stehen
"40 Jahre DDR - Max braucht Wasser!" und in einer fiktiven
"Tagung der neu zusammengesetzten Volkskammer 1991"(!)
gipfeln. Die Kirchenleitung hatte uns jedoch nahegelegt, solche
bösartigen Provokationen zu unterlassen. Dennoch gab ich
- "ohn' einige Bemäntelung und Gleißnerei"
- einen Rückblick auf die letzten 40 Jahre; zwei andere
Teilnehmer sprachen über Methoden zivilen Widerstands; schließlich
wurde ein Brief an die Regierung verabschiedet, der die überfällige
Demokratisierung einforderte. In der Pause versuchte ich krampfhaft
jemanden zu finden, der der Stasi bisher noch nicht verdächtig
geworden war und meinen vervielfältigten Programmentwurf
nach Berlin bringen könnte - falls man mich tatsächlich
nicht fahren lassen würde. Ich fand niemanden! Natürlich
war ich entschlossen zu fahren, aber in der Nähe des Sophienkrankenhauses
hatten Kenner schon ein Stasi-Auto entdeckt. So nahm ich nur
einen Teil der Exemplare mit, und eine der Teilnehmerinnen fuhr
mich zum Bahnhof. Als wir das Stasi-Auto hinter uns sahen, versuchte
ich ihr noch einen Teil meiner Papiere aufzuschwatzen, aber nun
hatte sie doch Angst, und ich behielt meine allzuvolle Tasche.
Ich traf mich mit Angelika, einer Studentin aus Erfurt, die schon
immer Mut bewiesen hatte, und wir gingen unbehelligt zum Bahnsteig.
Doch genau in dem Moment, als der Zug einfuhr, traten wie aus
einem Kriminalfilm zwei Herren auf mich zu und baten mich mitzukommen.
Das war nun eine wirklich neue Situation in meinem Leben. Angst
hatte ich nicht. Ich trat gewissermaßen neben mich und
schaute zu, was sich da ereignete und wie ich meine Rolle spielte.
Der gewaltige Machtapparat war ja auch - wie sich ein paar Wochen
später herausstellte - schon gar keine Realität mehr.
Am Ausgang des Bahnhofs sah ich glücklicherweise ein Mädchen,
das vom Basisgruppentreffen abreiste, und es sah mich in Begleitung
der zwei Herren, so daß ich davon ausgehen konnte, meine
Verhaftung (oder "Zuführung") sei registriert.
Die Herren standen mit mir ziemlich lange in der Nähe des
Bahnhofs herum, weshalb ich mir die Frage erlaubte, was das zu
bedeuten habe. Der eine der Kriminalbeamten - als solche hatten
sie sich ausgewiesen, nicht als Stasi-Leute - antwortete: "Wir
haben ja jetzt Zeit", was offenbar ironisch gemeint war.
Wiederum eine lange Zeit saß ich dann im VP-Kreisamt, ohne
daß etwas passierte. Inzwischen wurde es mir doch unheimlich.
Besonders machte ich mir Sorgen um meine Tasche, in der ja auch
alle wichtigen Adressen zu finden waren. Ich verlangte, meine
Familie und meine kirchlichen Vorgesetzten anrufen zu dürfen.
Das sei nicht nötig, hieß es. Nach mehr als einer
Stunde wurde ich wieder aufgefordert mitzukommen, wir stiegen
in ein anderes Auto und fuhren nach Erfurt. Jetzt ahnte ich,
wohin es gehen sollte: in die Bezirkszentrale des Staatssicherheitsdienstes!
Wir fuhren jedoch zum Rathaus, was mich sehr erleichterte. Dort
wartete ich nochmals. Ich fragte mich nun schon, ob das psychologische
Methode sei oder nur die übliche Schlamperei in der Organisation.
Schließlich wurde ich in ein Zimmer gebeten und - welch
freudiges Wiedersehen - von Herrn Beuthe begrüßt mit
den Worten: "Na, Herr Richter, da wollen wir mal den Dialog
von gestern abend fortsetzen!" Von einem Dialog konnte freilich
keine Rede sein, aber ein Verhör war die Unterredung auch
nicht. Wahrscheinlich erübrigte sich ein Verhör, weil
man durch Schnur ohnehin ausreichend informiert war. Jedenfalls
dauerte das Gespräch etwa drei Stunden, und der Stasi-Mann
schien - soweit ihm das möglich war - ehrlich bemüht
zu verstehen, was wir wollten, und zu hören, was Partei
und Staat denn falsch gemacht hätten. Ich ließ mich
- durch die vielen Gespräche beim Rat des Kreises seit Anfang
der achtziger Jahre geübt - auf den zwischenmenschlichen
Ton ein, obwohl ich mir immer vorgenommen hatte, mit Stasi-Leuten
überhaupt nicht zu reden. Aber der Stadtrat hatte sich ja
nicht als solcher offenbart. Im nachhinein stellt es sich mir
fast so dar, als habe das MfS schon um die Aussichtslosigkeit
seines Tuns gewußt und sich ein möglichst schmerzfreies
Ende verschaffen wollen. Vielleicht ist das eine überzogene
Deutung, aber daß es Verunsicherung, Erweichung, eine Art
Liberalisierung bei ihm gab, kann diese Geschichte belegen. Andererseits
gab es das hohle, mechanische Weitermachen bis zur völligen
Absurdität, von dem ich noch berichten werde. Zum Abschied
legte mir Herr Beuthe noch einmal ans Herz, ja nicht nach Berlin
zu fahren, und ich wurde gegen Mitternacht wieder nach Weimar
zurückgebracht. Meine Frau war sehr erleichtert, denn sie
hatte zwar erfahren, daß ich abgeholt worden war, hatte
auch Propst Falcke schon informiert, aber trotz intensiver Nachfrage
bei der Volkspolizei nicht herausbekommen können, wo ich
denn steckte.
So konnte ich an der Gründungsversammlung des Demokratischen
Aufbruch nicht teilnehmen. Denn daß das "Berlin-Verbot"
ernstgemeint war, wurde uns am nächsten Morgen noch einmal
deutlich, als wir sowohl vor unserem Haus als auch in den Seitenstraßen
je einen Stasi-Wagen stehen sahen. Nun machte meine Frau mit
ihrer Freundin den Versuch, mit dem Auto nach Berlin zu gelangen,
und ich wartete den Sonntag über einigermaßen gespannt,
ob sie wohl heil zurückkommen würde. Am Nachmittag
erfuhr ich allerdings durch einen Anruf von Ehrhart Neubert,
daß das Treffen in der Samariterkirche von der Polizei
verhindert worden war, und daß zwei versprengte Häuflein
getrennt in Wohnungen tagten, die jedoch von der Stasi abgesperrt
waren. Zu einem Zusammengehen mit dem Neuen Forum war es nicht
gekommen. Also waren unsere Pläne von Juni und August gescheitert.
Meine Frau, die immerhin nach Berlin gelangt war und spät
in der Nacht auch unbehelligt wiederkehrte, hatte sowohl vor
der Samariterkirche als auch vor Neuberts Haus als auch vor dem
Gemeindehaus in Pankow, wo Leute vom DA tagten, ein überproportionales
Polizeiaufgebot vorgefunden und war nirgends hineingelassen worden.
Allerdings hatte sie Wolfgang Schnur getroffen, der als Rechtsanwalt
(bzw. als Stasi-Agent) überall Zugang hatte, und von ihm
die ersten Papiere mitgebracht. An den Tagen darauf erzählten
mir dann andere aus Thüringen, wie es ihnen in Berlin ergangen
war.
Freilich waren Besuche bei mir jetzt dadurch erschwert, daß
die Stasi unser Haus weiterhin überwachte. Wer kam, mußte
damit rechnen, registriert zu werden. Ich war in dieser schwierigen
Situation sehr dankbar dafür, daß immer wieder Freunde
bei mir anriefen und mich ihrer Verbundenheit versicherten, zumal
das bei Freunden aus dem Ausland zugleich einen Schutz vor weiteren
Übergriffen der Stasi darstellte. Nach ein paar Tagen hatten
wir uns an die ständige Gegenwart der armen Männer
in den Autos so gewöhnt, daß unsere Töchter sie
schon zum Kaffee einladen wollten!. Die Überwacher begleiteten
mich fürsorglich auf allen meinen Wegen. Und der Wege waren
bei mir noch nie so viele gewesen! Fuhr ich nach Erfurt in die
Predigerschule, in die Gemeinde, zum Konvent oder zu einer anderen
Versammlung - sie waren dabei. Ging oder fuhr ich gar zu einer
politischen Veranstaltung, so waren sie in ihrem Eifer gar nicht
mehr zu übertreffen. Als ich am 6. Oktober nach Saal-feld
fuhr, um in der Stadtkirche meine Gedanken über die notwendigen
Veränderungen im Lande vorzutragen, wurde ich gleich von
zwei Stasi-Wagen verfolgt. In Saalfeld angekommen, erfuhr ich,
daß wegen der Unruhe in der Stadt die Kampfgruppen mobilisiert
worden seien. In der Tat war die Kirche brechend voll und die
Atmosphäre gespannt, aber die Menschen waren so friedfertig,
daß es nicht einmal zu einer Demonstration und so auch
zu keinen Zwischenfällen kam. Als ich am 7. Oktober, dem
"Nationalfeiertag" der DDR, nach Karl-Marx-Stadt fuhr,
um in der Studentengemeinde einen Vortrag über Christentum
und Demokratie zu halten, begleiteten uns sogar Limousinen bis
fast vor die Tür! Wir fühlten uns "geehrt",
die Studenten sprachen von einem "Staatsbesuch" und
gingen, als ich wieder abfuhr, mit hinaus, um zu winken! Hans,
ein leidenschaftlicher Autofahrer, hatte große Lust, alle
drei Autos "abzuhängen". Später gestand er
mir allerdings, daß die Angst doch größer war
als die Lust. Jedenfalls mußten wir am Abend desselben
Tages noch nach Erfurt zu einer Bürgerversammlung in die
Kaufmannskirche. Diesmal waren so viele gekommen, daß aus
einer Veranstaltung zwei gemacht werden mußten und zum
ersten Mal die Meinung laut wurde, wir seien lange genug in der
Kirche geblieben und sollten endlich nach dem Leipziger Vorbild
auf die Straße gehen.
Noch vor dem "Tag der Republik", am 4. Oktober, fand
in der Weimarer Herderkirche die geplante Veranstaltung der neuen
oppositionellen Gruppen statt. Ein historisches Datum für
die Stadt, das keiner, der dabei war, vergessen wird! In Erfurt,
das zur Kirchenprovinz Sachsen gehört, hatte das Evangelische
Ministerium (die kollektive Kirchenleitung) schon am 25. September
beschlossen, den neuen Gruppierungen in den Kirchen Gastrecht
zu gewähren, solange der Staat ihnen keine Räume zur
Verfügung stellte. In Thüringen dagegen mußten
derartige Veranstaltungen noch den Charakter von Gemeindeabenden
mit Bibelwort und Gebet haben. (Die Thüringer Landeskirche
war immer etwas frömmelnd, ängstlich und opportunistisch.)
So bekam der Abend in Weimar das Thema "Suchet der Stadt
Bestes", was nicht nur unbeholfen wirkte, sondern geradezu
schief, weil genau dieses Wort des Propheten Jeremia der CDU
von jeher zur Rechtfertigung ihrer Blockpolitik gedient hatte.
- Als wir, meine Familie und ich samt Stasi-Begleitung, in die
Nähe der Kirche kamen, begegneten wir wieder einem absurden
Aufgebot von Sicherheitskräften: Um den ganzen Platz herum
standen Einsatzwagen und Polizisten mit Hunden. Ich schaute gar
nicht genauer hin. Wir fürchteten schon, nicht durchgelassen
zu werden. Das Problem war aber, noch in die Kirche hineinzukommen,
denn sie war schon überfüllt, und an den Eingängen
drängten sich die Menschen. Es waren so viele, daß
die Türen geschlossen und die Veranstaltung am nächsten
Tag wiederholt werden mußte. Das Programm des Abends war
denkbar einfach: Nach einem geistlichen Wort, das nicht nur wie
eine Pflichtübung wirkte, wurden die Aufrufe von Neuem Forum,
"Demokratie Jetzt", Demokratischem Aufbruch, SDP, der
Berliner Schriftsteller u.a. vorgetragen und mit (mehr oder weniger)
starkem Beifall bedacht. Dann wurde ein Brief der Vorbereitungsgruppe
an den Rat des Bezirkes Erfurt verlesen, diskutiert und verabschiedet.
Schließlich benannten die Initiatoren Arbeitskreise zu
allen wichtigen Bereichen der Veränderung und riefen zur
Teilnahme auf. Und die Leute machten mit! Als der Arbeitskreis
"Bildungsfragen" das erste Mal tagte, kamen über
200 Menschen! Und sie konnten plötzlich reden, ihre
Gedanken und Gefühle ausdrücken, wie man es nicht für
möglich gehalten hätte! Und sie opferten ihre freie
Zeit bis in die Nacht hinein, um Lösungsvorschläge
auszuarbeiten, Vorschläge, für die sich heute kaum
noch jemand interessiert. Wir dürfen diesen Oktoberfrühling
nicht vergessen, so groß die Ernüchterung auch war,
die auf ihn folgte!
In den folgenden Wochen fanden in allen größeren Städten
Thüringens und der ganzen DDR ähnliche Veranstaltungen
statt; in ihnen und den vielen Arbeitskreisen hat sich die eigentliche
Revolution ereignet: der Aufbruch zur Mündigkeit und zu
neuen Inhalten. Davon hat das Fernsehen jedoch kaum Notiz genommen,
es hat nur immer die Massendemonstrationen in Leipzig, das Zuschlagen
der Polizei in Berlin und ähnliches ins Bild gebracht. Sicher
war der Spielraum für die Arbeit der Reporter damals noch
sehr eng, aber hätten sie die hier eröffnete Dimension
erfaßt, wenn er weiter gewesen wäre? Die Medien haben
uns ohne Zweifel viel geholfen; sie haben sich jedoch zugleich
in ihrer ganzen Zwiespältigkeit offenbart.
Es war überall dieselbe überwältigende Erfahrung,
ob in Jena (15.10.), in Rudolstadt (19.10.), in Ilmenau (20.10.)
oder in Gera (22.10.). In Jena trat in der Diskussion u.a. ein
Dozent für Marxismus-Leninismus auf, den ich schon von früheren
Gesprächen kannte. Er war einer derjenigen, die sich auf
die Auseinandersetzung mit der Theologie spezialisiert hatten
und von der Partei immer vorgeschickt wurden, wenn wir in der
Kirche jemanden zum "Dialog" suchten. Er hatte tatsächlich
an der Theologie Interesse gewonnen und war ein sehr aufgeschlossener
und gutwilliger Mensch. Das wirkte sich bei Diskussionen in der
Studentengemeinde so aus, daß er allen Kritikern von vornherein
den Wind aus den Segeln nahm, indem er (fast) alles, was an Beschwerden
vorgebracht wurde oder werden sollte, schon selber nannte oder
ohne weiteres als berechtigt anerkannte. Praktische Folgen hatte
das natürlich nicht. Auch jetzt sprach er sich selbstverständlich
für die Anerkennung der oppositionellen Gruppen und für
radikale Reformen aus und erntete viel Beifall. Aber inzwischen
wirkte das geradezu tragisch, und ich empfand Mitleid mit ihm.
Denn jetzt war ihm der Wind aus den Segeln genommen, weil
sich tatsächlich etwas änderte. Andererseits wurde
mir in Jena ein Papier zugesteckt, das dortige Staatswissenschaftler
über die neuen Vereinigungen verfaßt hatten und in
dem der Demokratische Aufbruch als besonders gefährlich
eingestuft war. - Auch in Rudolstadt mußte die Veranstaltung
noch am selben Abend wiederholt werden. Dabei hatten einige,
die warten mußten, sich offenbar in einer Kneipe aufgewärmt.
Denn bei der zweiten Veranstaltung trat in der Diskussion ein
Redner ans Mikrophon und löste mit einem einzigen Satz Heiterkeit
aus: "Mich schimpfen de Leute immer en Säufer - und
unser neuer Generalsekretär?" (Am 18. Oktober war Krenz
an Honeckers Stelle getreten.) In Gera waren die Erfahrungen
der anderen Städte schon genutzt worden: Die Versammlung
fand gleichzeitig in zwei Kirchen statt, die Vertreter der Gruppierungen
sprachen im Wechsel und wurden zügig von der einen zur anderen
Kirche gefahren.
Meine letzte direkte Begegnung mit der Stasi hatte ich am 11.
Oktober. Ich war mit dem Zug nach Erfurt zu einer Dienstbesprechung
gefahren, und wie üblich hatten mich zwei dieser Herren
begleitet. In der Post am Bahnhof wollte ich ein (politisch harmloses)
Telegramm aufgeben. Als ich das Formular ausfüllte, stellte
sich einer der Herren neben mich, nahm ebenfalls ein Formular
und schrieb meinen Text mit! Das war mir nun doch zuviel an Aufdringlichkeit.
Ziemlich ungehalten fragte ich ihn: "Sagen Sie mal, ist
das nicht eigenartig, daß Sie das gleiche Telegramm, das
ich aufgebe, noch einmal aufgeben wollen?" Er stammelte
einigermaßen erschrocken: "Ich kann schreiben, was
ich will, das geht Sie gar nichts an!", verließ aber
sofort die Schalterhalle. Am Abend waren die Stasi-Wagen aus
unserer Straße verschwunden. Es war der Tag, an dem das
Politbüro seine Bereitschaft zum "Dialog" mit
der Bevölkerung erklärt hatte.
Vom 23.-26. Oktober fand auf Burg Bodenstein ein lange schon
geplanter Klausurkonvent der Erfurter Pfarrer zum Thema "Demokratie
und Sozialismus" statt. Ich hatte im Juli versucht, für
diesen Konvent den Berliner Staatswissenschaftler Uwe-Jens Heuer
als Referenten zu gewinnen. Das war insofern ein Vorstoß,
als es sich nicht um einen der bekannten Spezialisten für
den sogenannten marxistisch-christlichen Dialog handelte, der
inzwischen etwas abgestanden wirkte, sondern um einen Fachmann
auf dem Gebiet, um das es uns eigentlich ging. Er war mir durch
Veröffentlichungen schon in den siebziger Jahren als ein
kritischer Mann aufgefallen. Als ich Anfang Juli das erste Mal
bei ihm anfragte, bat er mich, in zwei Wochen noch einmal anzurufen.
Ich verstand: Er mußte seine Parteioberen fragen, ob er
zu uns kommen dürfe. Als ich nach vierzehn Tagen wieder
anrief, erhielt ich die Auskunft, er könne im Oktober nicht
kommen, wir sollten uns bitte bis zum Frühjahr gedulden!
Wer hätte damals gedacht, daß schon im Oktober wohl
auch sein Referat abgestanden gewirkt hätte? Im Frühjahr
traf ich Professor Heuer in der neugewählten Volkskammer
als Abgeordneten der PDS wieder und erinnerte ihn an seine Zusage:
Er brauchte sie nun nicht mehr einzuhalten, denn sie gehörte
einer vergangenen Epoche an. - Unsere Klausur wurde schon am
zweiten Tag durch die Meldung unterbrochen, die Erfurter Oberbürgermeisterin
lade zu einer öffentlichen Diskussion ins Rathaus ein. Wir
schickten eine Delegation. Die Vertreter des Neuen Forum, des
Demokratischen Aufbruch und der Fraueninitiative durften, obwohl
sie noch nicht anerkannt waren, im Podium Platz nehmen. Die Fragen,
die zu den Reformvorstellungen der Partei und zu kommunalpolitischen
Themen gestellt wurden, beantwortete "Rosi", die Oberbürgermeisterin,
in der üblichen wortreichen und nichtssagenden Weise. Auch
wenn die Staatsvertreter sich die größte Mühe
gaben, sie waren der Herausforderung, die jetzt auf sie zukam,
einfach nicht gewachsen. Ich selber war gegen sie seltsam milde
gestimmt, weil ich spürte, daß das Ende ihrer Macht
nahte. Die Situation wurde immer peinlicher. Als gefragt wurde,
wer denn nun in Erfurt für die Organisation (und damit für
die Fälschung) der Kommunalwahlen im Mai verantwortlich
gewesen sei, rief einer der Staatsvertreter erregt in den Saal:
"Dann verklagen Sie mich doch vor Gericht!" Die Antwort
ließ nicht auf sich warten: "Das werden wir auch tun!"
Zwei Tage danach kam es in Erfurt zur ersten wirklich großen
Demonstration. Nach Friedensgebeten in zwei Kirchen bewegte sich
eine unübersehbare Menschenmenge mit Kerzen durch die Straßen
zum Domplatz. Die Befriedigung darüber erfüllte mich
geradezu körperlich. Ich ging im Demonstrationszug neben
einem Mann, der mir bekannt erschien. Es stellte sich heraus,
daß es der Schalterangestellte war, bei dem ich oft meine
Fahrkarte gekauft hatte. So kamen sich fremde Leute plötzlich
ganz nahe. Der Domplatz war ein einziges Lichtermeer. Wenn ich
mich daran erinnere, treten mir noch heute die Tränen in
die Augen. Es gab nur die spontanen und gewitzten Sprechchöre,
noch nicht die späteren etwas unbeholfenen oder allzu markigen
Reden. Es gab sogar die rührende Verlegenheit, was denn
noch geschehen solle und wann denn Schluß sei. Eine große
Zahl von Demonstranten zog vors Rathaus, rief "Rosi aus
dem Rathaus raus!" und ließ dort brennende Kerzen
zurück. Am selben Abend fand in der Reglerkirche die zweite
Vollversammlung des Erfurter Demokratischen Aufbruch statt. Der
Demokratische Aufbruch hatte seit Ende September große
Fortschritte gemacht. Die Mitgliederzahl nahm ständig zu,
es waren Arbeitskreise zu allen wesentlichen Politikbereichen
gebildet, ein Leitungskreis gewählt, ein Büro eingerichtet
und sogar ein Signet entworfen worden. Auch in allen anderen
großen Städten Thüringens gab es inzwischen DA-Gruppen.
(Ich hatte die Karte von Thüringen bis dahin noch nie so
genau studiert!) Diesmal ging es um die Vorbereitung des ersten
DDR-weiten Delegiertentreffens.
In der Tat wurde es nun unbehelligt von Polizei und Stasi am
29. Oktober in Berlin durchgeführt. Die Niederlage vom 1.
Oktober schien wettgemacht. Nur: Wer wurde damals mit großer
Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt? Der Stasi-Mitarbeiter
Wolfgang Schnur. Er genoß tatsächlich das größte
Vertrauen, und niemand hätte geglaubt, daß ausgerechnet
er noch bis zu diesem Zeitpunkt Berichte ans Ministerium für
Staatssicherheit lieferte! Außerdem wurde beschlossen,
die Vereinigung bis spätestens zum 1. Mai 1990 in eine Partei
umzubilden: einer der zahlreichen Termine, die sich immer wieder
als zu spät angesetzt erwiesen! Schließlich wurden
Ehrhart Neubert und ich beauftragt, eine Kommission zu bilden,
die ein neues, detaillierteres Programm ausarbeiten sollte. Wir
machten uns mit Eifer an die Arbeit, sammelten eine Fülle
von Einzelbeiträgen und Gesamtentwürfen, wollten jedem
gerecht werden und zugleich alles unter einen Hut bringen - allerdings
ohne zu ahnen, daß das Programm zu dem Zeitpunkt, als es
schließlich verabschiedet wurde, im Grunde schon Makulatur
war!
Am 7. November, an jenem Tag, als die alte Regierung zurücktrat,
war ich nach Gotha eingeladen, um dort das Programm des Demokratischen
Aufbruch vorzustellen. Bis dahin hatten alle Veranstaltungen,
die der Vorstellung der neuen Gruppierungen bzw. Parteien dienten,
noch in Kirchen stattgefunden. Diesmal war ich das erste Mal
in ein Kulturhaus eingeladen; der Vorstoß in den Bereich
der öffentlichen Räume war also gelungen! Es handelte
sich zudem um denselben Saal, in dem 1946 in Gotha die Vereinigung
von SPD und KPD vollzogen worden war - ein Hinweis, den der Vertreter
der SDP in seiner Ansprache natürlich zu würdigen wußte!
Als eine ziemliche Kühnheit empfand ich es damals noch,
daß er seine Rede mit dem Bonmot begann: "Liebe Bürgerinnen
und Bürger, mit der SED und der FDJ sitzen Sie immer in
der - letzten Reihe!"
Was am 9. November geschah, ist bekannt. Ich saß am Tag
der Grenzöffnung mit einem Parteifreund an der Ausarbeitung
unseres neuen Programms, und paradoxerweise blieb dabei die Frage
der deutschen Einigung immer noch umstritten. Hatte uns die Geschichte
vielleicht schon damals überholt? Ich sah in der Öffnung
der Mauer den letzten Akt des fortwährenden Versuchs der
SED, dem Druck im Land durch Ventilöffnung nachzugeben,
also die inneren Probleme nach außen zu verlagern, statt
radikale Reformen einzuleiten. Daß es der letzte Akt war,
bedeutete aber, daß nun die Reform kommen mußte;
oder, daß sie nicht mehr kommen konnte, weil die
innere Problematik eben endgültig nach außen entglitten
war.
Am 10. November fuhr ich zur ersten Pressekonferenz des Demokratischen
Aufbruch nach Berlin. Der Ansturm der Autos auf die Stadt war
so groß, daß ich zu spät kam. Der Saal, in dem
die Pressekonferenz stattfand, war voll von Journalisten und
Kameras. Meine Freunde suchten mich zu bewegen, doch auch etwas
zu sagen, aber in die Programmarbeit vertieft, empfand ich nur
den peinlichen Widerspruch zwischen dem Aufwand an Öffentlichkeit
und dem spärlichen Inhalt, den wir mitzuteilen hatten. Inzwischen
habe ich freilich gelernt, daß dieser Widerspruch in der
Politik durchaus normal ist. Nach der Pressekonferenz trafen
wir im Foyer auf die Initiatoren der neuen SDP. Die Frage eines
Zusammenschlusses war, wie sich herausstellte, wieder einmal
negativ beantwortet worden - nach meinem Eindruck ohne sachlichen
Grund, nur infolge der Profilierungssucht auf beiden Seiten.
Allerdings wurde über eine mögliche Machtübernahme
und Koalition gewitzelt - wer hätte damals ernstlich gedacht,
daß das ein paar Monate später Wirklichkeit werden
würde?
Als ich am nächsten Tag den Bahnhof Lichtenberg betrat,
um zurückzufahren, bot sich mir ein Bild wie etwa in der
Nachkriegszeit, nur verziert durch Symbole des Wohlstands: die
ganze Halle voller umherliegender Menschen, Plastiktüten
und Bierbüchsen. In den Zug war nicht hineinzukommen, so
daß ich zum Schlafwagen Zuflucht nahm.
Am 12. November hatte ich in Erfurt Gottesdienst zu halten. Der
Kernsatz des vorgeschriebenen Predigttextes lautete: "Sollte
Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die
zu ihm Tag und Nacht rufen und sollte er's bei ihnen lange hinziehen?
Ich sage euch: er wird ihnen ihr Recht schaffen in Kürze."
(Luk. 18, 7 f.) Warum habe ich diesen Text nicht freudig aufgegriffen
und auf die jüngsten Ereignisse bezogen? Eben deshalb, weil
das allzu nahelag, mir die Ereignisse aber zu widersprüchlich
und komplex erschienen. Ich habe über diesen Text nicht
gepredigt, sondern über das Evangelium des Sonntags, in
dem es heißt: "Das Reich Gottes kommt nicht so, daß
man's mit Augen sehen kann..." (Luk. 17, 20)
Am Abend desselben Tages hatte ich zu Beginn der Friedensdekade
in Sondershausen über das Thema zu sprechen: "Was ist
uns der Sozialismus wert?" Ich habe mich zunächst gegen
die ideologische Prämisse ausgesprochen, wir hätten
es bei uns überhaupt mit Sozialismus zu tun gehabt. Ich
habe sodann dafür plädiert, das diskreditierte Wort
"Sozialismus" zu meiden und die Sache ganz neu
zu lernen. Wieso ist zum Beispiel bei Marx von "Wiederherstellung
des individuellen Eigentums" die Rede? Wieso polemisiert
er gegen ein "Papsttum der Produktion"? Und ganz unabhängig
von Marx: Ist Solidarität mit den Leistungsschwachen nicht
eine immer neue Aufgabe? Ist die Humanisierung der Arbeit nicht
nach wie vor eine Notwendigkeit? Solche Überlegungen wurden
damals noch wohlwollend aufgenommen. Es war derselbe Tag, an
dem die SED-Basis auf einer Großkundgebung in Berlin einen
Sonderparteitag forderte.
Am 13. November wurde ich während eines Podiumsgesprächs
an der Hochschule in Ilmenau gefragt, woher denn der Demokratische
Aufbruch und die anderen neuen Gruppierungen ihr Geld bezögen?
Ich konnte damals noch versichern, daß wir keinerlei finanzielle
und technische Unterstützung aus der Bundesrepublik erhalten
hatten. Über das enorme Vermögen der SED und der Blockparteien
konnte ich allerdings noch keine genauen Angaben machen. Am selben
Tag wurde aber in der Volkskammer unsere riesige Staatsverschuldung
eingestanden - und wir hatten immer geglaubt, um die DDR stünde
es im Vergleich zu den anderen Ostblock-Ländern ökonomisch
noch recht gut! (Auch die Westliteratur hatte uns in dieser Hinsicht
falsch informiert!) Das war, nach der Öffnung der Mauer,
für mich das zweite entscheidende Ereignis, das eine eigenständige
Entfaltung von Demokratie in der DDR fraglich machte.
Am 14. November war ich in Altenburg, um wieder einmal für
den Demokratischen Aufbruch zu werben. Ich fand die Befürchtung
bestätigt, daß man jetzt lieber in den Westen reiste,
als sich für die Umwälzung zu engagieren. Es war die
erste schlechter besuchte Veranstaltung.
Es war eine Freude gewesen, so von Stadt zu Stadt zu fahren und
überall Hunderte, ja Tausende Menschen zu finden, die wachgeworden
und zum Engagement bereit waren. Aber damit war es nun im Grunde
vorbei; ich hatte es nur noch nicht begriffen. Jetzt betrat die
Masse der Unpolitischen den Schauplatz, die Masse derjenigen,
die erst ihr privates Heil im Westen gesucht hatten und nun den
Westen herüberholen wollten, um sich auch die Mühe
der Ausreise noch sparen zu können. Hatten Schnur und Eppelmann
das vielleicht begriffen?
Ich erinnere mich an eine Sitzung in Berlin, als ein Parteifreund
aus Gera berichtete, wie dort die Arbeiter nach der Wiedervereinigung
gerufen und sich über weitere sozialistische Experimente
nur abfällig geäußert hatten. Ich sagte daraufhin
zu Wolfgang Schnur im Scherz, er könne zu einem populären
Mann werden, wenn er sich an die Spitze dieser Leute stelle,
und sah seine Augen dabei aufleuchten. Jedenfalls begannen er
und Eppelmann schon Ende November, sich an unserem Programm vorbei
an der CDU/CSU zu orientieren. Nach ihrem ersten Besuch in Bonn
waren sie mit dem Bundeskanzler und Herrn Seiters zusammen in
der Zeitung abgebildet. Als wir sie im Vorstand zur Rede stellten,
beteuerten sie, sie hätten mit Vertretern aller Parteien
gesprochen und könnten nichts dafür, daß die
Presse einseitig berichtet habe. So war es immer wieder, und
dieses Unbestimmte, Ungreifbare, Glitschige der beiden hat mich
damals furchtbar erbost. Inzwischen sehe ich die Dinge gelassener
und denke, daß sie gar nicht unehrlich waren. Denn es gehört
wohl zum Wesen der konservativen Haltung, sich nicht festzulegen,
sondern "überparteilich" nach allen Seiten offen
zu sein und sich dahin treiben zu lassen, wo die Macht ist.
Anfang Dezember habe ich eine Gegenaktion gestartet und bin nach
Bonn gefahren, um mich ausdrücklich nur mit Vertretern der
SPD und der Grünen zu treffen. Bei den Grünen war das
Mißtrauen gegenüber dem Demokratischen Aufbruch schon
so groß, daß mit ihnen kaum noch zu reden war. Bei
der SPD konnte ich am deutschlandpolitischen Arbeitskreis teilnehmen,
in der Fraktionssitzung sprechen und mit Gert Weisskirchen auf
einer Pressekonferenz über die jüngste Entwicklung
in der DDR berichten. Übrigens war Gert einer der wenigen,
die zu einer Zeit, als andere noch darauf erpicht waren, Honecker
die Hand zu schütteln, den Kontakt mit den Andersdenkenden
in der DDR gesucht hatten.
Aber meine Gegenaktion konnte an der Bewegung nach rechts, die
ja nicht nur im Demokratischen Aufbruch eingesetzt hatte, nichts
ändern. Auf dem Parteitag am 16./17. Dezember in Leipzig
stellte sich heraus, daß Schnur und Eppelmann mit ihrer
Orientierung bei der Basis Zustimmung fanden und der Demokratische
Aufbruch praktisch gespalten war. Herr Blüm und Herr Huber
erhielten mehr Beifall als die Gastredner der SPD und der Grünen.
Die Vorstandssitzung, die für den Abend des Parteitages
angesetzt war, fiel aus, weil Schnur und Eppelmann mit den CDU/CSU-Politikern
im Hotel Merkur zusammensaßen. Es kam zu harten Auseinandersetzungen
über das Programm, um das sich hauptsächlich die linke
Leipziger Gruppe verdient gemacht hatte. Paradoxerweise wurde
es schließlich, obwohl es immer noch eindeutig rotgrüne
Farbe trug, mit großer Mehrheit verabschiedet! Lag das
daran, daß die Konservativen in der Partei vieles gar nicht
recht verstanden, daß sie selber kein alternatives Programm
hatten, oder war ihnen Programmatik eigentlich gleichgültig,
weil sie im Grunde zynisch allem Ideellen gegenüberstanden?
Friedrich Schorlemmer bekundete schon damals seine Absicht, den
Demokratischen Aufbruch zu verlassen. Das fiel ihm allerdings
auch leichter als mir, denn er hatte nicht viel eigene Kraft
in den Aufbau der Partei investiert. Ich war damals noch der
Meinung, daß die zwei Flügel der neuen Partei zusammengehalten
werden mußten. Denn in welcher Partei gab es solche Spannungen
nicht? Außerdem verstand ich ja diejenigen, die nicht mehr
für die gleiche Arbeit den halben Lohn bekommen, nicht mehr
nach Obst sich anstellen oder auf einen Trabant jahrelang warten
wollten! Und ich teilte nicht die Ansichten derer, die
sich als Linke moralisierend und ästhetisierend über
die Bedürfnisse der Bevölkerung hinwegsetzen wollten
und "Für unser Land" eintraten!
Noch weniger stand es freilich den Linken in der Bundesrepublik
zu, sich über die Menschen bei uns zu erheben (siehe Schily
mit seiner Banane) oder den Teufel des Nationalismus an die Wand
zu malen. Denn so selbstlos war ja keiner von ihnen gewesen,
daß er sich am "Aufbau des Sozialismus" bei uns
hatte beteiligen wollen. Und fügte es sich nicht ausgezeichnet,
daß man, indem man für die Eigenständigkeit der
armen DDR eintrat, faktisch zugleich den Reichtum der Bundesrepublik
gegen die begehrlichen Ossis verteidigte? Viele Linke haben einfach
nicht begriffen, daß das System, das da in Frage gestellt
wurde, auch nicht im Ansatz sozialistisch war, sondern ein System
nachholender Industrialisierung mit despotischem Erbe, das den
Mitteleuropäern oktroyiert worden war. Wenn es nun zusammenbrach,
so bedeutete das im Grunde, daß plötzlich Entwicklungsländer
vor der Tür der westlichen Industrieländer standen
und um Hilfe bettelten, also eigentlich eine enorme Herausforderung
für die Linke! Jetzt wurde aus dem abstrakten der konkrete
Nächste, wurde es ernst mit der Parteinahme für die
Verdammten dieser Erde! Was aber tat die westliche Linke? Sie
mokierte sich über einen Nationalismus, den sie doch sonst
in der Dritten Welt als legitim anerkannte. Oder sie entdeckte
ihre gefährdeten Besitzstände an demokratischer politischer
Kultur, die sie doch früher auch auf ihre ökonomische
Basis hin überprüft hatte (vgl. Thomas Schmid oder
Jürgen Habermas). Jedenfalls wich sie der Herausforderung
aus, und das ließ bei mir den alten Verdacht wieder wachwerden,
daß ihr "Sozialismus" vielleicht von vornherein
nur ein Luxus, eine Spielerei, wenn nicht gar Verlogenheit gewesen
war.
Im Januar 1990 wurde jedoch endgültig klar, daß meine
vermittelnde Position nicht durchzuhalten war. Zwar war Schnur
nur mit knapper Mehrheit wieder Vorsitzender geworden, und die
Linken hielten im Vorstand den Rechten fast die Waage, aber das
führte nur zu endlosen Diskussionen und machte uns handlungsunfähig.
Es mußte aber gehandelt werden, denn die Wahlen rückten
näher, und wir brauchten einen Partner in der Bundesrepublik,
wenn wir nicht hoffnungslos zurückbleiben wollten.
Ende Dezember hatte ich noch einen Versuch gemacht, die Entscheidung
herbeizuführen: Ich entwarf einen Brief an den Vorstand
der bundesdeutschen SPD, in dem ich den schwierigen Weg des Demokratischen
Aufbruch erläuterte, seine Nähe zur sozialdemokratischen
Tradition deutlich machte, ein Bündnis mit der SDP in Aussicht
stellte und um Unterstützung nachsuchte. Der DA-Vorstand
lehnte es mit knapper Mehrheit ab, sich den Brief zu eigen zu
machen und abzuschicken. Die Macher sprachen wieder einmal von
Überparteilichkeit und betrieben faktisch den Anschluß
an die CDU/CSU. Anfang Januar traf sich die linke Fraktion des
DA in Leipzig und beschloß, "sich auf die SDP zuzubewegen
und damit auch der Erwartung der Bevölkerung nach klar erkennbaren
Parteiprofilen zu entsprechen." Aber nicht einmal die Mehrheit
der Linken folgte dem Aufruf, weil sie sich dabei von ihrer Basis
hätte trennen müssen. So erging es auch mir, denn wie
viele persönliche Bindungen waren in dieser kurzen Zeit
entstanden!
Der Thüringer Landesparteitag des Demokratischen Aufbruch
am 20. Januar 1990 gab mir endlich den letzten Anstoß zum
Austritt. Hier wurde mir das Ergebnis dessen, was ich mit auf
den Weg gebracht hatte, endlich eindeutig präsentiert: Zwar
hörte man sich noch ein Referat von mir an, dann aber wurde
ein Gegenreferat gehalten, erklärte die Mehrheit des Thüringer
Landesverbandes sich zum Vertreter bürgerlich-liberaler
und konservativer Interessen und bekannte ihre Nähe zu den
Parteien der bundesdeutschen Regierungskoalition. (Dazu meinte
ein Parteifreund in der Pause, wir würden es eben machen
wie Fouché, der auch nach der Revolution noch einflußreich
war!) Das war so ungefähr das Gegenteil dessen, was ich
gewollt hatte, und so konnte meines Bleibens in dieser Partei
nicht länger sein. Der Unterschied zwischen dem Wissen darum,
daß in der Geschichte oft das Gegenteil dessen herauskommt,
was man eigentlich will, und der leibhaftigen Erfahrung dieser
Wahrheit ist beträchtlich. Schmerzlich war auch die Trennung
von den vielen Menschen, die ich in diesem Vierteljahr schätzen
gelernt hatte. Denn nur eine Minderheit im DA hatte den Mut,
mit mir auszutreten.
Am darauffolgenden Sonntag, dem 21. Januar, rief der Vorsitzende
des Bürgerkomitees in Erfurt an und bat mich, wegen einer
sehr dringenden Sache noch heute zu ihnen zu kommen. Ich fuhr
nach Erfurt und fand die Vertreter des Bürgerkomitees -
immer noch wie zu Oppositionszeiten - in einer Wohnung versammelt.
Es herrschte beträchtliche Aufregung. Sie waren zu der Überzeugung
gekommen, daß alte Stasi-Kämpfer sich nicht nur nach
wie vor trafen, sondern für die allernächste Zeit sogar
einen Putsch planten. Ich hörte mir das aus Respekt vor
dem Eifer der Leute an, wenngleich ich einen Putsch für
unwahrscheinlich hielt. Aber ich hatte ja auch keine besseren
Informationen. Außerdem suchten sie einen vertrauenswürdigen
Mann, der die Auflösung der Stasi DDR-weit endlich energisch
in die Hand nahm. Zugleich sollte die Opposition von Modrow das
Amt des Innenministers und des Generalstaatsanwalts fordern.
Für den Erfurter Raum wären die Maßnahmen schon
gut vorbereitet: Die Adressen der Führungskräfte der
Stasi seien erfaßt, und Polizei und Volksarmee stünden
bereit, sie umgehend zu verhaften. Ich aber sollte das Amt des
obersten Stasi-Auflösers übernehmen! Ich wandte ein,
daß ich mich mit der Problematik bisher zu wenig befaßt
hätte, daß ich ein viel zu theoretisch veranlagter
Mensch wäre usw. Ich bekam zur Antwort, für die praktischen
Dinge stünden genügend Leute zur Verfügung, meine
Aufgabe sei es hauptsächlich, das Anliegen in der Öffentlichkeit
zu vertreten. Ich bat mir Bedenkzeit aus und Gelegenheit, mit
meiner Frau zu sprechen. Das wurde mir gewährt, aber ich
müsse mich noch heute entscheiden, denn morgen tage der
Runde Tisch, und da müsse der Beschluß durchgesetzt
werden. So fuhr ich zunächst zurück nach Weimar und
besprach die Angelegenheit mit Andrea, meiner Frau. Wir kamen
zu dem Schluß: Wer A sagt, muß auch B sagen. Gewiß
hat bei meiner positiven Entscheidung auch eine Rolle gespielt,
daß ich mit dieser neuen Aufgabe leichter über die
Enttäuschung in bezug auf den Demokratischen Aufbruch hinwegzukommen
hoffte. Montag früh 5 Uhr saß ich jedenfalls mit Matthias
Büchner und einem weiteren Mitglied des Bürgerkomitees
im Trabbi auf der Fahrt nach Berlin.
Der Runde Tisch tagte im Schloß Niederschönhausen,
und ich war erstaunt, wie schnell wir da hineinkamen - noch vor
ein paar Wochen wäre das undenkbar gewesen. Ebenso wunderbar
erschien es mir, hier so viele Freunde aus der Untergrundzeit
zu treffen. Wir warteten im Foyer. Schnur und Eppelmann wußten
noch nicht, daß ich mich innerlich von ihnen losgesagt
hatte und drängten mich, im Saal Platz zu nehmen. Egon Krenz
mußte Rede und Antwort stehen, dann ging es um Fragen des
Wahlrechts, aber in der Stasi-Angelegenheit wurde nichts entschieden.
Am Abend schließlich erfuhr ich, daß die Berliner
andere Vorstellungen hatten: Werner Fischer sollte der Bevollmächtigte
für die Stasi-Auflösung werden, und die Maßnahmen
sollten weniger einschneidend sein als in Erfurt geplant. So
war ich also umsonst mit nach Berlin gekommen. Der Runde Tisch
hatte ganz andere Probleme, und zwar in einer Größenordnung,
die ihn überforderte. Wichtiger schien im Augenblick Modrows
Angebot einer Regierungsbeteiligung der Opposition, das am Abend
noch im engeren Kreis erörtert wurde. Dabei war die Neigung
einiger groß, den Teufel des politischen Chaos an die Wand
zu malen und sich als Retter der Ordnung zu verstehen. Und diese
Neigung war schwer zu unterscheiden von der Lust, einmal Minister
spielen zu können. Sicher brauchte die Opposition die Herrschaft
der SED nicht mehr massiv in Frage zu stellen, sondern konnte
sie um des lieben Friedens willen sogar stützen, denn ihr
Ende war ohnehin abzusehen. Aber mußte sie sie denn in
dieser Weise stützen? Ich habe mich in den folgenden Monaten,
als das Stasi-Thema immer wieder in quälender Weise auf
die Tagesordnung kam, oft gefragt, ob man es damals nicht mit
der Entschiedenheit hätte anpacken müssen, die die
Erfurter ins Auge gefaßt hatten.
Ich hatte meinen Austritt aus dem Demokratischen Aufbruch noch
nicht öffentlich erklärt. So konnte es geschehen, daß
am Tag darauf der Sekretär von Herrn Rühe bei mir erschien
und den Besuch des CDU-Generalsekretärs für die nächste
Woche ankündigte. Offenbar sollte die unheilige Allianz
für Deutschland angebahnt werden. Ich gab die Ankündigung
an den Weimarer Demokratischen Aufbruch weiter. Nachdem dann
meine Austrittserklärung in der Presse erschienen war, erhielt
ich von Rühes Büro die Mitteilung, der Besuch müsse
aus terminlichen Gründen leider abgesagt werden.
Ich wollte mich nicht in meiner Depression verlieren und trat
sofort in die SPD ein. Auf dem Thüringer Landesparteitag
in Gotha wurde ich herzlich aufgenommen und fühlte mich
schnell zu Hause: der traditionsreiche Ort, Willy Brandt als
Gast und die Kundgebung auf dem Markt mit über einhunderttausend
Menschen. Es hat mir Spaß gemacht, den ersten Wahlkampf
in der DDR mitzugestalten. Immer wieder befiel mich ein heimliches
Staunen über die Veränderung der Menschen und der Situation:
Wer hätte das noch vor einem halben Jahr für möglich
gehalten? Freilich zeigte sich schon im Februar an den schwindenden
Teilnehmerzahlen bei Veranstaltungen und an bestimmten plumpen
Zwischenrufen das Gewicht der politisch Desinteressierten. Die
große Ernüchterung brachte dann das Wahlergebnis vom
18. März. Als wir es in unserem Weimarer Wahllokal zuerst
hörten, wollten wir es nicht glauben, und als es im Fernsehen
verkündet wurde, haben wir geradezu gestöhnt. Das sollte
also das Ergebnis der Herbstrevolution sein? Befanden wir uns
schon in der Phase der Restauration? War es überhaupt eine
Revolution, d.h. ein Ereignis, das etwas geschichtlich Neues
brachte?
Wer geschlagen worden ist, fragt natürlich nach den Ursachen.
Die SPD hatte sehr viel weniger Mitglieder und hauptamtliche
Mitarbeiter als die CDU, die finanzielle und materielle Ausstattung
war weitaus schlechter, der Organisationsgrad niedriger. In manchen
ländlichen Gebieten war die Partei kaum oder gar nicht präsent.
Sie verfügte über kein eigenes oder ihr nahestehendes
Publikationsorgan, und in die "unabhängigen" Lokalzeitungen
war schwer hineinzukommen. Die horizontale und vertikale Kommunikation
in der Partei war mangelhaft. Unerfahrene und zum Teil unfähige
Leute nahmen Führungspositionen ein.
Diese Mängel hätten freilich durch das Gewicht der
westdeutschen SPD ausgeglichen werden können, aber sie befand
sich in der Opposition. Hätte sie die Regierungsmacht
innegehabt, so wäre sie von den Ostdeutschen gewählt
worden. Sie hätten aus ihrer Situation heraus immer die
Bundesrepublik gewählt, und zwar nicht, wie sie sein könnte
oder sollte, sondern so, wie sie ist, gewissermaßen mit
Haut und Haaren. Die Regierungsparteien hätten schon gravierende
politische Fehler machen, z.B. die Vereinigung geradezu ablehnen
müssen, um nicht gewählt zu werden.
Angesichts dieser Ausgangslage hätte die SPD nur eine Chance
gehabt, wenigstens Stimmen hinzu zu gewinnen, wenn sie sich von
vornherein zum Fürsprecher der deutschen Einheit gemacht
und die überzeugenderen positiven Programme vorgelegt hätte.
Statt dessen hat sie in dieser Frage sehr lange geschwankt und
zum Teil offen ihr Desinteresse bekundet. Oskar Lafontaine hat
auch später noch zu den Ostdeutschen geredet wie ein Mann
zu einer Frau, die sich zu große Hoffnungen macht. Der
Mann erklärt ihr, daß er sie doch nur zufällig
kennengelernt habe, sie durchaus nett fände, sie vielleicht
heiraten werde, allerdings noch viele andere Frauen kenne, die
er auch heiraten könnte. Oskar stand da wie einer, der von
allgemeiner Menschenliebe redet, wo konkrete Solidarität
gefordert ist. Konnte er den Osten der Nation nicht als den Ausschnitt
der Menschheit verstehen, der den Westdeutschen hier und heute
der Nächste ist?
Eine weitere wesentliche Ursache des Scheiterns der SPD war das
in der DDR verbreitete Vorurteil, die SPD stünde doch der
SED näher als die CDU; die Unfähigkeit also, zwischen
demokratischem und real-despotischem Sozialismus zu unterscheiden.
Die Bevölkerung wollte das Ruder ganz herumreißen
und von "Sozialismus" überhaupt nichts mehr wissen.
Aber war das nur ein Vorurteil, mußte es nicht ernstgenommen
werden? Es gibt in der Tat eine traditionelle Staatsgläubigkeit
in der SPD, und sie hat in den siebziger Jahren noch einmal Triumphe
gefeiert. Ihr Motto war in gewisser Hinsicht Horst Ehmkes Satz:
"Der Staat muß ein planender und koordinierender,
ein fördernder und leitender Staat sein." (zit. in
Michal, 94) Entsprechend stieg die Staatsquote am Bruttosozialprodukt
auf 34%, die Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten
auf 4,5 Millionen, es stiegen die Subventionen, die Staatsschulden,
auch die Sicherheitsbedürfnisse des Staates. Gewiß
ist das alles nicht mit der SED-Herrschaft zu vergleichen, aber
die Abneigung der Wähler gegen alles, was nach Bürokratie
auch nur "riecht", wird so verständlich.
Die Staatsgläubigkeit der SPD hat mit zur Ablösung
der sozialliberalen Koalition beigetragen. Aber ihre Ablösung
war nur Symptom eines umfassenden Wandels Ende der siebziger/Anfang
der achtziger Jahre! Über ihn muß man hauptsächlich
nachdenken, wenn man die Niederlage der Linken begreifen will!
Der Name "Sozialismus" verlor damals schon seinen guten
Klang - man vergleiche damit die weltweite sozialistische Hoffnung
Ende der sechziger Jahre! Kritische Marxisten konstatierten damals
schon eine "Krise des Marxismus" und den "Abschied
vom Proletariat". Das östliche System verlor an Glaubwürdigkeit
(man denke an die Stagnation in der Sowjetunion, die Aufrüstung,
an Afghanistan, an Solidarnosc in Polen und andererseits an die
neue Kirchenpolitik der SED!). Im Westen wurde der Wohlfahrtsstaat
kritisiert, setzte sich der Neokonservatismus durch und konnte
Reagan seine abenteuerliche Politik beginnen. Trotz der Einsichten
der siebziger Jahre in die ökologische Lage der Menschheit
wurde das Wirtschaftswachstum wieder angekurbelt. Die Unternehmer
erlebten einen neuen Frühling, und die Leistungsschwachen
blieben auf der Strecke. "Individualisierung" wurde
zum Schlagwort der Zeit. - Diese Tendenz hält offenbar an
und hat durch den Zusammenbruch des despotischen Sozialismus
neuen Auftrieb bekommen. Man kann fragen, ob diese Tendenz angehalten
hätte, wenn der "Sozialismus" nicht zusammengebrochen
wäre, ob also die Neokonservativen sich hätten behaupten
können, wenn Ostdeutschland ihnen nicht zugefallen wäre.
(Waren vielleicht aufgrund dieser Erwägung die Linken gegen
die deutsche Einheit?) Aber das ist eine hypothetische und unhistorische
Frage. Jedenfalls hat der Osten einen enormen Nachholbedarf an
politischer und ökonomischer Liberalität und wird daher
auf absehbare Zeit soziale Gerechtigkeit und ökologischen
Umbau nicht als seine primären Ziele ansehen.
Die letzte Volkskammer
Immerhin hatte
die SPD in Thüringen so viel Stimmen erhalten, daß
ich in die Volkskammer kam. Ich empfand das als Anerkennung für
mein Engagement im Herbst und gestehe auch, daß ich ein
Gefühl von Macht nicht unterdrücken konnte, als ich
zum ersten Mal das ehemalige ZK-Gebäude betrat und dort
- im nunmehrigen Haus der Parlamentarier - mein Büro bezog.
Doch eigentlich bestimmte mich eine beträchtliche innere
Distanz zu all dem, was da ablief, ja eine gewisse Leere und
Müdigkeit. Seltsam, in welch großer Zahl Opportunisten
und Wendehälse in die Volkskammer hineingeraten waren. Zwar
war der Ernüchterungsprozeß bei mir inzwischen so
weit vorangeschritten, daß ich die Notwendigkeit einer
großen Koalition mit der CDU einsah. Innerlich lehnte
ich sie aber ab, und so wurde die Arbeit im Parlament zu einer
ständigen Übung in Disziplin. Ohne Leidenschaft läßt
es sich aber schlecht politisch handeln. War die Demokratie,
als Verwirklichung des dialogischen Prinzips verstanden, mit
dieser großen Koalition nicht schon fast wieder begraben?
Ich konnte meinen Freunden aus den Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen,
die nun zur Fraktion Bündnis 90 gehörten, kaum in die
Augen sehen, wenn ich wieder einmal mit dem großen Haufen
gegen sie gestimmt hatte. Da war ich nun der SPD beigetreten,
um der Umarmung durch die konservativen Pragmatiker zu entgehen,
aber gerade hier holten sie mich wieder ein.
Freilich gab es gewichtige Gründe für die große
Koalition: Wenn wir sie nicht eingingen, dann mußten wir
mit der dubiosen PDS gemeinsam in die Opposition gehen und damit
das Vorurteil bestätigen, das in der Bevölkerung über
uns herrschte: PDSPD. Andererseits galt es, mit unserer Regierungsbeteiligung
die CDU daran zu hindern, als bloßes Instrument der West-CDU
zu fungieren. Drittens hatten die Wahlen ja gezeigt, daß
das politische Kräftespiel nicht mehr auf die DDR begrenzt,
sondern im Grunde schon ein gesamtdeutsches war: Koalition bedeutete
daher - so glaubten wir jedenfalls - Interessenvertretung der
DDR-Bevölkerung gegenüber der Bundesregierung. Außerdem
befanden wir uns in einer Krisensituation, die ein gewisses Abgehen
von demokratischer Prinzipienreinheit rechtfertigte.
Trotz dieser plausiblen Gründe, die ich mir immer wieder
klarmachte, hatte ich während der langwierigen Koalitionsverhandlungen
die stille Hoffnung, daß sie doch noch scheitern würden;
z.B. als sich herausstellte, daß die CDU auf inhaltliche
Vereinbarungen überhaupt nicht vorbereitet war, sondern
nur über die Postenverteilung reden wollte; oder als unser
Parteivorstand sich gegen ein Zusammengehen mit der DSU aussprach;
oder als die CDU sich nicht an die vorher getroffene Absprache
hielt, bei der Wahl des Präsidenten der Volkskammer für
Reinhard Höppner zu stimmen, der als erfahrener Synodalpräsident
weitaus fähiger gewesen wäre als Frau Bergmann-Pohl.
Über die Postenverteilung sollte besser kein Wort verloren
werden: Es war geradezu verblüffend, mit welcher Schnelligkeit
und nach welch zufälligen Kriterien da Minister aus der
Taufe gehoben wurden.
Bekanntlich kam die Koalition am 12. April zustande. Aber schon
am 27. April wurde sie von den Konservativen in einer entscheidenden
Frage wieder gebrochen! In bezug auf den Verfassungsentwurf des
Runden Tisches hatten wir uns mit ihnen geeinigt, dafür
zu stimmen, daß er an die Ausschüsse zu überweisen
sei. So hätte er für die Erarbeitung einer Übergangsverfassung
der DDR bzw. einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung
fruchtbar werden können. Dafür hat unsere Fraktion
gestimmt, nicht jedoch die der Konservativen, und die Hintergründe
wurden bald deutlich: Die Bundesregierung wollte keine Verfassungsdiskussion.
Nach ihrer Meinung sollte sich eine DDR-Übergangsverfassung
am Staatsvertrag orientieren, über den die Regierungen schon
verhandelten. Von Volkssouveränität war demnach in
Ostdeutschland schon keine Rede mehr! Den Experten aus der DDR,
die Anfang Mai ein "vorläufiges Grundgesetz" ausgearbeitet
hatten, wurde von Bonner Beamten denn auch klargemacht, welche
Aussagen aus dem Verfassungsentwurf zu eliminieren seien:
- Ausländer und Staatenlose mit ständigem Wohnsitz
haben Wahlrecht auf kommunaler Ebene (Art. 3, 3).
- Niemand darf ... wegen seiner sexuellen Orientierung ... benachteiligt
oder bevorzugt werden (Art. 9, 2).
- Frauen haben das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft
(Art. 11, 3).
- Die DDR gewährt politisch Verfolgten Asyl (Art. 16, 3).
- Das Gesetz hat durch Verfahrensregelungen sicher zu stellen,
daß die Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen
im Bereich von Presse ... zum Ausdruck kommen kann (Art. 17,
2).
- Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und
dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen),
genießen als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung,
Kritik und Kontrolle besonderen Schutz der Verfassung (Art. 22,
2).
- Streik und Abwehraussperrung (Arbeitskampf) sind zugelassen,
soweit sie nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
verstoßen (Art. 23, 2).
- Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung
(Art. 24, 2).
- Erweiterter Kündigungsschutz für Alleinerziehende
(Art. 25, 5).
- Steigert sich der Wert von Boden auf Grund seiner planerischen
Umwandlung in Bauland, so steht den Gemeinden ein Ausgleich für
die Wertsteigerung zu (Art. 23, 1).
- Wer Umweltschäden verursacht, haftet und ist für
Ausgleichsmaßnahmen verantwortlich (Art. 34, 3).
- Der unentgeltliche Zugang zu den öffentlichen Bildungs-
und Ausbildungseinrichtungen (Art. 37, 1).
- Das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder mitzubestimmen,
ist bei der Gestaltung des öffentlichen Bildungswesens zu
gewährleisten. (Art. 38, 2)
(die tageszeitung, 10.5.1990)
Nachdem der Verfassungsentwurf des Runden Tisches abgeschmettert
worden war, kam es zu der läppischen Vorlage sogenannter
"Verfassungsgrundsätze" durch Minister Wünsche
am 17. Mai, die dem Staatsvertrag den Weg ebnen sollten und einen
Monat später - gottseidank etwas modifiziert - verabschiedet
wurden. Schon ihre Präambel enthielt einen logischen Widerspruch:
Sie sollten die DDR-Verfassung ergänzen und ihr zugleich
widersprechen, wobei die Teile der alten Verfassung, die nun
als ungültig anzusehen waren, gar nicht benannt wurden.
In Artikel 2 mußte die Sozial- und Umweltverantwortung
des Eigentums nachgetragen werden. Über Umweltschutz war
- wohl aus Ehrfurcht vorm Grundgesetz von 1949 - überhaupt
nichts gesagt. Nach Artikel 7 sollte die DDR "durch Gesetz"
Hoheitsrechte abtreten können, und nach Artikel 8 sollte
die Volkskammer "durch Gesetz" die Verfassung ändern
können; daß dazu eine 2/3-Mehrheit notwendig sei,
war beide Male nicht erwähnt. Man hätte Wünsche
schon wegen dieser Vorlage zum Rücktritt auffordern können,
seiner Altlasten hätte es dazu gar nicht bedurft. Aber er
war ja nur Werkzeug, wie er es schon vor der Wende gewesen war.
Und waren wir Abgeordneten es nicht auch? Vor der Abstimmung
über die "Verfassungsgrundsätze" wurde uns
jedenfalls von unserem Fraktionsvorsitzenden eingeschärft,
daß die Arbeiter vieler Betriebe in der DDR im Juli keinen
Lohn erhalten könnten, wenn wir etwa nicht zustimmten und
dadurch die Verabschiedung des Staatsvertrages verhinderten!
Am 25. April konstituierte sich der Ausschuß "Deutsche
Einheit", bestehend aus 19 Vertretern der Fraktionen.
Er war als Sonderausschuß gedacht, um die Vereinigungspolitik
parlamentarisch zu kontrollieren, und insofern federführend
gegenüber den anderen Ausschüssen der Volkskammer.
Der Vorsitz in diesem Gremium stand unserer Fraktion zu, und
sie beauftragte mich damit, weil ich in der Friedensbewegung
schon seit 1983 mit der deutschen Frage befaßt war. Ein
Freund drängte mich, mit der Konzeption, die ich für
den Ausschuß entworfen hatte, sofort an die Öffentlichkeit
zu gehen. Ich zögerte, denn noch hatten wir nichts Substantielles
geleistet. Nach unserer zweiten Sitzung hatte sich jedoch das
entsprechende Gremium des Bundestages gebildet, bestehend aus
39 meist namhaften Politikern und geleitet von der Präsidentin
des Bundestages. Nun waren wir gezwungen, unseren Ausschuß
analog zu gestalten, und ich wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden
"degradiert". Aber war eine Gruppe von 39 Mitgliedern
- bei gemeinsamen Sitzungen gar von 78 - überhaupt noch
arbeitsfähig? In der Tat dienten die gemeinsamen Sitzungen
nicht der Sachdiskussion, sondern nur der Abgabe von Statements
und der Präsentation in der Öffentlichkeit. Wir wurden
als federführender Ausschuß erst arbeitsfähig,
als wir einen kleinen geschäftsführenden Vorstand wählten:
Er sichtete in stundenlangen Sitzungen die Stellungnahmen der
anderen Ausschüsse und bündelte sie zu Beschlußempfehlungen
fürs Parlament. Diese Arbeit "durfte" ich leiten,
denn dafür hatte die Volkskammerpräsidentin natürlich
keine Zeit.
Auch Staatssekretär Krause, der die Vertragsverhandlungen
auf DDR-Seite leitete, hatte keine Zeit. Wenn ich mich nicht
täusche, ist er ein einziges Mal unserer Einladung gefolgt,
obwohl ein Minister oder Staatssekretär verpflichtet ist
zu kommen, wenn ein Ausschuß um Information bittet. Immerhin
schickte der überlastete Staatssekretär seine Vertreter.
Aber von parlamentarischer Kontrolle des Regierungshandelns konnte
so nicht ernstlich die Rede sein. Schon deshalb nicht, weil der
Ausschuß Deutsche Einheit und die Volkskammer überhaupt
die Gesetzes- und Vertragstexte meist zu spät in die Hand
bekamen. Das sogenannte "Mantelgesetz" zur Übernahme
von 26 Bundesgesetzen beispielsweise war 800 Seiten dick, aber
wir erhielten es erst einen Tag vor der ersten Lesung am 1. Juni
1990!
In dieser Lage waren wir mitunter dankbar, daß es noch
eine vierte Gewalt im Staate gab. Denn als die Bundesregierung
am 23. April bekanntgab, sie habe sich über die Grundzüge
eines Staatsvertrages mit der DDR verständigt, hatten
wir dank der eifrigen Presse schon den (einen?) Text dieser "Grundzüge"
in der Hand (die tageszeitung, 20. 4.90). Von Regierungsseite
war uns noch 14 Tage danach kein Text zur Verfügung gestellt
worden (die SPD-Fraktion hatte lediglich ein internes Arbeitspapier
ihrer Minister)!
Im ersten Bonner Entwurf brachten unsere Verhandlungspartner
wohl ihre Interessen unverblümt zum Ausdruck, um besser
feilschen zu können. In der Überschrift war nur in
bezug auf die Währung von einer "Union" die Rede,
im Hinblick auf Wirtschaft und Soziales aber von einer "Gemeinschaft".
Obwohl es spitzfindig erscheinen mochte, haben unsere SPD-Vertreter
diese einseitige Akzentsetzung beanstandet, denn: Wurde die wirtschaftliche
und soziale Untermauerung der Währungsunion nicht ernst
genug genommen, dann mußte das katastrophale Folgen haben!
Aus diesem Grunde wurde auch der Satz eingefügt: "Die
Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion
eine Einheit." (1, 4) War es nur ein Versehen, daß
in der Präambel dieses wichtigen Vertragswerkes der Ausgangspunkt
des Prozesses, der zu ihm geführt hatte, überhaupt
nicht erwähnt war: die Herbstrevolution 89? Art. 14 (später
15) mußte völlig neu geschrieben werden, weil er schlicht
davon ausging, daß unsere Landwirtschaft, die schon zusammenzubrechen
begann, von heute auf morgen in die EG integriert werden könne.
Recht dürftig war auch der Art. 15 (später 16) zum
Umweltschutz geraten, obgleich schon die Blechlawine rollte,
das Sero-System starb und die Müllberge anschwollen. Wir
trugen immerhin das Vorsorge-, das Verursacher- und das Kooperationsprinzip
nach und brachten den Satz ein: "Bei der weiteren Gestaltung
eines gemeinsamen Umweltrechtes werden die Umweltanforderungen
der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik
Deutschland so schnell wie möglich auf hohem Niveau angeglichen
und weiterentwickelt." (16, 4) In bezug aufs Arbeitsrecht
sollte nach dem Entwurf der Bundesregierung die Aussperrung erlaubt
sein! (urspr. Anlage II, Leitsätze) Das konnten unsere Vertreter
verhindern, allerdings nur deshalb, weil angesichts der steigenden
Arbeitslosenzahl die Unternehmer im Arbeitskampf ohnehin im Vorteil
sein würden. Nach Art. 16 (2) sollte die Unfallversicherung
wie die anderen Versicherungen zur Hälfte von Arbeitnehmern
und Arbeitgebern getragen werden, obwohl sie in der alten Bundesrepublik
allein von den Arbeitgebern finanziert wird! Dagegen haben wir
uns erfolgreich gewehrt. Die Beitragssätze für die
Sozialversicherung sollten ohne weiteres auf das bundesrepublikanische
Niveau von 17,95% angehoben werden. Wir haben durchgesetzt, daß
den Empfängern niedriger Einkommen dafür eine Zeitlang
ein Ausgleich gewährt wurde. Im Papier der Bundesregierung
war von "Maßnahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik
wie berufliche Bildung und Umschulung" nichts zu lesen.
Arbeitslose können vielleicht ermessen, wie wichtig es war,
daß der entsprechende Satz noch aufgenommen wurde. (Art.
19) Und Rentner waren sicher angesichts der steigenden Preise
froh, daß das Prinzip der Mindestrente für eine Übergangszeit
in Anwendung blieb (Art. 20) - was von der Bundesregierung ursprünglich
auch nicht vorgesehen war.
Gerechtigkeit
Freilich konnte
eine ganze Reihe von Problemen in den Verhandlungen nicht annähernd
gelöst werden. Ich nenne drei, die deshalb besonders wichtig
sind, weil es bei ihnen um die Überführung des sogenannten
Volkseigentums in verantwortliches Eigentum ging.
Zuvor noch ein Wort zur Überschrift dieses Absatzes. Wir
christlichen Oppositionellen in der DDR waren immer von der Vorstellung
ausgegangen, der Gegensatz zwischen dem reichen Norden und dem
armen Süden der Erde müsse verringert werden. Dabei
waren uns die Differenzierungen, die hier nötig sind, durchaus
bewußt, ebenso die Tatsache, daß es eine einfache
Lösung nicht geben kann. Dennoch meinten wir, das müsse
ein Hauptziel der Politik sein. Jetzt jedoch wurde uns am Verhältnis
zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten unseres Landes
deutlich, wie wenig dieses Ziel die Richtung der Politik überhaupt
bestimmen konnte! Und zwar nicht, weil es durch die Dynamik des
Vereinigungsprozesses an den Rand gedrängt wurde, sondern:
Wie sollte von mehr Gerechtigkeit gegenüber den fernen Entwicklungsländern
die Rede sein, wenn schon gegenüber einem Teil der eigenen
Nation, der in eine schwere Existenzkrise geraten war, so scharf
kalkuliert wurde? Die DDR galt bekanntlich nicht als Entwicklungsland,
aber gerade im Vereinigungsprozeß befiel manchen von uns
die Befürchtung, sie könnte es jetzt werden, und zwar
nicht allein infolge der Mißwirtschaft der SED!
Der Staatsvertrag bestimmte paradoxerweise, daß den "volkseigenen"
Betrieben im Zusammenhang mit der Währungsumstellung die
Schulden, die sie bei der Staatsbank hatten, nicht erlassen werden.
Wußte man nicht, daß es sich um staatlich geleitete
Betriebe handelte, die Kredite auf staatliche Anweisung hin aufgenommen
worden waren? Es waren im Grunde Schulden, die der Staat gemacht
hatte! Wenn man sie den Betrieben anrechnete, dann mußte
man ihnen andererseits auch die Gewinne anrechnen, die sie Jahr
für Jahr an den Staat hatten abführen müssen.
Außerdem: Wie vertrug sich diese Belastung der Betriebe
mit der erklärten Absicht der Bundesregierung, den industriellen
Aufschwung im Osten fördern zu wollen? Behielten die Betriebe
die Schulden, dann war der Neubeginn nicht nur psychologisch
erschwert, dann mußten sie der Deutschen Bank auch hohe
Zinsen zahlen und bekamen vielleicht nicht die Kredite, die sie
zur Modernisierung so notwendig brauchten. War hier nun die wirtschaftsliberale
Strategie der "schöpferischen Zerstörung"
am Werke oder das Interesse, westlichen Unternehmern möglichst
viel an Konkursmasse zum Kauf anbieten zu können? - Letztlich
waren die Schulden allerdings Schulden bei der Bevölkerung
der DDR, den Sparern. Daher der Einwand, für die Sparkonten
der Bürger müßten die Betriebe schon auf diese
Weise einstehen. Wer sollte es denn sonst tun? Hieß Entschuldung
der Betriebe nicht Enteignung der Sparer? - Dieser Einwand hat
mir zunächst zu denken gegeben; aber nur, weil ich davon
ausging, daß der Staat DDR ja bald nicht mehr bestehen
würde. Noch bestand er aber, konnte er also auch Schulden
haben! Warum sollte denn die DDR ohne Schulden in die deutsche
Einheit eintreten, wenn die Bundesrepublik es doch mit einer
enorm hohen Verschuldung tat? Vielleicht weil der Staat DDR eben
gar nicht in die Einheit "eintrat", sondern sich in
nichts auflöste?
Aber war das nicht dennoch ungerecht? - Dagegen ließ sich
nun wieder einwenden, daß der Staat als solcher ja nicht
produziere; es komme daher darauf an, wer Schulden habe, ein
Staat mit einer schwachen oder ein Staat mit einer starken Wirtschaftsbasis.
Nur drehte man sich mit dieser Argumentation im Kreise: Weil
unser Staat eine schwache Wirtschaft zur Grundlage hat, darf
er keine Schulden haben. Auf wen sollen die Schulden aber abgewälzt
werden? Auf eben diese schwache Wirtschaft, damit sie noch schwächer
werde. Nach dem biblischen Motto: Wer wenig hat, dem wird auch
noch genommen, was er hat.
Nach der Abstimmung über den Staatsvertrag beruhigte mich
ein Interview, das Bundesbank-Vizepräsident Schlesinger
gegeben hatte. Darin hieß es, die Schulden der DDR-Unternehmen
betrügen nur 120 Milliarden DM, und das sei nicht viel mehr
als die jährliche Neuverschuldung der Unternehmen in der
Bundesrepublik. Die Schuldenlast und die rückständige
Kapitalausstattung unserer Unternehmen brauche nicht zu pessimistischen
Prognosen zu führen, denn in Spanien und Portugal sei die
Kapitalausstattung nicht besser, dennoch entwickle sich die dortige
Wirtschaft sehr gut. (Süddeutsche Zeitung, 23./24.
6. 1990) Beruhigt hat mich hieran, daß der von der Bundesregierung
eingerichtete "Fond Deutsche Einheit" (115 Milliarden
DM) fast die Höhe der industriellen Verschuldung der DDR
erreichte.
Die Bundesrepublik übernahm demnach zwar nicht diese Schulden,
verschuldete sich selber aber in gleichem Maße um der Einheit
willen. Oder böse gesagt: Die Summe, die sie "großzügig"
zur Förderung der DDR-Wirtschaft einsetzte, hatte sie ihr
zuvor schon als Schuld aufgeladen! Gut gerechnet!
Eine weitere Frage, die der Staatsvertrag nicht beantwortete,
sondern aufwarf, hieß: Was sollte mit den Erlösen
aus der Privatisierung des von der Treuhandanstalt verwalteten
riesigen Volksvermögens geschehen? Art. 10 (6) sah vor,
daß "nach seiner vorrangigen Nutzung für die
Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des
Staatshaushalts ... den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt
für den bei der Umstellung 2 zu 1 reduzierten Betrag ein
verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt
werden kann." Das war von dem lange diskutierten Gedanken
übriggeblieben, mit dem sogenannten "Volkseigentum"
endlich einmal ernstzumachen und es über Anteilscheine unter
den Bürgern aufzuteilen. Dieser Gedanke hat mir zwar nie
sonderlich eingeleuchtet, aber das Faszinierende an ihm war das
Gerechtigkeitspathos, das er in sich trug, der radikale Bruch
mit dem angemaßten Staatseigentum und die Hoffnung, bei
wirklichem, verantwortlichem Eigentum aller (bzw. vieler) werde
es zu einem ungeahnten Aufschwung der wirtschaftlichen Initiative
kommen. - Aber wer würde denn in der Lage sein, solche Volksaktien
zu kaufen? Doch nicht die große Masse der DDR-Bürger!
Und waren die, die in der DDR reich geworden waren, dies immer
auf redliche Weise geworden? Sollten die Schichtendifferenzen,
die sich hier herausgebildet hatten, denn noch bestätigt
werden? Wenn die Anteilscheine aber verschenkt würden, nach
welchem Schlüssel sollte das geschehen? Und was würden
die Bürger denn zu kaufen bekommen? Doch zu einem großen
Teil heruntergewirtschaftete, nicht konkurrenzfähige Betriebe!
Würden sie das Risiko, in ein unsicheres Unternehmen zu
investieren, überhaupt auf sich nehmen wollen? Als Arbeitnehmer
würden die einen sich an einem prosperierenden Unternehmen
beteiligen können, die anderen müßten sich an
einem gefährdeten beteiligen, so daß von Gerechtigkeit
keine Rede sein konnte. Ging man aber nicht vom Arbeitsplatz
aus, sollte also jeder sich beteiligen können, wo er wollte,
wo blieb dann der positive Effekt für die wirtschaftliche
Initiative, das Engagement für das eigene Unternehmen? Die
Schwächen der Idee der Anteilscheine waren die der direkten
Demokratie auf die Wirtschaft angewandt: Sie läßt
sich auch hier nicht generell, sondern nur als Korrektiv verwirklichen.
Aber der Staatsvertrag meinte es mit dieser Idee ohnehin nicht
sonderlich ernst. In den Artikeln 26 (4) und 27 (3), die ebenfalls
die Verwendung des Volksvermögens behandelten, war sie gar
nicht mehr in Betracht gezogen. Außerdem gab es zwischen
diesen Artikeln einen schwerwiegenden Widerspruch! Der eine besagte,
die Erlöse aus der Privatisierung sollten vorrangig für
die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung
des Staatshaushalts genutzt werden (wobei das "und"
schon sehr viel offenließ!); der andere jedoch ging davon
aus, daß jene Erlöse gar nicht ausreichen würden,
um den Staatshaushalt zu sanieren, so daß für Zwecke
der Strukturanpassung gar nichts mehr übrigbleiben würde.
Wieder blieb unsere Wirtschaft also auf der Strecke: Sie bekam
nicht nur die Schulden aufgehalst, die sie selber auf Anweisung
des alten Staates hatte machen müssen, sondern nun auch
noch die, die der Staat ganz unabhängig von ihr gemacht
hatte.
Unsere Wirtschaft wurde durch den Vertrag noch ein drittes Mal
geschwächt. Wenn auch viele unserer Produktionsanlagen nicht
mehr viel wert waren, so hatten wir doch immerhin reichlich Grund
und Boden in günstiger Lage. Das war neben unseren qualifizierten
Arbeitskräften beinahe der einzige Schatz, der uns geblieben
war. Da die Marktwirtschaft zwar den Handel mit Grund und Boden
einschließt, dieser aber mehr als jedes andere Gut soziale
und ökologische Verantwortung erheischt - und zudem die
Bodenpreise in der DDR ja lächerlich niedrig waren - galt
es, diesen Schatz zu hüten und vor Spekulation zu schützen.
Dazu hatten die beteiligten Fraktionen schon in der Koalitionsvereinbarung
festgelegt: "Spekulation mit Grund und Boden ist durch Bau-
und Bodenrecht zu verhindern ... Die Vorteile des in der BRD
gültigen Erbbaurechts einschließlich der sich daraus
ergebenden Pacht- und Nutzungsrechte sind in der Übergangsphase
bevorzugt einzusetzen. In einer Übergangszeit von 10 Jahren
kann natürlichen und juristischen Personen, die an einem
bestimmten Stichtag nicht ihren Sitz in der DDR haben, grundsätzlich
nur ein Erbpachtrecht mit Vorkaufsrecht nach Ende der Übergangszeit
zu den dann marktüblichen Preisen eingeräumt werden.
Vor Begründung von Erbpachtrecht besteht eine zeitlich begrenzte
Anbietungspflicht an natürliche und juristische Personen
aus der DDR. Derartige Geschäfte unterliegen dem Genehmigungsvorbehalt
der zuständigen Behörden."
Dagegen wurde in den Verhandlungen von seiten der Bundesregierung
immer wieder eingewandt, ohne die Möglichkeit des unbeschränkten
Erwerbs von Grund und Boden seien die Chancen, daß bei
uns investiert würde und die dafür notwendigen Kredite
bereitgestellt würden, gering. Wir brauchten aber nichts
dringender als Investitionen, und in der Tat war das erwartete
große Engagement westlicher Unternehmen in der DDR ja bisher
ausgeblieben. So mußten wir uns beugen und Anlage IX des
Staatsvertrages akzeptieren, die den Eigentumserwerb privater
Investoren an Grund und Boden mit nur einer Einschränkung
freigab: Der zunächst vereinbarte Grundstückspreis
könne nach einer Übergangsfrist überprüft
und nachträglich an die inzwischen gestiegenen Preise angeglichen
werden. Dabei müsse jedoch "die Übergangszeit
kurz und die Kalkulierbarkeit der Belastung für den Erwerber
gewährleistet sein." (Anl. IX, Ziffer 4) Der Wirtschaftsausschuß
und der Ausschuß "Deutsche Einheit" der Volkskammer
konnten nur weiteren Klärungsbedarf anmelden, noch einmal
an das in der Bundesrepublik gültige Erbbaurecht erinnern
und die Regierungen auffordern, in Erläuterungen zum Vertrag
doch noch "gesetzliche Regelungen zur Verhinderung von Spekulationen
mit Grund und Boden" zuzulassen, "die über den
in Ziffer 4 der Anlage IX enthaltenen Hinweis auf die Möglichkeit
rechtsstaatlicher Vereinbarungen hinausgehen." (Stellungnahme
des Wirtschaftsausschusses vom 8. 6. 90) Dem sind die Regierungen
jedoch nicht gefolgt.
Frieden
Dem Außenstehenden
wird es ganz unbegreiflich sein, daß ich dem Vertrag trotz
der beschriebenen schweren Mängel zugestimmt habe. Es ist
dies ein Musterbeispiel für den Charakter, den unsere Entscheidungen
in der Volkskammer hatten und den politische Entscheidungen vielleicht
überhaupt haben. Ich kann mich freilich nicht nur damit
rechtfertigen, daß Kompromißbereitschaft eine demokratische
Tugend ist. Gewiß hatten wir in den Verhandlungen auch
manches erreicht, und gewiß ist es politisch falsch, um
hehrer Prinzipien willen das Erreichte wieder zu gefährden.
Es war zu diesem Zeitpunkt außerdem klar, daß es
wegen der zahlreichen ungelösten bzw. noch gar nicht erörterten
Probleme der Vereinigung weitere Verhandlungen und einen zweiten
Staatsvertrag geben müsse. Es ging also ohnehin nur um eine
vorläufige Entscheidung. Schon von anderen ist viel darüber
gesagt worden, unter welch enormem Zeitdruck wir standen. Die
Ausreisewelle hielt unvermindert an, und auch außenpolitisch
schienen sich gerade im Juni für den Vereinigungsprozeß
noch einmal Hindernisse aufzutürmen. So war es uns gar nicht
möglich, alle Aspekte der Sache, über die wir zu befinden
hatten, wirklich zu überblicken. Letztlich mußten
wir uns oft vom Gefühl leiten lassen. Bei mir führte
das zu einem gewissen Fatalismus: Ich hatte schon seit der Erfahrung
mit dem Demokratischen Aufbruch gelernt, daß die Geschichte
- die ich hier bewußt hypostasiere - ganz schnell etwas
anderes wollte, als ich es mir in Ruhe ausgedacht hatte, und
war nun geneigt, mich darein zu schicken. Mein tiefstes Motiv
für die Zustimmung zum Staatsvertrag war jedoch, daß
ich die deutsche Vereinigung wollte - nicht um jeden Preis,
aber der Preis, der jetzt zu zahlen war, erschien mir schließlich
doch nicht zu hoch.
Mein ganzes bewußtes Leben hatte ich "mit der Teilung
leben" (Müller-Gangloff) müssen. Sicher hatte
ich sie (und die Teilung der Menschheit!) tief verinnerlicht,
mein ganzes Weltbild war durch sie geprägt. Aber seit 1983,
in der letzten Phase des Kalten Krieges, als mir klar wurde,
daß Deutschland tatsächlich in besonderer Weise der
Gefahr des atomaren Untergangs ausgesetzt war, habe ich mich
mit ihr nicht mehr abfinden können. In der Auseinandersetzung
mit deutscher Geschichte und Tradition suchte ich einerseits
im Zusammenhang der Friedensbewegung "Wege aus der Gefahr",
war also von der Sorge um den Fortbestand dieses Landes bewegt,
und kam ich andererseits zu einem bestimmten, sehr fordernden
Begriff von deutscher Identität. Was 1990 geschah, wurde
diesem Begriff keineswegs gerecht, und darunter habe ich gelitten:
Weder kam es zu mehr ökologischer Vernunft, noch zu einer
wirklichen Vermittlung zwischen Ost und West, noch zu einer Partnerschaft
mit der Zweidrittelwelt. Aber war es nicht immerhin die lang
ersehnte und erstaunlich friedliche Verwirklichung der Einheit,
ein Weg aus der drohenden Kriegsgefahr? Sollte die Wirklichkeit
sich nach der Idee richten oder die Idee nach der Wirklichkeit?
Und verschlechterten sich denn die Bedingungen dafür, die
Idee nach der Herstellung der Einheit weiter zu verfolgen und
langfristig umzusetzen? Konnte sie nicht überhaupt nur langfristig
umgesetzt werden?
Wenn ich manchmal abends nach den Volkskammersitzungen in den
Straßen Berlins spazierenging, nun auch in denen von Westberlin,
wenn ich die bröckelnde Mauer und die verlassenen Wachtürme
sah, dann wußte ich zuweilen gar nicht mehr, was wirklich
und was unwirklich war, dann befiel mich ein solches Staunen
und auch ein Gefühl der Dankbarkeit, daß dies wohl
den Ausschlag gegeben hat bei meiner Entscheidung.
Die Kehrseite war die immer wieder aufkeimende Sorge, daß
beim Vereinigungsprozeß außenpolitisch noch etwas
schiefgehen könnte. Aus der Friedensbewegung kommend, arbeitete
ich im außenpolitischen Arbeitskreis der Fraktion mit und
nahm als Parlamentsvertreter an den 2+4-Gesprä chen teil.
Gerade durch den Verlauf dieser Verhandlungen im Juni bekam meine
Sorge neue Nahrung.
Die Sowjetunion war mit der Forderung in die 2+4-Gespräche
gegangen, sie müßten zu einem Friedensvertrag oder
zu einer ähnlich umfassenden Regelung aller die deutsche
Vereinigung betreffenden Fragen führen. Sie wollte alles
Mögliche in die Verhandlungen einbeziehen, was eigentlich
durch die KSZE oder durch bilaterale Verträge des künftigen
souveränen Deutschland hätte geregelt werden müssen.
Sie bauschte das deutsche Problem sozusagen zum Weltproblem auf,
was angesichts der zwei Weltkriege allerdings eine gewisse Berechtigung
hatte. Dennoch war es ein sonderbarer Eindruck, die Vertreter
der Sowjetunion mehr philosophieren als zielstrebig verhandeln
zu sehen.
Ihnen standen die Vertreter der USA, Englands, Frankreichs und
der Bundesrepublik in geschlossener Front gegenüber. Sie
alle wollten die Gespräche möglichst schnell abschließen
und aus pragmatischen Gründen alle Fragen ausklammern, die
nicht unmittelbar mit der Wiederherstellung der Souveränität
Deutschlands zusammenhingen. Sie wehrten sich gegen jede "Singularisierung"
der deutschen Frage, wie sie es nannten. Auch das war verständlich,
denn wurde die böse Vergangenheit Deutschlands nicht am
besten dadurch bewältigt, daß die Völkergemeinschaft
seine Sonderrolle einfach nicht mehr ernst nahm und es als Land
wie jedes andere behandelte?
Mir erschienen diese gegensätzlichen Haltungen zunächst
als treffende Illustration des Gegensatzes zwischen russischem
und angelsächsischem Denken. Aber hinter der Haltung der
Sowjetunion standen natürlich begreifliche Ängste angesichts
der Wiedervereinigung Deutschlands und seiner Einbeziehung ins
westliche Bündnis, zumal die Verhältnisse in der Sowjetunion
selber immer labiler wurden. Ihren Vertretern blieb, wenn sie
nicht in die alte Konfrontation zurückfallen wollten, angesichts
der veränderten Machtlage wohl gar nichts anderes übrig
als eine solche Verzögerungsstrategie. Und dabei mußte
man geradezu Mitleid mit ihnen haben, denn sie vertraten ja nicht
die stalinistische, sondern eine reformierte Sowjetunion. Das
hatten sie nun von ihrer Perestroika! Hinter der Haltung der
westlichen Mächte stand das Wissen um ihre Überlegenheit
und der Wille, sie auszunutzen und Deutschland als Ganzes ins
eigene Bündnis einzugliedern.
Wir, die DDR-Delegation, wollten grundsätzlich auf eine
Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches
Sicherheitssystem hinwirken. Wir sahen aber ein - und das ist
mir zunächst schwergefallen -, daß ein solches System
nicht derart rasch zustandekommen könne wie der Vereinigungsprozeß
ablief. Daher mußte Deutschland, wenn es sicherheitspolitisch
nicht in der Luft hängen sollte, für eine Übergangszeit
Mitglied der NATO werden, allerdings einer veränderten NATO
und mit einem Sonderstatus für das Gebiet der ehemaligen
DDR. So hieß es in der Koalitionsvereinbarung: "Die
NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands ist den osteuropäischen
Staaten nur zumutbar, wenn damit sicher das Aufgeben bisher gültiger
NATO-Strategien, wie Vorneverteidigung, Flexible Response und
nuklearer Ersteinsatz, verbunden ist. Auf dem heutigen Gebiet
der DDR befinden sich für eine Übergangszeit neben
den sowjetischen Streitkräften deutsche Streitkräfte,
deren Aufgabe der Schutz dieses Gebietes ist und die weder der
NATO unterstellt noch Teil der Bundeswehr sind."
Wir wollten, daß die Sowjetunion und ebenso Polen der deutschen
Vereinigung nicht nur gezwungenermaßen, sondern aus Überzeugung
zustimmen könnten, daß ihre Sicherheitsinteressen
wirklich beachtet würden. Und wir befürchteten, daß
sich die Sowjetunion angesichts der sehr weitgehenden Forderungen
der westlichen Mächte stur stellen würde und die Gespräche
sich ergebnislos hinziehen könnten. In der Tat führte
die Verzögerungsstrategie der Sowjetunion wiederholt zu
so langweilig-pedantischen Diskussionen um einzelne Formulierungen,
daß ich mich an bestimmte exegetische Übungen in der
Theologie erinnert fühlte. Die Strategie ging bei den Gesprächen
auf Beamtenebene im Juni soweit, daß Herr Bondarenko, der
Sitzungsleiter, die Zügel einfach schleifen ließ und
einen Text studierte, so daß die hohen Beamten sich wie
eine Schulklasse ohne Lehrer benahmen und jeder machte, was er
wollte. Beim zweiten Treffen der Außenminister am 22. 6.
in Berlin legte die Sowjetunion dann ein Papier vor, das unsere
Befürchtungen bestätigte und unsere Hoffnung, bald
vernünftige außenpolitische Rahmenbedingungen für
die Vereinigung zu bekommen, zunichte machen konnte. Nach diesen
"Grundprinzipien für eine abschließende völkerrechtliche
Regelung mit Deutschland" sollte das Gebiet der ehemaligen
DDR nach der Vereinigung noch fünf Jahre dem Warschauer
Pakt zugehören und die sowjetische Armee so lange hier stationiert
bleiben. Die Bundeswehr sollte nur westlich der Linie KielBremen-Frankfurt-Heilbronn-Stuttgart-Konstanz
stationiert sein und die NVA östlich der Linie Rostock-Leipzig-Gera-Schleiz.
Erst 21 Monate nach der Vereinigung sollte über die Beendigung
der Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte für
Berlin und ganz Deutschland überhaupt verhandelt werden.
- Aus dieser Situation und der geschilderten Grundhaltung der
DDR-Delegation heraus waren bestimmte Äußerungen Markus
Meckels und Rainer Eppelmanns, die in der Presse Verwunderung
hervorriefen, durchaus verständlich. Wenn Markus Meckel
sich zum Beispiel für einen schnelleren Ausbau von KSZE-Strukturen
an Stelle einer bloßen Erweiterung der NATO auf ganz Deutschland
aussprach oder die Ergebnisse des NATO-Gipfeltreffens in London
nicht befriedigend fand, so waren das in dieser Situation durchaus
richtige Signale.
Experten meinten allerdings zu wissen, daß das sowjetische
Grundsatzpapier gar nicht ernst zu nehmen sei, daß es nur
einen Schachzug im Verhandlungsspiel darstellte oder ein vorläufiges
Zugeständnis an die alten Apparatschiks in der Parteiführung,
daß es jedenfalls nicht das letzte Wort der Sowjetunion
sei. Aber wer konnte das angesichts der Meldungen über die
immer schwächer werdende Stellung Gorbatschows und Shewardnadses
denn sicher sagen? Erst der Parteitag der KPdSU Anfang Juli würde
in dieser Frage neue Erkenntnisse bringen.
In der Tat hatte sich das Bild beim nächsten Außenministertreffen
am 17. Juli in Paris völlig gewandelt. Gorbatschow war auf
dem Parteitag als Generalsekretär mit großer Mehrheit
wiedergewählt und Ligatschow als Stellvertreter nicht bestätigt
worden. Die Reformer hatten sich also doch durchgesetzt. Schon
zwei Tage nach dem Ende des Parteitags fanden die Gespräche
zwischen Kohl und Gorbatschow in Schelesnowodsk statt, bei denen
Gorbatschow überraschend Deutschland die volle Souveränität
und seine mögliche NATO-Mitgliedschaft zugestand.
Diese Wendung der Dinge war für mich wieder eine ernüchternde
Erfahrung, wenn auch keine überraschende mehr. Ich hatte
bei unseren außenpolitischen Besprechungen lange schon
das dunkle Gefühl, daß wir nur in der Einbildung politisch
handelten, und die großen verlassenen Räume des Außenministeriums
verstärkten den Eindruck des Geisterhaften. Nun wurde uns
endgültig deutlich gemacht, daß es eine DDR-Außenpolitik
überhaupt nicht mehr gab. Der Bundeskanzler hatte offenbar
beschlossen, die entscheidende "historische Tat" allein
zu vollbringen. So waren wir, als wir in Paris am Konferenztisch
saßen, von der Bundesregierung über das Ergebnis der
Gespräche in Schelesnowodsk noch nicht einmal informiert
worden. Inhaltlich aber war die nun präsentierte Lösung
so trivial, wie ich es nie erwartet hätte. Bis dahin hatte
ich noch gehofft, aus den langen leidvollen Erfahrungen mit dem
Kalten Krieg würde für die Menschheit mehr an politischem
Gewinn herausspringen als das altbekannte Ergebnis, daß
eben einer der Sieger ist und ein anderer der Verlierer. Bestand
die deutsche Einigung also darin, daß wir uns auf die Seite
der Sieger schlugen? Wo blieb unsere Mittlerrolle zwischen West
und Ost? Hatten wir mit unserem Ziel, eine gesamteuropäische
Friedensordnung zumindest anzubahnen, von vornherein auf verlorenem
Posten gestanden? Wir kamen eben aus der Friedensbewegung und
brachten es einfach nicht fertig, Reagans abenteuerliche Politik,
die wir in böser Erinnerung hatten, nun selber mit zu Ende
zu führen.
Bewahrung
der Schöpfung
Zu gleicher
Zeit wurde exemplarisch deutlich, daß wir unsere Identität
nicht nur in innen- und außenpolitischer Hinsicht verfehlen
würden, sondern auch angesichts der ökologischen Herausforderung.
Am 22. Juni wurde die erste Lesung des Ländereinführungsgesetzes
durch einen Antrag von 18 Abgeordneten unterbrochen, der verlangte,
sofort den Minister für Umwelt, Naturschutz, Energie und
Reaktorsicherheit herbeizurufen. Was war geschehen? Wir hatten
aus der Presse erfahren, daß in der folgenden Woche die
gesamte Energieversorgung der DDR an die drei größten
Energieunternehmen der Bundesrepublik verkauft werden sollte.
Dieses Vorhaben verstieß in mehrfacher Hinsicht gegen unsere
gerade errungene demokratische Ordnung. Erstens hatte der Minister
den entsprechenden Volkskammerausschuß nicht ausreichend
informiert und auf eine Anfrage unserer Fraktion, die schon vierzehn
Tage zurücklag, nicht geantwortet. Zweitens hatte er die
Lösung einer Aufgabe, die eigentlich der Treuhandanstalt
oblag, an sich gerissen, indem er die Zeit nutzte, als diese
noch nicht arbeitsfähig war. Drittens aber widersprach der
geplante Vertrag sowohl der Koalitionsvereinbarung als auch dem
schon verabschiedeten Treuhandgesetz, dem gerade diskutierten
Kommunalvermögensgesetz und dem Grundgesetz Art. 28. Laut
Koalitionsvereinbarung war ausdrücklich die "Schaffung
dezentraler Wärme- und Energieversorgungsbetriebe (Stadtwerke)
bei gleichzeitiger Entflechtung der Energiekombinate" vorgesehen,
und laut Treuhandgesetz vom 17. Juni sollte volkseigenes Vermögen,
das kommunalen Aufgaben und Dienstleistungen diente, den Städten
und Gemeinden auch übertragen werden (§1, Abs. 1).
Die Exekutive versuchte also diesmal nicht nur an der Legislative
vorbei, sondern gegen beschlossene Gesetze zu handeln. Politisch
hätte sie mit ihrem Vorhaben die Position der Kommunen geschwächt
und damit die demokratische Selbstverwaltung. Ökonomisch
hätte sie die freie Konkurrenz und damit die Position der
Verbraucher untergraben. Das ökologisch Unverantwortliche
an diesem Vertrag aber war, daß er die Chancen der Dezentralisierung
und Energieeinsparung einfach in den Wind schlug. Alle Fraktionen
außer CDU und DSU haben leidenschaftlich gegen ihn gestritten.
Das war eine der Sternstunden der Volkskammer!
Minister Steinberg wurde also herbeigerufen. Es sei daran erinnert,
daß dieser Mann informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit
war, was sich allerdings erst in der vorletzten Sitzung der Volkskammer
herausstellte. Nachträglich drängt sich die Frage auf,
ob er sich vielleicht deshalb den neuen Mächtigen gegenüber
so gefügig zeigte. Sein Hauptargument für den Vertrag
war, nur die großen Stromkonzerne seien in der Lage, die
für die DDR-Energiewirtschaft notwendigen Investitionen
zu tätigen und die Arbeitsplätze in diesem Bereich
zu erhalten. Aber es lag eine Fülle von Angeboten kleinerer
Unternehmen aus der Bundesrepublik vor! Die Auskünfte des
Ministers waren so unbefriedigend, daß das Parlament den
Vertragsabschluß fürs erste untersagte und zugleich
die anderen Ministerien an ihre Berichtspflicht in bezug auf
eventuelle ähnliche Verhandlungen erinnerte.
Eine Woche später wurde eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung
der Vorgänge auf dem Energiesektor gebildet. Sie brachte
noch eine weitere Ungeheuerlichkeit ans Tageslicht: Staatssekretär
Pautz vom Energieministerium hatte in einem Gespräch mit
Vertretern unserer Fraktion gedroht, nach dem 1. Juli werde es
zu Flächenabschaltungen in der DDR kommen, wenn wir dem
Vertrag nicht zustimmten. Die gleichen Drohungen hatte der Chemnitzer
Oberbürgermeister vom Direktor des dortigen Energiekombinats
zu hören bekommen. Die Liberalen stellten nun den Antrag,
"die Treuhandanstalt sofort anzuweisen, mit allen interessierten
Elektrizitätsunternehmen der Bundesrepublik Deutschland
in Verhandlungen einzutreten, um für die Umstrukturierung
der Stromwirtschaft der DDR eine wettbewerblich verträglichere
Lösung zu erreichen". Der Wirtschaftsausschuß
nahm diesen Antrag in seine Beschlußempfehlung auf, forderte
darüber hinaus die Einsetzung einer EnqueteKommission zu
den Problemen eines neuen Energiekonzepts und legte noch einmal
folgende Leitlinien fest:
I. Sicherstellung einer vielfältigen, gemischten Struktur
von Energieversorgungsunternehmen - bestehend aus Verbundwirtschaft,
Regionalwirtschaft und Kommunalwirtschaft - bei der Energieerzeugung
und -verteilung im Sinne einer Verhinderung von wettbewerbs-
und damit verbraucherfeindlicher Monopolisierung bzw. Oligarchisierung
der Energiewirtschaft in der DDR. Den Auflagen des Amtes für
Wettbewerbsschutz ist bindend nachzukommen.
II. Die Rechte und Interessen der Länder und Kommunen müssen
im Sinne des §1 des Treuhandgesetzes sowie insbesondere
des §5 des Kommunalvermögensgesetzes respektiert werden.
Die Treuhandanstalt beginnt daher umgehend mit der Neuorganisierung
der Energiewirtschaft in der DDR in voller Berücksichtigung
der Interessen von Ländern und Kommunen.
Das alles wurde von der Volkskammer am 22. Juli mit großer
Mehrheit beschlossen. Nach der Sommerpause jedoch, am 22. August,
wurde der Stromvertrag zwischen der DDR, vertreten durch das
Energieministerium und die Treuhand, und den drei großen
Konzernen der Bundesrepublik unterzeichnet. Zwar wurden die drei
Großunternehmen jetzt "nur" zu 75% am Grundkapital
der DDR-Energieversorgung beteiligt und der Rest auf andere Unternehmen
verteilt, aber die Grundintention der Volkskammerbeschlüsse
war unterlaufen worden. Zugleich wurde eine Durchführungsverordnung
zum Kommunalvermögensgesetz erlassen, die das Gesetz wieder
einschränkte und so dem Vertrag den Weg ebnete. Wären
wir nur nicht in den Urlaub gegangen! Aber wahrscheinlich ist
eine Exekutive, unterstützt von mächtigen Interessengruppen,
einer Legislative auch dann überlegen, wenn diese pausenlos
arbeitet.
Am 6. September machte unsere Fraktion mit Bündnis 90 gemeinsam
noch einen letzten verzweifelten Versuch, die Zustimmung der
Volkskammer zum Vertrag zu verhindern. Wir verwiesen auf 150
Städte in der DDR, die bereit waren, die Energieversorgung
selbst in die Hand zu nehmen. Aber die Liberalen waren inzwischen
"umgefallen", und so passierte der Vertrag auch das
Parlament. Die große Chance der Umorientierung auf eine
moderne, ökologisch verträgliche Energiewirtschaft
war vergeben.
Es tut mir leid,
den Leser mit immer neuen Klagen belästigen zu müssen.
Die letzte Klage, die ich führen muß, betrifft den
Einigungsvertrag. Unsere Fraktion hatte frühzeitig
auf die Notwendigkeit eines zweiten Staatsvertrages hingewiesen.
Schon zur Zeit der Verabschiedung des ersten Staatsvertrages
waren unsere Arbeitskreise damit beschäftigt, die entscheidenden
Punkte eines zweiten zu fixieren. Hier wurde eben gearbeitet,
und der sehr lebendige und von Hingabe an die Sache geprägte
Diskurs in der Fraktion war in dieser sonst so ambivalenten Volkskammerzeit
etwas, was nun wirklich Spaß gemacht hat. Ich habe in diesen
Sitzungen nicht nur inhaltlich manches gelernt; ich habe mich
oft auch einfach an der Ausdrucksfähigkeit der Kollegen
und am Fortschritt der Diskussion erfreut und so erst richtig
begriffen, welch große Bedeutung in der Tat der "Interaktion"
neben der "Arbeit" zukommt.
Beim Einigungsvertrag hatten wir mehr Gelegenheit als beim zum
ersten Staatsvertrag, unsere Vorstellungen in die Verhandlungen
einzubringen. Auch das Parlament als Ganzes war diesmal stärker
in die Verhandlungen einbezogen. Mehrfach wurden die Ausschüsse
zu Stellungnahmen aufgefordert, die der Ausschuß "Deutsche
Einheit" dann gebündelt der Delegation mit auf den
Weg geben konnte. Schließlich war die Bundesregierung nach
den Landtagswahlen in Niedersachsen, die der SPD die Mehrheit
im Bundesrat brachten, gezwungen, auch sie stärker an der
Erarbeitung des Vertrages zu beteiligen.
Auf diese Weise kamen folgende Ergebnisse zustande:
- die Anerkennung der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone
- eine Regelung der offenen Vermögensfragen bei dringenden
Investitionen nach dem Prinzip "Entschädigung vor Rückgabe"
(inzwischen weithin unterlaufen!)
- in bezug auf den Schwangerschaftsabbruch die vorläufige
Beibehaltung der Fristenlösung in der ehemaligen DDR und
die Anerkennung des Prinzips "Hilfe statt Strafe" bei
einer neuen gesamtdeutschen Gesetzgebung
- die Orientierung auf eine neue Verfassung für Deutschland
- eine Investitionsförderung für unsere Länder,
die höher ausfiel als die bisherige Zonenrandförderung
- die Verwendung des Vermögens der SED und der Blockparteien
zu gemeinnützigen Zwecken
- eine Vorgehensweise bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit,
die das entsprechende Volkskammergesetz "umfassend berücksichtigte"
(Um dies durchzusetzen, hatte es freilich zusätzlicher Anstrengungen
der engagierten Bürger bedurft: der Besetzung der Stasi-Zentrale
in Berlin.)
Wegen dieser Erfolge haben wir dem Vertrag nach heftigen Debatten
schließlich doch zugestimmt. Aber die Debatten waren nicht
ohne Grund geführt worden. Das Parlament war, obwohl es
Impulse geben und Stellung nehmen durfte, doch wieder mißachtet
worden, und zwar in geradezu demütigender Weise. Damit meine
ich nicht, daß uns der Vertragstext erst am 6. September
vollständig vorlag, weshalb wir die für diesen Tag
vorgesehene erste Lesung vertagen mußten. Ich meine damit
auch nicht einmal, daß die Stellungnahmen der Ausschüsse
nicht hinlänglich ernst genommen wurden. Eine Woche vor
der Entscheidung im Parlament hatte zum Beispiel der Ausschuß
"Deutsche Einheit" noch einmal die Voten der anderen
Ausschüsse ausgewertet und Herrn Krause 13 Punkte genannt,
die im Vertrag noch berücksichtigt werden müßten.
Im Ergebnis war nur ein einziger von ihnen erfüllt! Waren
unsere Anliegen wirklich am Widerstand des Verhandlungspartners
gescheitert oder waren sie gar nicht entschieden genug zur Geltung
gebracht worden? Was ich als demütigend empfand, war etwas,
das an die Grundlagen der Demokratie rührt: Da hatten wir
nun monatelang beraten und Gesetze ausgearbeitet, die das Zusammenwachsen
der beiden deutschen Gesellschaften vernünftig regulieren
sollten, und am Ende stellte sich heraus, daß sie in den
Einigungsvertrag gar nicht oder nur bruchstückhaft aufgenommen
waren. Da ließen die Regierungen uns also Gesetze machen,
die sie in den Vertrag gar nicht einbringen konnten oder wollten,
von denen sie - spätestens gegen Ende der Verhandlungen
hin - genau wußten, daß sie gar keinen Bestand haben
würden! So geschah es mit dem Kommunalvermögensgesetz,
dem Marktorganisationsgesetz für die Landwirtschaft, einem
Privatisierungsgesetz für die Landwirtschaft, dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz
(alle im Juli verabschiedet), einem einstimmigen Beschluß
der Volkskammer hinsichtlich der Übergangszeit für
die Landwirtschaft (im August), dem Rehabilitierungsgesetz, dem
Gesetz über Gruppenbetriebe, dem Rundfunküberleitungsgesetz
(Anfang September) und dem Zivildienstgesetz. (Obwohl letzteres
aus der Zeit vor der ersten frei gewählten Volkskammer stammt,
wurde es auch von ihr getragen.)
In allen diesen Punkten wurde uns also durch den Einigungsvertrag
bescheinigt, daß wir ganz umsonst gearbeitet hatten. Wir
wurden gewissermaßen als "Quasselbude" eingestuft!
Es gibt nur eine Entschuldigung dafür, nämlich die,
daß die Regierungen ebenfalls in diesen Monaten ein außergewöhnliches
Arbeitspensum zu bewältigen hatten, daß sie unter
Zeitdruck standen und unter Zeitdruck die Demokratie eben aus
den Fugen gerät. Aber diese Entschuldigung erweist sich
bald als unecht, wenn man inhaltlich genauer hinschaut.
Aus meiner Feststellung spricht nicht nur die gekränkte
Eitelkeit des Volksvertreters, sondern auch das Wissen um die
konkreten Folgen, die diese Weglassungen für die ostdeutsche
Bevölkerung haben mußten:
Dadurch, daß das Kommunalvermögensgesetzes verkürzt
wurde, verloren die ohnehin finanzschwachen Kommunen die Chance,
durch Erzeugung, Verteilung und Verkauf von Energie eigene Mittel
zu erwirtschaften, blieben ihnen nur Verlustgeschäfte wie
Nahverkehr und Müllabfuhr. (Ich erinnere hier zugleich an
die mangelhafte Finanzausstattung der Länder, die im Einigungsvertrag
begründet ist.)
Mit dem Wegfall des Marktorganisationsgesetzes fiel das Preisstützungs-
und Außenschutzsystem weg, das wir eingerichtet hatten,
um unsere Landwirtschaft nicht abrupt härtesten Marktbedingungen
auszusetzen.
Nach der Streichung des entscheidenden §8 des Privatisierungsgesetzes
vom 22. Juli war es nicht mehr möglich, die Erlöse
der Treuhand aus der Privatisierung volkseigener landwirtschaftlich
genutzter Grundstücke vorrangig für die Sanierung und
Strukturanpassung der Landwirtschaft einzusetzen.
Zugleich gab es infolge der Streichung des §53 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
für unsere kapitalschwachen Landwirte bzw. landwirtschaftlichen
Betriebe keinen Schutz mehr vor kapitalkräftigen Käufern
von Grund und Boden aus den westlichen Bundesländern oder
dem Ausland.
Die Mißachtung des Volkskammer-Beschlusses vom 24.8. bedeutete,
daß unserer Landwirtschaft kein klar definierter Übergangszeitraum
zur Anpassung an den EG-Markt zugestanden wurde, wie es beim
Beitritt anderer Länder zur EG üblich war.
Das Gesetz über Gruppenbetriebe hatte ein bewährtes
französisches Vorbild, es kombinierte Genossenschafts- und
Personenrecht und sollte den Landwirtschaftlichen Produk-tionsgenossenschaften
ermöglichen, sich auf die neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen
einzustellen. Daß es nicht in den Einigungsvertrag aufgenommen
wurde, die Bundesregierung vielmehr auf den kleinen Familienbetrieb
setzte, kann nur wieder auf die Strategie der "schöpferischen
Zerstörung" zurückgeführt werden.
Weil das Rehabilitierungsgesetz nur zum Teil beibehalten wurde,
konnten nun die Bürger nicht mehr rehabilitiert werden,
die durch willkürliche Verwaltungsakte oder willkürliche
Entscheidungen von Betrieben der alten DDR Unrecht erlitten hatten.
Das waren aber gerade die charakteristischen und zahlreichsten
Fälle.
Weshalb das Rundfunküberleitungsgesetz, das auf der Grundlage
von Art. 36 des Einigungsvertrages und in Absprache mit dem Bundesinnenminister
erarbeitet worden war (!), schließlich doch nicht seine
Billigung fand, das wird erst heute, angesichts der Medienpolitik
der konservativ regierten südostdeutschen Länder, verständlich.
Schließlich hob der Einigungsvertrag eines der schönsten
Ergebnisse der Herbstrevolution, die Gleichstellung von Wehr-
und Zivildienst, wieder auf und führte auch für die
Wehrdienstverweigerer bei uns die eigenartige Gewissensprüfung
der alten Bundesrepublik ein.
Ich hatte mir
als Pfarrer immer gewünscht, in der Gemeinde einmal mehr
Taufen und Trauungen zu haben als Beerdigungen. Nun sah es 1989
so aus, als würde da eine ganz große Taufe stattfinden
und eine Hochzeit noch dazu. Im Jahr darauf jedoch gewann ich
den Eindruck, daß es doch nur wieder eine Beerdigung war.
Exemplarische
Aufarbeitung der Vergangenheit
Sie begann für
uns, die Mitglieder der SPD-Fraktion, schon Ende März, vor
der ersten Tagung der Volkskammer, aufgrund der Enthüllungen
des Spiegel über Ibrahim Böhme. Ich war ja damals
immer noch neu in der SPD, jedenfalls in ihren oberen Etagen,
hatte vom Machtgerangel nur erzählen hören. Umso erschrockener
war ich, als ich gerade am Tag, als Böhmes Verschwinden
gemeldet wurde, Richard Schröder fröhlich pfeifend
durch die Räume des Hauses der Parlamentarier spazieren
sah.
Ich kannte Ibrahim Böhme seit vielen Jahren und konnte nicht
glauben, daß er für die Stasi gearbeitet hatte. Gewiß
gab es irritierende Züge an ihm: seine allzu ausgeprägte
Höflichkeit; sein verborgenes, mir eigentlich unbekanntes
Privatleben (Hatte er überhaupt eines?); das Nomadische
seiner Existenz (Er hatte als Waisenkind nie ein zu Hause erlebt);
das Seiltänzerische seiner politschen Redeauftritte in der
letzten Zeit. - Dennoch hatte ich in ihm immer einen der unseren
gesehen, und zwar einen der liebenswürdigsten, weil er ein
Leidender war und kein Macher. Das hat ihm sicher auch die Sympathien
der Leute eingetragen und ihn zum Spitzenmann der jungen Partei
werden lassen.
Böhme ist in meinen Augen zuerst Opfer gewesen, auch wenn
er sich in jungen Jahren hat zum Werkzeug machen lassen. Die
Täter sind andere Charaktere. Sein Fall zeigte besonders
deutlich, wie sehr es darauf angekommen wäre, zunächst
den Führungskräften des MfS den Prozeß zu machen.
Wenn ich diesen Gedanken, den ich ja nicht allein hatte, ansprach,
dann bekam ich folgende Argumente zu hören:
1. Die Stasi sei doch keineswegs nur eine Terrororganisation
gewesen, sie habe ja auch vieles Normale, in anderen Staaten
ebenso Übliche getan wie Wirtschaftsaufsicht, Meinungsforschung,
Spionageabwehr usw. - Darauf ließ sich leicht antworten,
daß man ja nicht alle Abteilungen und Unterabteilungen
der Stasi zur Verantwortung ziehen mußte, sondern nur die,
die gegen Grundrechte verstoßen hatten.
2. Eine solche Masse von Menschen könne und dürfe man
nicht ausgrenzen, sondern müsse sie in die Gesellschaft
integrieren, nach der Losung des Herbstes: "Stasi in die
Volkswirtschaft!" - Dagegen war zunächst, sofern der
Akzent auf die Masse der Stasi-Mitarbeiter lag, nur ergänzend
zu dem ersten Argument zu sagen, daß die hierarchische
Gliederung der Organisation es doch erlaubte, die richtigen Leute
zu fassen. Sofern der Akzent aber auf dem Integrieren
lag, wäre einmal zu sagen: Integration darf nicht heißen,
daß der Stasi-Offizier eine Spitzenposition in der Wirtschaft
bezieht, während der, der unter ihm leiden mußte,
womöglich arbeitslos wird; und zum anderen: In einem modernen
Strafrecht hat jede Ausgrenzung letztlich das Ziel der Reintegration.
3. Eine großangelegte Aktion gegen die Stasi würde
den ohnehin gefährdeten Frieden im Land möglicherweise
zerstören. Stasi-Leute könnten zu Verzweiflungsaktionen
mit unverantwortbaren Folgen provoziert werden. - Aber meines
Erachtens gab es nach den Aktivitäten der Bürgerkomitees
und der öffentlichen Bekundung des Mehrheitswillens der
Bevölkerung diese Gefahr gar nicht mehr. Der innere Frieden
wurde viel mehr dadurch gefährdet, daß man diese Aufarbeitung
der Vergangenheit unterließ und damit nicht nur die alte
dumpfe Gleichgültigkeit wieder aufkommen ließ ("Es
hat ja doch alles keinen Sinn"), sondern einen düsteren
Zynismus erzeugte ("Wer von Moral und Recht am wenigsten
hält, kommt am weitesten")
4. Das gewichtigste und ehrwürdigste Argument war: Unser
heute gültiges Recht darf nicht rückwirkend auf die
Zeit angewandt werden, in der noch das alte DDR-Recht galt, und
diesem gemäß war das MfS nicht illegal (nulla poena
sine lege).
Zunächst ist da von Veränderungen des Rechts
keine Rede, nur von zwei festen Rechtsordnungen, die miteinander
nichts zu tun haben: Wenn die neue herrscht, herrscht die alte
nicht mehr, und als die alte herrschte, herrschte die neue noch
nicht. Aber befinden wir uns nicht gerade in einer Phase des
Übergangs von der einen zur anderen Rechtsordnung? Wer die
StasiLeute nicht zur Verantwortung ziehen will, der bestreitet
also, daß es sich um eine Revolution handelt, ja er rechnet
offenbar überhaupt nicht mit Wandel, Entwicklung, Fortschritt
des Rechts, sondern lebt nur in der jeweiligen Gegenwart und
hält sie für ewig. In der Tat ist das die Auffassung
der Konservativen. Sie haben die Revolution nicht gewollt und
sind nun daran interessiert, sie baldmöglichst zu beenden.
Ihr Argument erinnert an die Beweise des Zeno von Elea, daß
es Bewegung gar nicht geben könne: Im Grunde ruht der fliegende
Pfeil, weil er sich in jedem Augenblick an einem bestimmten Ort
befindet.
Sodann wird da von zwei gegebenen Rechtsordnungen ausgegangen
statt von einem natürlichen Recht für alle.
Wie ist aber die Revolution, der Übergang von der alten
zur neuen Rechtsordnung, überhaupt zustande gekommen? Doch
offenbar aufgrund des verbreiteten Bewußtseins, daß
die alte ungerecht war und die neue gerechter sein würde.
Die beiden Ordnungen wurden also an einem dritten gemeinsamen
Maßstab gemessen, den die Stasi-Leute auch sehr wohl kannten:
dem Menschenrecht. Selbstverständlich war die Opposition
mit ihren Untergrundzeitungen, Demonstrationen, Parteigründungen
auch eine permanente Verletzung des positiven Rechts der DDR.
Wenn die Stasi legal war, dann war die Opposition natürlich
illegal. Das bedeutet aber: Wer die Stasi heute nicht zur Rechenschaft
ziehen will, der hätte aus demselben Grund (eben vom positiven
Recht her) früher die Opposition zur Rechenschaft ziehen
müssen. In der Tat sind die Leute, die dies früher
getan oder befürwortet oder zumindest zugelassen haben,
heute diejenigen, die den Eifer in bezug auf die Stasi-Vergangenheit
gar nicht verstehen. Es ist der alte deutsche Rechtspositivismus,
der hier wieder Blüten treibt. Konsequenterweise müßte
er heute auch die Nürnberger Prozesse noch ein mal anfechten.
Schließlich: Die Stasi-Kräfte waren überhaupt
nicht individuelle Rechtsverletzer, denen man ihre mangelnde
Kenntnis künftiger besserer Gesetze zugutehalten muß.
Es versteht sich von selbst, daß man sie unter dieser Voraussetzung
nicht belangen kann, denn sie waren kollektive Vertreter des
damaligen Rechts. (Umgekehrt waren auch die Oppositionellen nicht
individuelle Rechtsverletzer, denen man ihre Hoffnung auf künftige
bessere Gesetze zugutehalten konnte, sondern kollektive Vertreter
eines gerechteren Rechts.) Wenn die Stasi-Leute nur nach den
Gesetzen der alten DDR belangt werden können, dann kann
man auch die Mitglieder einer Räuberbande nur belangen,
sofern sie sich nicht an ihre eigenen Gesetze gehalten haben.
Sie müssen aber zur Verantwortung gezogen werden, gerade
weil sie sich an diese Gesetze gehalten haben. Das MfS
sicherte das positive Recht der DDR gegen das Menschenrecht;
es verdankte seine Existenz und sein ständiges Wachstum
genau dem Widerspruch, in dem sich dieses positive Recht zu den
Menschenrechten befand.
Diese Fragen wurden zwar im Frühjahr 1990 mehr oder weniger
gründlich diskutiert, es gab aber keine Chance, dem rigorosen
Standpunkt Geltung zu verschaffen. Ich muß gestehen, daß
ich selber ihn in der Fraktion nicht entschieden vertreten habe;
einmal aus dem Gefühl heraus, ja in der SPD noch ein Neuling
zu sein und mich nicht vordrängen zu wollen; zum anderen
und vor allem aber deshalb, weil ich seit der Enttäuschung
über den DA und die Wahlen und die Große Koalition
ziemlich orientierungslos und resigniert war. Meine Hoffnung,
politisch noch etwas gestalten zu können, war gering. Letztlich
war es nicht meine Politik, die da gemacht wurde. Ich wunderte
mich, mit welchem Eifer manche meiner Fraktionskollegen ans Werk
gingen: War es der billige Spaß an der Macht, der sie motivierte?
Merkten sie gar nicht, daß sie im Grunde nur noch Getriebene
waren? Oder waren sie robuster und realitätsnäher als
ich?
Immerhin erklärte sich noch vor der ersten Volkskammertagung
unsere Fraktion bereit, alle Mitglieder auf eventuelle frühere
Stasi-Mitarbeit überprüfen zu lassen. Nachdem die anderen
Fraktionen eine ebensolche Erklärung abgegeben hatten, wurde
in der ersten Plenartagung die Bildung eines "Zeitweiligen
Prüfungsauschusses" beschlossen, dessen Aufgaben und
Zusammensetzung in der zweiten Tagung festgelegt wurden. Er sollte
die Unterlagen des MfS/AfNS über diejenigen Abgeordneten
prüfen, bei denen nach Einsicht in die Kartei der Verdacht
auf eine Mitarbeit entstanden war, und bei Bestätigung des
Verdachts den betreffenden Abgeordneten den Rücktritt empfehlen.
In diesen ersten Sitzungen war aber zugleich die breite Phalanx
der ehemals Angepaßten so recht anschaulich geworden. Ich
erinnere mich noch lebhaft an das Unbehagen, das die Vorstellung
der Regierungsmannschaft bei mir hervorrief: Ein Ministerpräsident,
der noch 1987 als stellvertretender Präses der Bundessynode
die Verteilung des Papiers "Gegen Praxis und Prinzip der
Abgrenzung" an die Synodalen untersagte, weil es staatsfeindlichen
Charakter trüge. Der Minister Reichenbach, der den
"Weimarer Brief" der CDU-Reformer als "Pamphlet"
bezeichnet und noch Ende September 1989 in der Presse geäußert
hatte, CDU und SED hätten "von jeher das Gemeinsame
gesucht und ausgeübt"! Auf seine frühere Haltung
angesprochen, antwortete er: Wenn ihn diese Schuld daran hindern
sollte, Minister zu werden, dann müßten die ehemaligen
Stasi-Mitglieder sich heute "alle aufhängen"!
Ein Innenminister, der 1980 eine außerordentliche
Aspirantur an der Sektion Rechtswissenschaften der Universität
Leipzig erhalten und in seiner Dissertation noch vor fünf
Jahren geschrieben hatte, die AgrarIndustrie-Vereinigungen hätten
"grundlegende Bedeutung für den allmählichen Übergang
zum Kommunismus"! Ein Justizminister, der schon unter
Ulbricht dieses Amt bekleidete (1968-72) und die neue Strafgesetzgebung
von 1968 mit zu verantworten hatte! Danach Professor an der Humboldt-Universität,
sprach er noch 1988 überzeugt von der "Festigung und
Weiterentwicklung der zum Sieg geführten sozialistischen
Produktionsverhältnissse - unter tatkräftiger Mitwirkung
unserer Partei" (der LDPD) und wies die Kritiker entschieden
zurück, "die aus ihrem dünnen Glashaus Steine
werfen in unseren aufblühenden Garten" (die DDR)! Ein
Wirtschaftsminister, der schon seit 1981 im Volkskammerausschuß
für Industrie, Bauwesen und Verkehr mitgewirkt und die Wirtschaftspolitik
der SED mitzuverantworten hatte; der zudem als CDU-Kreisvorsitzender
(in Forst) Lageberichte über die Kirche und die kirchliche
Friedensarbeit an die SED geliefert hatte. Ein Entwicklungsminister,
der noch im September 1989 von der Abteilung Inneres beim Rat
der Stadt Leipzig als Vorbild für konstruktive Zusammenarbeit
gelobt worden war! Er hatte sich noch am 5. Oktober geweigert,
die Thomaskirche den Friedensgruppen zu öffnen, als die
Nikolaikirche die Menschenmassen längst nicht mehr fassen
konnte.
Wenn schon nicht durchweg Leute aus der früheren Opposition
die Regierung bilden konnten, so hätte man doch wenigstens
unbelastete Personen finden müssen! Übrigens wurde
die Vorstellung und Wahl der Regierung so zügig abgewickelt,
daß den Abgeordneten diese Hintergründe gar nicht
wirklich bekannt sein konnten. Grund zur Skepsis war jedenfalls
reichlich vorhanden. Nur demjenigen, der sich mit dem alten System
überhaupt auseinandergesetzt und unter ihm gelitten hatte,
konnte ja an der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit wirklich
gelegen sein - aber wieviele waren das schon? Die Masse derer,
die sich gefügt und mitgemacht hatten, konnte daran kein
ernsthaftes Interesse haben, höchstens das verlogene, an
ihrer Statt ein paar Köpfe rollen zu sehen.
So kam denn der "Zeitweilige Prüfungsausschuß"
mit seiner Arbeit auch nicht voran, ohne daß festzustellen
war, woran es im einzelnen lag. Dankward Brinksmeier, der Vorsitzende
des Ausschusses, kam aus der SPD-Fraktion und wurde wiederholt
von uns hart angefragt: Fehlt eine klare Konzeption? Ist der
Arbeitsstil mangelhaft? Liegt es am schlechten persönlichen
Verhältnis zum Innenminister? Wir forderten mehrfach Zwischenberichte
von ihm. Brinksmeier konnte zunächst immer nur darauf verweisen,
daß bestimmte Fraktionen die Protokolle der Erstüberprüfung
ihrer Mitglieder dem Ausschuß noch gar nicht übergeben
hatten. Noch am 6. Juni, als die Einsichtnahme in die Akten beginnen
sollte, fehlten solche Protokolle. Dann warf er dem Innenminister
vor, die Arbeit des Ausschusses direkt zu behindern. In der Tat
hatte Diestel am 10. Juli die Anordnung erlassen, daß aus
Datenschutzgründen keine Einsichtnahme in MfS-Akten und
keine Herausgabe solcher Akten erfolgen dürfe. Zwar wurde
Ende August der Ausschußvorsitzende neu gewählt, aber
zur gleichen Zeit wurden die (auch in der Presse lautwerdenden)
Bedenken gegen Innenminister Diestel so stark, daß am 13.
September in der Volkskammer seine Entlassung gefordert wurde.
Und was die Behinderung der Ausschußarbeit durch bestimmte
Fraktionen betrifft, so ergab der Schlußbericht, daß
die relativ meisten einer früheren Stasi-Mitarbeit verdächtigen
Abgeordneten der FDP und der CDU angehörten, wobei 9 Mitglieder
der CDU-Fraktion sich noch nicht einmal zur Überprüfung
bereit erklärt hatten.
Diese vorletzte (eigentlich letzte) Sitzung der Volkskammer am
28. September, in welcher der Bericht endlich gegeben wurde,
wird sich den Fernsehzuschauern gewiß eingeprägt haben.
Nicht nur der "Zeitweilige Prüfungsausschuß"
hatte so viel Zeit gebraucht, um zu seinem - immer noch lückenhaften
- Ergebnis zu kommen, sondern 56 Abgeordnete, die um ihre unklare
Vergangenheit ja wußten und vom Vertrauensmann ihrer Fraktion
auch darauf angesprochen wurden, hatten die Unverfrorenheit besessen,
bis zum Schluß an ihrem Mandat festzuhalten. Der Sinn der
Überprüfung, wenigstens die Volksvertretung von jenem
bösen Erbe zu befreien und das Vertrauen in die neue Demokratie
nicht zu enttäuschen, war also verfehlt.
Damit war der Antrag, die Namen der Stasi-Verdächtigen zu
verlesen, erneut auf der Tagesordnung. (Er war schon in der vorangegangenen
Sitzung vom Bündnis 90 gestellt worden). Und es entspann
sich ein parlamentarisches Schauspiel, ein Ringen im moralischen
Anspruch, wie es in der Geschichte des Parlamentarismus sehr
selten sein dürfte.
Der Prüfungsausschuß, der um eine Stellungnahme gebeten
worden war, erläuterte ausführlich das Für und
Wider einer solchen Namensnennung, betonte, daß nicht er,
sondern nur die Volkskammer selber entscheiden könne, schließlich
aber schlug er vor, dem Antrag nicht zuzustimmen, denn:
Der Ausschuß sei vom Parlament verpflichtet worden, Verschwiegenheit
zu wahren.
Die öffentliche Nennung des Namens bedeute, den Betreffenden
gleichsam an den Pranger zu stellen, mit unkalkulierbaren Folgen
für ihn und seine Familie.
- Umgekehrt könnten diejenigen Abgeordneten, deren Name
nicht genannt werde, meinen, auf diese Weise ihre eigene
Unbescholtenheit bestätigt zu bekommen. Das sei aber eine
Illusion. Die vorliegende Liste stelle im Grunde eine "Zufallsauswahl"
dar. Da das MfS die Akten "in wohlweislicher Konfusität"
übergeben habe, könne niemandem bescheinigt werden,
daß es über ihn keine belastende Akte in den Archiven
gäbe.
Die Erwiderungen ließen nicht auf sich warten. Denn jetzt
ging es nicht mehr nur um die Stasi-Vergangenheit bestimmter
Abgeordneter, sondern um das, was sie daraus gemacht hatten:
Mißbrauch des Vertrauens der Bevölkerung in das erste
frei gewählte Parlament der DDR, Wählerbetrug und zynische
Ausnutzung der bisherigen Verschwiegenheit in dieser Sache. Vermutlich
hatten die Betreffenden darauf gebaut, daß das Verwischen
der Spuren noch vollständiger gelungen sei. Was blieb dem
Parlament angesichts dieses Zynismus anderes übrig als gezielt
die Öffentlichkeit zu suchen?
Öffentlichkeit bedeutet ja nicht nur, Gericht zu halten,
sondern ist auch die einzige Möglichkeit wahrhaftiger Versöhnung.
Marianne Birthler (Bündnis 90) hat es treffend gesagt: "Oder
glaubt hier jemand, daß geflüsterte Namen und unausgesprochener
Verdacht weniger schädlich sind als die offene Auseinandersetzung?
Nur diese Offenheit, mit der die Volkskammer ein wichtiges Zeichen
setzen könnte, macht es möglich, daß sich hierzulande
ein Klima entwickeln kann, in dem auch ehemalige Täter über
ihre Vergangenheit sprechen und damit einen Neuanfang wagen können."
War es aufgrund der Aktenkonfusion, die das MfS hinterlassen
hatte, leider nicht mehr möglich, zwischen Opfern
und Tätern, gut und böse zu unterscheiden, so daß
im Grunde alle verdächtig blieben? Aber dann hätte
der Ausschuß einfach sein Scheitern eingestehen müssen
und gar kein Ergebnis vorlegen können. Oder war es gottseidank
nicht mehr möglich, die Spreu vom Weizen zu sondern, weil
es moralisch verwerflich, nämlich pharisäisch wäre,
das auch nur zu wollen? Es soll sich nur ja keiner einbilden,
er sei ein Gerechter! - so konnte man die Worte des Ausschußvorsitzenden
auch deuten. - Dann war das Bemühen das Ausschusses jedoch
von vornherein verfehlt, wie das ganze Bemühen um Aufarbeitung
der Stasi-Erbschaft, weil Opfer und Täter, gut und böse
grundsätzlich nicht zu unterscheiden sind; weil es sich
dabei um einen fiktiven moralischen Anspruch handelt, der die
Übermacht des Bösen völlig verkennt. - Wenn die
Stellungnahme des Prüfungsausschusses so zu verstehen war,
dann war sie natürlich ein glänzendes Plädoyer
für diejenigen, die am Verdrängen und Verschleiern
des Gewesenen ein dringliches Interesse hatten. Einer der Abgeordneten
warf ein, diese Argumentation erinnere ihn an die Erzählung
von Franz Werfel, die darauf hinausläuft, daß der
Ermordete selbst schuld ist und nicht der Mörder. Mich erinnerte
sie an eine bestimmte, in Deutschland sehr ausgeprägte theologische
Tradition, die von der Sünde immer viel mehr zu singen und
zu sagen weiß als von der Gnade und vom Gesetz.
Nach den Erwiderungen auf das Votum des Prüfungsausschusses
schlug sich das Präsidium der Volkskammer überraschend
auf die Seite der Befürworter einer Namensnennung. Allerdings
erklärte Frau Bergmann-Pohl, sie sehe sich nicht in der
Lage, diese Handlung selber zu vollziehen, denn sie könne
es nicht verantworten, daß womöglich die Familien
der Betreffenden ins Unglück gestürzt würden.
Daraufhin erklärte Dr. Wolfgang Ullmann als Präsidiumsmitglied
seine Bereitschaft, die Namen bekanntzugeben und brachte gleich
einen Briefumschlag mit zum Rednerpult, der die Liste offenbar
enthielt. Aber woher hatte er den Brief? Durfte es nicht nur
eine Liste, allein in der Hand des Ausschusses, geben?
Doch ehe es überhaupt zur Verlesung kam, entspann sich eine
lange Debatte darüber, welche Kategorie der Überprüften
eigentlich öffentlich gemacht werden sollte. Denn da gab
es solche, bei denen sich der Verdacht bestätigt hatte,
aber auch solche, bei denen aus unterschiedlichen Gründen
die Akteneinsicht nicht möglich gewesen war, oder solche,
die noch gar nicht die Bereitschaftserklärung abgegeben
hatten. Man einigte sich schließlich, daß um der
Differenziertheit der Aussage willen alle Kategorien genannt
werden sollten.
Nun war eine Pause angesetzt, die sich aber verdächtig in
die Länge zog. Im Foyer wurde schon gemunkelt, es gebe Versuche,
den Beschluß rückgängig zu machen. Wir schworen
uns, den Saal heute nicht zu verlassen, ehe die Namen genannt
wären. Nach der überlangen Pause teilte der Präsident
plötzlich mit, es sei ein Antrag eingegangen, die Verfassungsmäßigkeit
des Beschlusses durch den Ausschuß für Verfassungsreform
überprüfen zu lassen. Der Antrag war von einem FDP-Abgeordneten
unterzeichnet. Sofort kam der Einwand, daß ein Ausschuß
doch nicht nachträglich einen Parlamentsbeschluß prüfen
könne; das könne höchstens ein Verfassungsgericht,
das wir aber nicht hätten. Trotzdem wurde mit knapper Mehrheit
beschlossen, das Urteil des Ausschusses zu hören. Daraufhin
riß uns, einigen Abgeordneten von Bündnis 90 und SPD,
der Geduldsfaden: Wir setzten uns im Raum vor dem Präsidium
auf den Fußboden und blockierten die Sitzung. Im Protokoll
steht an dieser Stelle: "Große Unruhe", "Unterbrechung
der Sitzung".
Beim erneuten Beginn machte ein Abgeordneter der CDU noch einmal
den Versuch, die Offenlegung zu verhindern: "Wenn diese
Namensliste nur eine haltlose Behauptung enthält
..., dann ist der Schaden menschlich nicht wieder gutzumachen."
Es handle sich um eine Vorverurteilung der Betroffenen und um
eine Art Indizienprozeß. Aber inzwischen hatte der Verfassungsausschuß
beraten und stellte nun fest: "Es handelt sich bei den Untersuchungen
nicht um strafrechtliche Sachverhalte. Zum zweiten gibt es grundsätzlich
kein rechtsstaatliches Prinzip, das den Urheber von gesellschaftlich
zu mißbilligenden Handlungen vor der öffentlichen
Benennung schützt, wenn ein öffentliches Interesse
an der Aufklärung und Benennung besteht. Dies ist in besonders
hohem Maße bei Amtsträgern und Mandatsträgern
gegeben."
Wer nun meinte, der Weg wäre endlich frei gewesen, diejenigen,
die das Vertrauen der Wähler mißbraucht hatten, den
Wählern auch bekanntzugeben, befand sich aber im Irrtum.
Denn jetzt stellte der Vorsitzende der CDU/DA-Fraktion, Dr. Krause,
den Antrag, die Öffentlichkeit bei der Verlesung der Namensliste
auszuschließen. Die Volkskammer stelle "schon genügend
Öffentlichkeit" dar, und "die Betroffenen"
hätten das Recht, in der weiteren Öffentlichkeit sich
selbst zu allererst "mit ihrem Schicksal" darzustellen.
Man vergegenwärtige sich die Voraussetzungen dieses Antrags:
ein sich selbst genügendes, den Bürgern nicht rechenschaftspflichtiges
Parlament, und darin eine große Zahl von einem Schicksal
betroffene, also unfreie Abgeordnete!
Bevor über den Antrag entschieden wurde, begannen jedoch
einige der Überprüften, die noch vorhandene Öffentlichkeit
zu nutzen und sich in persönlichen Erklärungen zu offenbaren
bzw. zu rechtfertigen. Dabei kehrte ein Aspekt immer wieder und
konnte die Gesamtproblematik erhellen. Schon der erste Redner,
Bauminister Viehweger, schnitt das Thema an. Er war Stadtrat
für Energie gewesen und hatte nach seiner Darstellung nur
Situationsanalysen über diesen sensiblen Bereich an die
Stasi liefern müssen. Seine Selbstrechtfertigung gipfelte
in dem Satz: "Als ... ehemaliger Stadtrat von Dresden, der
im Hauptteil seiner Arbeit Briketts verteilt hat, vor allen Dingen
in den Wintern, und organisiert hat, daß es läuft,
gratuliere ich denen, die ihre weiße Weste organisiert
haben." Nehmen wir noch die anderen hinzu, die, ebenfalls
in leitender Stellung, Wirtschaftskriminalität nicht anders
bekämpfen konnten als mit Hilfe der Stasi, dann sollte das
wohl heißen: Ihr in untergeordneten Stellungen hattet es
ja leicht, sauber zu bleiben, aber in einer Leitungsposition
mußte man sich zwangsläufig die Hände schmutzig
machen. - Das stimmt natürlich so nicht, denn es gab sehr
viele Leute in Führungspositionen, die sich nicht mit dem
MfS eingelassen haben, und umgekehrt konnte gerade eine untergeordnete
Stellung der Ansatzpunkt für die Werbung der Stasi sein.
- Oder hieß der Satz vielleicht, daß verantwortungsethisch
eine Zusammenarbeit mit dem MfS gerechtfertigt sein konnte, nur
gesinnungsethisch nicht? Aber ist es nicht ein Widerspruch in
sich, die Unterscheidung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik
zu treffen und sich zugleich an der Unterdrückung anderer
Gesinnungen zu beteiligen, d.h. die Unterscheidung wieder aufzuheben?
- Oder bedeutete die Aussage: Wer mit der Ökonomie befaßt
ist, kann nicht moralisch rein bleiben, und umgekehrt: Der moralische
Standpunkt ist untauglich zur Bewältigung ökonomischer
Probleme? Ich muß gestehen, daß ich darin einen Kern
Wahrheit entdecken kann. Zwar glaube ich nicht, daß man
so eine Zusammenarbeit mit dem MfS rechtfertigen kann. Ich glaube
auch nicht an einen grundsätzlichen Gegensatz von Ökonomie
und Moral. Aber der Satz sagt etwas über die Ursache des
hier behandelten Streits aus, über die Ursache der hohen
Sensibilität der Progressiven in der Stasi-Frage und der
mangelnden Sensibilität der Konservativen. Seit November
1989 überwogen im Verlauf der Umwälzung in der DDR
immer deutlicher die ökonomischen Probleme. Ist es eben
nicht ökonomisch völlig bedeutungslos, ja womöglich
sogar schädlich, wenn mit der moralischen Aufarbeitung
der Vergangenheit soviel Wind gemacht wird? Wurde das nicht schon
in der Nachkriegszeit bald als hinderlich für den wirtschaftlichen
Aufschwung erkannt? Das Leben muß einfach weitergehen,
und dazu braucht man weniger Moral als vielmehr Verstand, Geschick
und Durchsetzungsvermögen. Diese elementare, ziemlich moralfreie
Kontinuität der Geschichte, der ewige Kreislauf der Ökonomie
ist es, woran die Konservativen letztlich glauben, nicht der
moralische Fortschritt und der daher notwenige Bruch mit der
Vergangenheit. Daher nicht nur ihr Desinteresse an der Stasi-Problematik,
sondern auch ihre unbekümmerte Wendehalsigkeit, ihr ungenierter
Opportunismus früher wie heute! Das kann nur den empören,
der der Interaktion den Vorrang vor der Arbeit gibt, die ja bekanntlich
schon im alten System vergötzt worden war.
Ich komme zum traurigen Schluß. Der CDU-Antrag auf Ausschluß
der Öffentlichkeit wurde durchgesetzt. Der spätere
Vorschlag, nun wenigstens die Abgeordneten bekanntzugeben, deren
Stasi-Mitarbeit einwandfrei nachgewiesen war, wurde abgelehnt.
(Natürlich standen die wichtigsten Namen schon am nächsten
Tag in der Zeitung.) Es stellte sich heraus, daß außer
Bauminister Viehweger noch drei weitere Minister zu ihnen gehörten
(Pohl, Steinberg, Preiß). Obwohl ich, wie erwähnt,
ohnehin einen recht zwiespältigen Eindruck von der Regierung
hatte, war ich von dieser Zahl erschüttert. De Maiziere
wurde gefragt, weshalb er, obwohl er bereits seit 15 Tagen über
den Tatbestand informiert war, bisher daraus keine Konsequenzen
gezogen habe. Er antwortete, daß er über die Belastung
des einen Ministers erst gestern endgültig erfahren habe,
den anderen auf seine Bitte hin beurlaubt habe (nicht entlassen)
und dem dritten zugestanden habe, seinen Fall zunächst juristisch
klären zu lassen. (Pohl war schon im August aus anderen
Gründen entlassen worden.) Verfassungsgemäß hätte
eigentlich die Volkskammer über die Entlassung der Minister
entscheiden müssen, aber davon war nun keine Rede mehr.
Der Antrag, die Akten von Gysi und de Maiziere, die schon vor
der Regierungsbildung geprüft worden waren, noch einmal
vom regulären Ausschuß kontrollieren zu lassen, wurde
mehrheitlich abgewiesen. Inzwischen ist der Verdacht gegen de
Maiziere erneut wachgeworden, und er hat daraus die Konsequenzen
gezogen.
Es fand noch eine Debatte über die neun Mitglieder der CDU-Fraktion
statt, die nicht einmal bereit waren, sich überprüfen
zu lassen. Sie führte zu dem Beschluß, die CDU-Fraktion
nochmals untersuchen zu lassen und das Ergebnis der Volkskammer
auf ihrer letzten Sitzung bzw. dem Bundestag vorzulegen. Die
letzte Sitzung am 2. Oktober war aber ein Festakt, so daß
mir das Ergebnis trotz Nachfrage und Mitgliedschaft im Bundestag
bis heute nicht bekannt ist.
Schließlich wurde von unserer Fraktion noch beantragt,
Hans Modrow von der Liste der in den Bundestag entsandten Abgeordneten
zu streichen, weil er als Chef der Bezirksverwaltung der SED
zugleich der Vorgesetzte der Bezirksverwaltung des MfS war. Wir
wollten darauf aufmerksam machen, daß man doch nicht die
Kleinen hängen und die Großen laufen lassen darf.
Das formalrechtliche Argument, das dagegen ins Feld geführt
wurde, war der Beschluß der Volkskammer, daß allein
die Fraktionen die Delegierten zu bestimmen hätten. So zogen
wir unseren Antrag zurück, auch aus der Einsicht heraus,
daß das Problem des Verhältnisses von MfS und Befehlsgeber
SED ohnehin noch kaum behandelt worden war.
Kann die Stasi-Vergangenheit so überhaupt aufgearbeitet
werden? Daß das Fußvolk gefaßt, die Drahtzieher
aber laufengelassen werden, hängt natürlich damit zusammen,
daß es oberhalb des staatlichen Rechts eine Dimension des
willkürlichen Machtspiels gibt, daß wir kein international
durchsetzbares Menschenrecht haben und uns insofern nach
wie vor in einem "Naturzustand" befinden. In dieser
Sphäre bewegen sich die "Großen" und profitieren
davon auch dann noch, wenn sie von ihrer Höhe herabstürzen.
Solange wir uns mit diesem Naturzustand abfinden, ist offenbares
Unrecht nicht strafbar. Solange wir kein über den Staaten
bzw. "Systemen" stehendes, gegen sie einklagbares Recht
haben, ist auch das Stasi-Problem nicht lösbar, weil es
eben das Problem eines ganzes Staates bzw. "Systems"
darstellt. Im KSZE-Prozeß waren wir aber schon vor der
Umwälzung in Osteuropa soweit, die Forderung der Nichteinmischung
in die inneren Angelegenheiten hinter uns zu lassen!
In gewisser Hinsicht ist das Problem freilich dadurch gelöst,
daß das Unrechtssystem zusammengebrochen ist, d.h. sich
selbst gerichtet hat bzw. von den Völkern gerichtet wurde,
zumal die Umwälzung ja aus einem Neuen Denken hervorgegangen
ist und der Versuch zu einer neuen internationalen Ordnung war.
Aber es geht eben um ihre Weiterführung! Wird sie womöglich
dadurch abgebrochen, daß der Westen sich auf ihre Intention
nicht einläßt? Wenn die Menschenrechte das sind, was
sie zu sein versprechen, dann ist jetzt, nach dem Ende der Spaltung
der Menschheit, die Zeit gekommen, ihnen übernationale Garantien
zu verschaffen. Das ist die Herausforderung, vor die die Umwälzung
im Osten den Westen stellt, und die Zukunftsorientierung, die
eine Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit erst ermöglicht.
Sollte der Westen diese Herausforderung nicht annehmen und sich
nicht entsprechend wandeln, dann wird die Menschenrechtslehre
in ihrem universellen Anspruch unglaubwürdig und die Zyniker,
die das Recht nur als Instrument der Macht ansehen, behalten
das letzte Wort.
II
Nachruf auf
den sog. realen Sozialismus
Der schlampige
Gebrauch des Begriffs "Sozialismus" hat mich immer
schon geärgert. Da bemühe ich mich nun zwanzig Jahre,
meinen Mitbürgern in der DDR klarzumachen, daß das,
was wir in unserem Lande haben, mit Sozialismus nichts zu tun
hat; sie aber rufen "Freiheit statt Sozialismus!",
scheren sich einen Dreck um meine Unterscheidung zwischen Begriff
und Realität, folgen also immer noch der Ideologie, die
sie abzulehnen meinen! Da haben Hochschullehrer bei uns jahrzehntelang
Zeit gehabt, sich mit der Tradition des Sozialismus und der Analyse
unserer Gesellschaft zu beschäftigen; dennoch wollen sie
immer noch "sozialistische Errungenschaften" bewahren,
den Sozialismus "weiterentwickeln" oder "modernisieren"!
Da hat in den siebziger Jahren in der Bundesrepublik eine intensive
Diskussion um den Charakter des realen Sozialismus stattgefunden,
aber ein so renommiertes Blatt wie Die Zeit kann angesichts
der jüngsten Ereignisse in Osteuropa ohne weiteres eine
Umfrage veranstalten unter dem pauschalen Titel "Ist der
Sozialismus am Ende?".
I
Klar ist zunächst, daß das, was bei uns real existierte,
geradezu als Verkehrung der normativen Gehalte der Marxschen
Theorie erscheinen mußte. Marx hatte unter der "Diktatur
des Proletariats" den Beginn radikaler Demokratisierung
(des "Absterbens" des "Schmarotzerauswuchses"
Staat) verstanden. Wir haben die Diktatur einer Partei und eine
ungeheure Entfaltung der Staatsmacht erlebt. Marx hatte darauf
gerechnet, daß die vereinigten Proletarier aller Länder
die Gegensätze zwischen den Ländern unterlaufen und
schließlich überwinden würden. Wir haben eine
ungeahnte Zuspitzung der internationalen Gegensätze erlebt.
Marx hatte ein gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln,
das zugleich die "Wiederherstellung des individuellen Eigentums"
bedeuten sollte, ins Auge gefaßt. Wir dagegen haben unter
einem der Gesellschaft und den einzelnen entfremdeten Partei-
und Staatseigentum gestanden. Die Humanisierung der Arbeit und
eine Neugestaltung des Verhältnisses zur Natur war der Kern
der Zielvorstellungen von Marx. Wir haben die Entfremdung der
Arbeit und die Verwüstung der Natur noch weitergetrieben.
Freilich droht der Marxismus, wenn man derart vom Normativen
her denkt, zur reinen Lehre zu werden, auf die das Kriterium
der Praxis wohl nie recht anwendbar ist - im Widerspruch zu seiner
eigenen Intention! Wie andere Marxisten hat darum auch Lenin
versucht, die Theorie der geschichtlichen Erfahrung neu anzupassen
und zwar hauptsächlich durch seine Auffassung von der Partei,
vom Imperialismus und von der Rolle der Produktivkräfte.
Er hat einerseits an den direkt demokratischen Vorstellungen
von Marx festgehalten, andererseits aber der Partei eine
Bedeutung beigemessen, die Marx völlig fremd gewesen wäre,
die auf die Bedingungen der russischen Despotie zugeschnitten
war und schon den Keim zu neuer Despotie enthielt. Rosa Luxemburg
hat das schon 1904 bemerkt und sich gegen den "rücksichtslosen
Zentralismus" Lenins gewandt, wobei sie um die Besonderheiten
der russischen Situation durchaus wußte (vgl. Organisationsfragen,
GW I/2, 424 ff.).
Der bewußte politische Wille der Partei war gleichsam der
Ersatz für die mangelnde Stärke der Arbeiterschaft
in Rußland. Zwar hat Lenin noch auf die westliche Arbeiterklasse
als Revolutionssubjekt gehofft, schließlich jedoch den
"nationalistischen Osten" als neuen Träger
der Weltrevolution gegen den "imperialistischen Westen"
angesehen (AW II, 1016 ff.). Damit waren aber an die Stelle von
Klassen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft unvermerkt
Staaten im weltpolitischen Zusammenhang getreten und war
der Internationalismus in gefährlicher Weise mit Nationalismus
vermengt.
Der Nationalismus war wieder gleichsam der Ersatz für die
fehlenden positiven ökonomischen Bedingungen der Revolution.
Zwar hat Lenin noch in Übereinstimmung mit Marx eine beträchtliche
Unabhängigkeit der Produktionsverhältnisse vom Stand
der Produktivkräfte behauptet. Zugleich jedoch hat er Marx'
kritische Analyse der Struktur der Produktivkräfte geradezu
ignoriert und die schleunigste Übernahme der kapitalistischen
Technologie und Arbeitsorganisation proklamiert! Damit
war aber der weiteren Verwüstung der menschlichen Leiblichkeit
und der Natur Tür und Tor geöffnet!
Die Leninsche Neuorientierung an der geschichtlichen Erfahrung
lief also auf die Schlußfolgerung hinaus, daß eine
Despotie nur durch eine andere Despotie, Imperialismus nur durch
einen stärkeren Antiimperialismus und Ausbeutung der Natur
nur durch eine noch massivere Ausbeutung der Natur überwunden
werden kann; mit anderen Worten, daß der Teufel nur mit
Beelzebub ausgetrieben werden kann und es nichts Neues unter
der Sonne gibt. Dabei verzichtete sie aber keineswegs auf normative
Gehalte, sondern borgte sich von Marx immer noch die quasieschatologische
Hoffnung auf ein Neues und Besseres! Das ist die Lüge
des Schwärmertums, des Chiliasmus! So lehrte
der Leninismus schließlich, die Verkehrung, die mit der
Verwirklichung des Wahren verbunden ist, als solche hinzunehmen
und doch zugleich als wahre Verwirklichung zu verstehen. Er lehrte
das bevorstehende Absterben des Staates; die Sowjetunion war
aber praktisch umgekehrt gezwungen, erst einmal ein moderner
Staat zu werden! Er proklamierte den proletarischen Internationalismus;
aber die internationalen Gegensätze konnten gar nicht mehr
aus dem Inneren der Nationen heraus entschärft werden,
sondern mußten durch Weckung eines neuen Nationalismus
gerade verschärft werden! Mit dem Sozialismus sollte
begonnen werden, auch ohne daß ein bestimmter Stand der
Produktivkräfte schon erreicht war; dies führte jedoch
nur dazu, daß die Produktivkraftentwicklung zur alles beherrschenden
Forderung wurde und umso brutaler durchgeführt werden mußte,
und zwar nun von den Sozialisten selber! Paradoxerweise mußten
die "Sozialisten" das Gleiche tun wie die Bourgeoisie,
und da die Dynamik des Kapitalismus ungebrochen blieb, mußten
sie es weiter tun. Die Widersprüche, die sie zu überwinden
angetreten waren, mußten sie umgekehrt selber erst herstellen.
Da somit der Sozialismus durchaus nicht real werden konnte, wurde
die Idee des Sozialismus als solche zu eine Realität hypostasiert.
Da die praktische Welt eine "verkehrte" war, produzierte
sie den Sozialismus nun als "verkehrtes Weltbewußtsein",
als eine Art Religion. Er wurde "die allgemeine Theorie
dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik
in populärer Form, ihr spiritualistischer Point d'honneur,
ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung,
ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund" (MEW 1,
378). Was man "realen Sozialismus" nannte, war
eine Gesellschaft nachholender Industrialisierung mit despotischem
Erbe und einer sozialistischen Ideologie.
II
Ich erinnere kurz an die Diskussion über den Charakter
des realen Sozialismus, die in den siebziger Jahren geführt
worden ist. Leninisten selber hatten damals die Auffassung vertreten,
es handle sich gar nicht um Sozialismus, sondern um eine bürokratisch
deformierte Übergangsgesellschaft (Mandel) oder um eine
Form von Staatskapitalismus (Bettelheim). Freilich waren diese
Theorien noch zu sehr an den Eigentums- und Austauschverhältnissen
orientiert und von der Leninschen Vergötzung der Produktivkräfte
geprägt.
Die Diskussion hatte sich darum zunehmend auf den Bereich der
unmittelbaren Produktion zubewegt. Hier mußte der Punkt
liegen, von dem aus sowohl die Analogie als auch die Differenz
zum Kapitalismus begriffen werden konnte. So war z.B. nach Robert
Jungk die kapitalistische Gestalt der Technik und Arbeitsorganisation
gleichsam die "trojanische Maschine", die den
Erfolg des Sozialismus vereitelte. "Die Revolution veränderte
zwar die Besitzverhältnisse bei den Produktionsmitteln,
nicht aber ihre noch vom Geist des aufstrebenden Kapitalismus
geprägte Machart, die auf Leistung und Gewinn, auf Ausbeutung
und Anpassung der sie Bedienenden hin angelegt war. Die "trojanische
Maschine" - ganz besonders die Rüstungsmaschine - trägt
ihr Gutteil Schuld an dem Nichtzustandekommen eines humanen Sozialismus."
(Jungk, Jahrtausendmensch, 76) Von ihr her ließ sich aber
auch die Differenz zwischen den beiden Ordnungen begreifen. Das
Staatseigentum und die ganz andersartige Herrschaftsstruktur
im realen Sozialismus mußten dann darauf zurückgeführt
werden, daß Technik und Arbeitsorganisation von ihm nachholenderweise
übernommen wurden, also einerseits unter Zugzwang und andererseits
in ihrer entwickeltsten Gestalt.
Allerdings drängt sich bei dieser Sicht des realen Sozialismus
nun die Frage auf, wie es denn überhaupt zu dem Entwicklungsrückstand
kam, der sich ja heute immer noch zeigt bzw. zu dem Nachholzwang,
der ja immer noch anhält. Wieso mußte und muß
denn diese Gesellschaft überhaupt Technik und Arbeitsorganisation
in weitem Umfang von außen übernehmen, war und ist
sie so wenig in der Lage, sie aus sich selber heraus entstehen
zu lassen? Wer war denn überhaupt das Subjekt dieser Übernahme,
da sie doch offenbar nicht spontan geschah? Wieso mußte
Initiative in dieser Gesellschaft immer künstlich geweckt,
gefordert, ja geradezu dekretiert werden, wodurch sie natürlich
eher behindert als gefördert wurde? Woher das charakteristische
Sich-selbst-im-Wege-Stehen bei allem, was man wollte?
Der sowjetischen Gesellschaft waren bestimmte Züge eigen,
die gern mit sozialistischen verwechselt wurden, in Wahrheit
jedoch mit dem Gegensatz Kapitalismus - Sozialismus gar nichts
zu tun hatten, sondern das Erbe der halb-asiatischen Produktionsweise
und ihrer despotischen politischen Form darstellten. Ich kann
hier nicht auf die weitläufige Diskussion um den Charakter
des alten Rußland und seine Bedeutung für die Sowjetunion
eingehen. Nur auf einen wichtigen Punkt muß ich unbedingt
hinweisen: auf die außerordentliche Rolle des Staatseigentums
schon im alten Rußland!
Schon seit Iwan dem Schrecklichen war die Masse des Landes
in Rußland staatlich reguliert oder zugewiesen (Wittfogel,
284 ff.; Gitermann, I, 179 f.). Zwar wurden im 18. Jahrhundert
die pomestje-Besitzer zu Privateigentümern erklärt,
sie waren aber immer noch an den Staat gebunden und durch ein
zersplitterndes Erbrecht geschwächt. Nirgends in Europa
sei die Stabilität des Grundeigentums so gering wie in Rußland,
stellte im vorigen Jahrhundert ein Autor fest (bei Wittfogel,
246, 353). Aufgrund dessen, daß die Adligen primär
Staatsbeamte und nur sekundär Grundeigentümer waren,
konnten sowohl die Aufhebung der Leibeigenschaft als auch die
Stolypinsche Agrarreform mit ihrer (wenn auch widerwilligen)
Hilfe durchgeführt werden. Von 1861-1914 ging der Grundbesitz
dieser Schicht um 40% zurück! (Wittfogel, 235, 426). Schon
Marx hatte die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland
als einen Vorgang eingeschätzt, der sich deutlich von der
Bauernbefreiung in Westeuropa unterschied: Sie war für ihn
"die Vollendung der Autokratie", die "Niederreißung
der Schranken, die der große Autokrat bisher an den vielen,
auf Leibeigenschaft gestützten, kleinen Autokraten des russischen
Adels fand" (MEW 14, 498).
Auch in bezug auf die Industrie kam dem Staatseigentum
eine Bedeutung zu, die es in Westeuropa keineswegs hatte. Zwar
kontrollierten auch die absolutistischen Staaten Westeuropas
die neuen Industrien in vielfältiger und penetranter Weise
(anschauliche Schilderungen bei Sombart, Der moderne Kapitalismus).
In Rußland jedoch war im 18. Jahrhundert die Masse der
Schwerindustrie und ein beträchtlicher Teil der Leichtindustrie
direkt in staatlicher Hand. "Während der Staat in anderen
Ländern die Entwicklung des Industriekapitalismus eher auf
indirektem Wege förderte, indem er die allgemeinen Rahmenbedingungen
seiner ungehemmten Entfaltung schuf (Bau von Verkehrswegen, Industrie-
und Handelsgesetzgebung, Stabilisierung des Finanzwesens, protektionistische
Maßnahmen usw.), ging er in Rußland über eine
solche indirekte Unterstützung weit hinaus." So entstand
im 19. Jahrhundert ein "umfangreicher staatskapitalistischer
Wirtschaftssektor", wie ihn der Westen bis dahin nicht kannte,
und fehlte andererseits fast völlig die freie Konkurrenz.
Bei aller privatkapitalistischen Monopolbildung ist es doch niemals
zu einer Unterordnung des zaristischen Regierungsapparates unter
die Monopole gekommen (Lorenz, 31 ff.). Vor der Revolution war
z.B. das entscheidende Finanzkapital völlig unter staatlicher
Kontrolle (Wittfogel, 236). Auf Rußland traf also Lenins
Imperialismusdefinition überhaupt nicht zu, nach der umgekehrt
der Staat immer mehr unter die Kontrolle des Finanzkapitals gerät!
Auf den Streit zwischen Leninisten und kritischen Marxisten,
ob nun das Privateigentum die Ursache der Entfremdung
der Arbeit sei oder umgekehrt, brauchte man sich demnach
gar nicht einzulassen. Denn er war als ein Reflex der Auseinandersetzung
zwischen den tief in der Geschichte verankerten Sozialordnungen
des Ostens und Westens leicht zu durchschauen. Wenn Marx den
Primat der Arbeitsfrage hervorhob, so dachte er bezogen auf die
westliche liberale Entwicklung, setzte er die Freiheit der Gesellschaft
gegenüber dem Staat voraus und hatte er den Osten gar nicht
im Blick. Wenn andererseits der Leninismus den Primat der Eigentumsfrage
betonte, so knüpfte er (wenn auch natürlich im Widerspruch)
an die östliche soziale Tradition an, die jene Freiheit
der Gesellschaft überhaupt nicht kannte. Der Leninismus
rechnete sich also ein Verdienst zu, das ihm gar nicht zukam,
eben die Aufhebung des Privateigentums; und er verlangte vom
Westen etwas, was dort durchaus nicht als entscheidender Fortschritt
begriffen werden konnte. Denn dort kam eben der Humanisierung
der Arbeit Priorität zu und befürchtete man bei Eingriffen
in die Privateigentumsordnung nur eine neue Übermacht des
Staats.
Damit soll nun nicht etwa eine einfache Kontinuität der
russisch-sowjetischen Geschichte behauptet und der Bruch, den
die Oktoberrevolution bedeutet, geleugnet werden. Natürlich
war der sowjetische Staat keine Fortsetzung der zaristischen
Despotie und war die sowjetische Produktionsweise keine Fortsetzung
der halbasiatischen. Aber daß der Kampf gegen die Despotie
wiederum despotisch geführt wurde und die neue Produktionsweise,
gerade indem sie gegen die alte durchgesetzt wurde, deren Züge
annahm, das war allerdings charakteristisch für sie. Man
erinnere sich an Lenins Formulierung, der Staatskapitalismus
der Deutschen müsse übernommen werden, "ohne dabei
vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken"
(W 27, 333)! Die Theorie der nachholenden Industrialisierung
(der "trojanischen Maschine") bedarf also der Ergänzung,
denn es kann ihr nicht gelingen, die ganz andere Rolle des Staats
im realen Sozialismus aus der Übernahme der westlichen Technik
und Arbeitsorganisation abzuleiten: Indem sie von Übernahme
spricht, setzt sie diesen Staat als deren Subjekt ja schon voraus!
Und dieser war nicht nur Instrument, auch nicht nur Organisator
der Industrialisierung bzw. der Produktion, sondern ihr despotischer
Organisator, und insofern paradoxerweise zugleich ihr Hemmschuh.
(Wobei die Frage allerdings offenbleiben muß, ob die Trägheit
der Gesellschaft auf die Despotie oder umgekehrt die Despotie
auf die Trägheit der Gesellschaft zurückzuführen
ist.) Über die Analogie zum kapitalistischen Industrialismus
darf die Differenz, die in den völlig anderen historischen
Ausgangsbedingungen der sowjetischen Gesellschaft begründet
ist, nicht vernachlässigt werden. Der reale Sozialismus
ist somit historisch einzuordnen als ein "nichtkapitalistischer
Weg zur Industriegesellschaft" (Bahro), wobei der Terminus
"nichtkapitalistisch", der auf den ersten Blick nur
unbestimmt und eine Verlegenheit scheint, die Problematik dieser
Gesellschaft durchaus treffend umreißt: Es handelte sich
um eine bloße Antithese zum Kapitalismus, die auf
die These permanent fixiert blieb.
Wenn aber der Sozialismus nicht real war, dann kann er
weder bewahrt werden noch am Ende sein. Was am Ende ist,
ist der despotische Weg nachholender Industrialisierung einerseits
und die sozialistische Ideologie andererseits, ist der schreiende
Widerspruch zwischen Nachholzwang und Überholideologie.
Was bewahrt werden wird, ist die sozialistische Idee, die ihre
Träger in den vielfältigen alten und neuen sozialen
Bewegungen hat. Sie zielt nicht überschwenglich auf "Überwindung",
sondern nüchtern auf Begrenzung und Kontrolle des Staates,
der internationalen Gegensätze und der Entfremdung zwischen
Mensch und Natur.
III
Damit ist aber der Punkt bezeichnet, an dem auch an der Marxschen
Theorie eine Korrektur angebracht werden muß. Daß
die Verwirklichung der Idee ihre Verkehrung wurde, lag natürlich
nicht nur an der bösen Wirklichkeit, sondern auch an einer
verkehrten Fassung der Idee. Daß die Idee derart zur Ideologie
werden konnte, lag daran, daß sie selber ideologische Elemente
enthielt: ein ganzes Stück Chiliasmus! Insofern hat sich
der Leninismus mit einem gewissen Recht auf Marx berufen können.
Es gibt eine Affinität zwischen der Idee der direkten Demokratie
und der realen Despotie, zwischen der Idee der "Überwindung"
der internationalen Gegensätze und der Realität ihrer
Verschärfung; zwischen der Idee der "Aufhebung"
des Privateigentums und der Verwirklichung eines willkürlichen,
verantwortungslosen Staatseigentums.
Korrigiert werden muß Marx' Einschätzung des Phänomens
der Repräsentation bzw. der "Vermittlung"
(Hegel!), sein Glaube an Unmittelbarkeit. Ich zeige das
- meiner Gliederung von vorhin folgend - zunächst in bezug
auf die Innenpolitik und dann in bezug auf die Ökonomie.
Die Außenpolitik lasse ich hier weg, weil bei Marx an dieser
Stelle einfach ein Defizit vorliegt. (Der ursprüngliche
Plan seines Hauptwerks enthielt Bücher über den Staat
und den Weltmarkt, die nicht geschrieben wurden).
Im Hinblick auf die Innenpolitik ist die entscheidende
Frage, ob die Idee der Diktatur des Proletariats überhaupt
in sich stimmig ist (vgl. "Der Bürgerkrieg in Frankreich",
MEAS I, 446 ff.)? Lassen sich liberale Grundsätze durch
direkt-demokratische überhaupt in der Weise überbieten,
wie es Marx im Anschluß an die Pariser Kommune vorschwebte?
Wieso befürwortet Marx angesichts einer vom Mittel zum Zweck
gewordenen Exekutive (Napoleon III.!), d.h. einer "Macht
an sich" (die bekanntlich "böse" ist), nicht
eine Stärkung der Legislative und Judikative, d.h. der Macht
der Vernunft und des Rechts? Der ursprüngliche Sinn des
Prinzips der Gewaltenteilung war es doch, die alleinige und daher
willkürliche Gewalt zwar nicht zu zerbrechen, aber zu brechen,
eben durch Teilung zu verrechtlichen und zur Vernunft zu bringen.
Marx hält das Prinzip für überflüssig, weil
er es in der Diktatur des Proletariats als radikal und total
verwirklicht ansieht: Vermittels eines mysteriösen revolutionären
"Sprungs" ist die Gewalt hier ohnehin gleich auf das
ganze Volk verteilt und damit Recht und Vernunft selbstverständlich
geworden. Aber darf man dessen so sicher sein?
Daß andererseits in der alten Ordnung die Legislative zur
"Gewalt der Phrase" und die Unabhängigkeit der
Richter zum Schein geworden sind, läßt sich doch nur
sagen, wenn man sie an ihrem Wesen mißt, also anerkennt,
daß sie es ihrem Wesen nach eben nicht sind.
(Nach den positiven Erfahrungen mit dem allgemeinen Wahlrecht
in Deutschland hat Engels ja später der Arbeiterbewegung
auch andere Ratschläge gegeben: vgl. Einl. zu Marx, Die
Klassenkämpfe..., AS I, 114 f.) Marx argumentiert hier tatsächlich
in einer Weise, die wir vom Leninismus her kennen und die darin
besteht, daß ständig vom Mißbrauch einer Sache
auf deren Unbrauchbarkeit überhaupt geschlossen wird und
so das (saubere) Kind mit dem (schmutzigen) Bade ausgeschüttet
wird. Natürlich ist das Kind nie ganz sauber, ist die Sache
nie ganz von Mißbrauch frei, haften der gesetzgebenden
und richterlichen Gewalt immer Mängel an. Aber angesichts
einer verrückt gewordenen nackten Vollzugsgewalt treten
sie in den Hintergrund, und man kann nicht alle Probleme auf
einmal lösen.
Im Hinblick auf die Ökonomie sagt Marx im Unterschied
zum Leninismus, daß die Selbstentfremdung der Arbeit die
Ursache des Privateigentums sei, nicht umgekehrt. Also kann die
Herrschaft des Privateigentums nur gebrochen werden durch die
beherrschte Arbeit selber. Das ist einleuchtend insofern, als
der 3. Feuerbachthese gemäß ja ausgeschlossen werden
muß, daß die kapitalistischen Umstände von einer
höheren Instanz stellvertretend für die Menschen verändert
werden, die Revolution also nur zu neuer Herrschaft führt
(Staatseigentum!) bzw. gar nicht eigentlich stattfindet. Daß
aber die Herrschaft des Privateigentums überhaupt "aufgehoben"
werden soll, ist dabei vorausgesetzt, so sehr Marx die notwendigen
Bedingungen dafür deutlich macht. Es ist das aber die gleiche
Voraussetzung, die wir im Zusammenhang der Politikkritik schon
fragwürdig fanden: die einer direkten Demokratie und Ablehnung
jeglichen Vertretenwerdens, jeglicher Repräsentation. Wie
die unmittelbare Demokratie nicht davor geschützt ist, in
Despotie umzuschlagen, so ist die "unmittelbar vergesellschaftete
Arbeit" (MEW 23, 92 f. u.a.) nicht davor geschützt,
in Zwangsarbeit umzuschlagen. In der Tat kann Marx auch nicht
begreiflich machen, worauf diese Unmittelbarkeit sich gründen
soll: auf die Internalisierung des allgemeinen Produktionsinteresses,
das bisher das Kapital vertrat, also auf einen noch nie dagewesenen
Arbeitsenthusiasmus? (vgl. etwa Gru, 231: "die strenge Disziplin
des Kapitals" werde "allgemeiner Besitz des neuen Geschlechts"
sein!) - Oder auf eine solche Verbesserung der Bedingungen der
Arbeit, daß sie aus einer Last zu einer Lust werden kann
(Engels, Anti-Dühring) und es den Individuen erlaubt, sich
"total" zu entwickeln (MEW 23, 512)? Zugespitzt gefragt:
Ist nun Erlösung durch die Arbeit oder von
der Arbeit (im bisherigen Sinne) gemeint? Wenn Marx dann im Alter
nüchterner sagt, daß die Sphäre der materiellen
Produktion immer ein "Reich der Notwendigkeit" bleiben
werde und das "Reich der Freiheit" nur "jenseits
desselben" aufblühen könne, so hat er damit zwar
nicht das Ziel einer Humanisierung der Arbeitsbedingungen aufgegeben
(vgl. MEW 25, 828), aber doch das Ziel, die Entfremdung der Arbeit
geradezu zu "überwinden". Der innere Widerspruch,
in dem die Arbeit sich bewegt, wird ja so nicht mehr "gelöst",
sondern nur relativiert durch Einbettung in das umfassendere
soziale Leben. Wenn aber dieser Widerspruch nur begrenzt, überbrückt,
von außen reguliert werden kann, dann muß es auch
eine eigene rechtliche Sphäre geben, die eben das leistet.
- Wie wir daher vorhin gefragt haben, ob nicht ein Unterschied
besteht zwischen einem Vorrang der Legislative und einem Übergewicht
der Exekutive, zwischen einer Vertretung des Allgemeininteresses
und einer Usurpation dieser Vertretung durch Sonderinteressen,
so müssen wir jetzt fragen, ob das Privateigentum an Produktionsmitteln
denn notwendig das allgemeine Produktionsinteresse, das es den
Konsuminteressen gegenüber vertritt, für Sonderinteressen
usurpieren muß, oder ob es nicht kontrolliert und gezwungen
werden kann, sich auf jene Repräsentation zu beschränken.
Warum soll die Herrschaft des Privateigentums überhaupt
verschwinden und nicht vielmehr sozial (uns ökologisch!)
eingegrenzt werden? Die Arbeiterbewegung der westlichen Länder
hat sich jedenfalls mit dieser Zielstellung begnügt und
entsprechend Elemente von Demokratie korrigierend auch in die
Wirtschaft eingebracht.
IV
Das ist die Position der Sozialdemokraten frühestens seit
Bernstein, spätestens seit Bad Godesberg. "Der Sozialismus
ist eine dauernde Aufgabe", keine Gegebenheit (Grundsatzprogramm,
Bad Godesberg 1959).
Für Sozialdemokraten ist der Staat nicht bloß
Machtinstrument der herrschenden Klasse, sondern auch eine genuine
Form des Zusammenlebens. Sie zielen nicht darauf, ihn zum "Absterben"
zu bringen, sondern seine Exekutivgewalt zu begrenzen und zu
kontrollieren. Sie vertreten nicht eine direkt-demokratische
Ideologie bei gleichzeitiger despotischer Politik, sondern bekennen
sich zur indirekten Demokratie und versuchen, diese durch direkt-demokratische
Elemente zu korrigieren und zu ergänzen. Sozialdemokraten
wollen nicht einen proletarischen Internationalismus mit
nationalistischen Mitteln durchsetzen, machen den Internationalismus
also nicht zur nationalistischen Ideologie, sondern erkennen
die Nationen und ihre Gegensätze als eine Realität
an und versuchen, diese Gegensätze zu überbrücken
und vernünftig zu regulieren (vgl. das Konzept der Sicherheitspartnerschaft).
Sozialdemokraten können darin keine sozialistische Lösung
sehen, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln
durch das Staatseigentum ersetzt und die Entfremdung der Arbeit
in neuer Form reproduziert wird. Sie sehen überhaupt nicht
die Eigentumsfrage, sondern die der Entfremdung der Arbeit als
Schlüsselfrage an. Sie gehen von der bestehenden Privat-Eigentumsordnung
als Tatsache aus und suchen sie durch Gegenmachtbildung der Arbeiter,
demokratische Mitbestimmung und Humanisierung der Arbeit zu relativieren
und zu unterlaufen. Zugleich stellen sie seit den siebziger Jahren
dem herrschenden Konsum- und Wachstumsfetischismus die Forderung
nach Lebensqualität und einem ökologischen Umbau
der Industriegesellschaft entgegen.
Notiz über
den mißverständlichen Begriff "Bewahrung der
Schöpfung"
Von Sentimentalitäten
abgesehen kann der (moderne) Mensch die Natur wohl noch
weniger lieben als die Menschheit. Hier wird seine Liebe nicht
nur abstrakt, sie schlägt sogar in Gleichgültigkeit
um. Die Liebe zur Natur scheint von vornherein nichts anderes
zu sein als der Wille, sie zu beherrschen. Je tiefer die "Liebe"
zu ihr, die Versenkung in ihre Zusammenhänge, die Verliebtheit
in ihre Details (Naturwissenschaft), desto größer
die Chancen ihrer Beherrschung (Technik). In der Arbeit scheint
der Mensch mit der Natur solidarisch zu werden, ja sich ihr zu
unterwerfen; in Wahrheit jedoch unterwirft er damit sie, eignet
er sie sich an, überlistet er sie, indem er sie schließlich
in Gestalt der Maschine für sich arbeiten läßt.
Weil die Natur blind und in sich widersprüchlich ist, kann
der Mensch derart ihre Kräfte gegeneinander ausspielen und
sie ausnutzen. Die "Liebe" zu ihr ist nur eine List,
ein Manöver, sie zu täuschen.
Und muß der Mensch nicht so mit ihr verfahren? Zunächst
verhält die Natur sich ja auch heute keineswegs nur freundlich
und duldsam ihm gegenüber - wie manche Romantik offenbar
voraussetzt -, sondern oft auch feindlich und jedenfalls unberechenbar.
Immer wieder geht sie gleichgültig nicht nur über unsere
technischen, sondern auch über unsere moralischen Zwecke
hinweg. Zwischen Mensch und Natur ist eine Fremdheit, die schon
gedanklich kaum zu überbrücken ist. Der Mensch steht
daher vor der Alternative, diese Irrationalität entweder
hinzunehmen und wieder schicksalsgläubig zu werden oder
über alles Schicksalhafte hinweg Rationalität zu setzen,
Sinn zu stiften. Er kann in der Natur, wie er sie vorfindet,
gar nicht leben, er muß sie umgestalten zu einer "zweiten"
Natur. - Sodann ist zu bedenken: Wenn es schon beim menschlichen
Zusammenleben in größerem Rahmen ohne Leitung und
Regierung nicht abgeht, dann doch umso mehr beim Zusammenleben
mit der bewußtlosen Natur. Da hier eine konkrete
und zugleich allumfassende Liebe noch weniger erfahrbar ist,
es zwar Symbiosen gibt, zugleich aber einen unerbittlichen Kampf
ums Dasein, kann man spekulieren, ob die Natur nicht selber gleichsam
nach einem verlangt, der sie stellvertretend vereinigt, und ob
dieser Repräsentant der Natur nicht der Mensch ist. Es könnte
dann nur darum gehen, daß er seine Herrschaft über
die Natur nicht willkürlich, sondern "rechtlich"
(den Gesetzen der Natur entsprechend) ausübt, nicht jedoch
darum, auf sie zu verzichten. - Schließlich ist von "Herrschaft"
wie von "Liebe" in diesem Zusammenhang wenn überhaupt,
dann ohnehin nur in einem analogen Sinne zu reden. Wenn Herrschaft
über Menschen kritisiert wird, weil da Menschen als Hunde
oder Dinge behandelt werden, so ist damit eben auf den Unterschied
zwischen Mensch und Natur abgehoben und gesagt, daß dies
ein der Natur gegenüber angemessenes Verhältnis bzw.
hier gerade nicht Herrschaft ist. Herrschaft über die Natur
zu kritisieren, heißt daher schon, die Natur in unangemessener
Weise zu vermenschlichen.
Das Problem, das uns schon die ganze Zeit über bewegt, ist
freilich: Wird der Mensch, indem er fortschreitend an
seiner zweiten Natur baut, nicht nun von dieser abhängig,
und zerstört er damit nicht notwendig die erste Natur,
so aber zugleich seine eigene Lebensbasis? Sollte er daher nicht
doch aufhören, die Natur beherrschen zu wollen und sie wieder
lieben und ehren lernen? Zumal es die Frage ist, wer auf längere
Sicht wen überlistet! Rächt sich die Natur nicht für
alle Vergewaltigung, die wir ihr antun? Je mehr wir von ihr begreifen,
desto größere Rätsel gibt sie uns auf. Je tiefer
wir in sie eindringen, desto bedrohlicher werden die Gewalten,
mit denen wir es zu tun bekommen. Wenn wir sie in Gestalt der
Maschine für uns arbeiten lassen wollen, dann müssen
wir zuvor unsere eigene körperliche Arbeit zum mechanischen
Ablauf erniedrigen und danach unsere geistige Arbeit zu Monotonie
verdammen. Indem wir uns die Natur anzueignen meinen, werden
wir vielmehr in Produktion und Konsum auf sie fixiert und von
ihr vereinnahmt. Das oben Gesagte läßt sich also auch
im entgegengesetzten Sinne deuten: Wir scheinen die Natur zu
unterwerfen, in Wahrheit unterwirft immer noch sie uns! Und unser
vollkommener Sieg über sie wäre eigentlich unsere vollkommene
Niederlage. Wenn unser Fortschritt in der Naturbeherrschung demnach
nur eine Einbildung ist - und zwar eine gefährliche Einbildung,
weil sie uns über die natürlichen Leiden hinaus maßlose
künstliche Leiden beschert -, sollten wir uns dann nicht
endlich von ihm verabschieden?
Aber eine neue Liebe zur Natur wäre nicht nur aufgrund unseres
geschichtlichen Standes, sondern auch grundsätzlich identisch
mit einer romantischen Liebe zum Tode, sofern menschliches
Leben eben nur in einer zweiten Natur möglich ist! Stehen
wir also vor dem Dilemma, entweder unsere natürliche Umwelt
zu erhalten, damit aber uns selbst aufzugeben, oder uns selbst
zu erhalten, damit aber die natürliche Umwelt preiszugeben
und so schließlich auch uns selbst? Wenn menschliche Produktion
und Bewahrung der Natur derart einander ausschließen, dann
ist das menschliche Leben so oder so, direkt oder indirekt zum
Untergang verurteilt, dann ist es von tragischem Charakter. Und
aus diesem Dilemma haben wir nur dann eine Chance herauszukommen,
wenn Mensch und Natur nicht in einem solchen prinzipiellen
Gegensatz zueinander stehen. Genau das aber ist das biblische
Wort in dieser Sache! Denn die biblische Verheißung besagt
doch, daß beide zum Leben bestimmt sind, freilich
zu einem ganz anderen Leben, als wir es aus der geschichtlichen
Erfahrung kennen.
Die biblischen Aussagen scheinen hier widersprüchlich: Die
eine Tendenz ist die oben schon angeklungene: Die Erde ist nicht
Eigentum des Menschen, also auch nicht bloßes Material
seiner technischen Verfügungsmacht. Der Mensch verfügt
auch nicht über sich selbst, sondern ist wie die Natur Gott
unterstellt. Der Mensch scheint also in den Zusammenhang der
Natur eingeordnet, selbst ein Naturwesen zu sein. In diese Richtung
weist es etwa, wenn nach der Priesterschrift der Mensch am selben
Tag geschaffen ist wie die Tiere, und die Tiere nicht zum Nahrungserwerb
töten darf (jedenfalls bis Gen. 9, 3 f.), wenn in den Psalmen
die Natur dankbar bewundert wird, wenn Jesaja vom Ende des Kampfes
ums Dasein spricht (Jes. 11, 6-8) oder wenn Paulus sagt, daß
die Schöpfung mit uns auf die Befreiung wartet (Röm.
8, 19 ff.). - Dagegen steht aber nun eine andere starke
Tendenz, die dem Christentum gerade in jüngster Zeit viel
Kritik eingetragen hat (vgl. etwa Carl Amery): Der bekannte Auftrag
an den Menschen, die Natur zu unterwerfen (Gen. 1, 28), die radikale
Entzauberung der Natur in den Schöpfungsgeschichten und
die Entmachtung der Geistermächte im Neuen Testament (etwa
Röm. 8, 38 f.). Hier wird ja der Mensch wie nirgends sonst
in der Antike über die Natur erhoben und diese rationaler
Verwertung zugänglich gemacht! Wie sind diese einander entgegengesetzten
Tendenzen miteinander zu vereinbaren?
Ich sehe die Lösung darin, daß wir streng von dem
Eigentum Gottes am Menschen und an der Natur zugleich ausgehen.
Gott will zu seinem Recht an der ganzen Schöpfung kommen,
er will "alles in allem" werden (1. Kor. 15, 28, vgl.
Kol. 3, 11). Sowohl der Mensch als auch die Natur gehören
letztlich - d.h. in eschatologischer Perspektive - nicht sich
selbst, sondern Gott. Die Natur wird dem Menschen immer neu geschenkt
und der Mensch wird dem Menschen immer neu geschenkt. Mißachtet
man dieses doppelte Recht Gottes, so wird man entweder
die Natur als bloßes Material nehmen und sich als ihren
absoluten Herrn verstehen. Diese Selbstvergötzung des Menschen
geht dann einher mit der Vergötzung der eigenen Produktion
und der Unterwerfung unter sie und führt so zum Klassengegensatz
(neuzeitlicher Kapitalismus). Oder man wird die Natur
als wunderbaren Kosmos anbeten und sich ihr unterworfen wissen.
Die Vergötzung der Natur bedeutet aber Verwischung des Unterschieds
zwischen Mensch und Natur; mit der sozialen Konsequenz, daß
Menschen direkt mit der Natur identifiziert, als Dinge behandelt
werden können. Sie führt also ebenfalls zum Klassengegensatz
(antike Sklaverei)! Das wird heute oft vergessen, wenn man angesichts
der ökologischen Probleme eine neue Naturfrömmigkeit
anstrebt. Diese soziale Konsequenz der Verdinglichung von Menschen
will die Bibel ausschließen, indem sie die Natur der rationalen
Bearbeitung übergibt. Gewiß gehört die Natur
nicht dem Menschen, aber der Mensch gehört auch nicht ihr!
Die Bibel führt aus dem beschriebenen Dilem ma heraus: Sie
bewundert die Natur, sofern sie als Gottes Schöpfung
Bewunderung verdient. Die Schöpfungstaten Gottes vor Augen,
kann der Mensch sich nicht als absoluter Herr vorkommen. Seine
Arbeit ist nicht Schöpfung. Aber die Bibel betet
die Natur nicht an, sie schließt eine Vergötzung
der Natur aus und verhindert so, daß der Mensch als ihr
Sklave verstanden und behandelt wird. Seine Arbeit ist auch nicht
bloß ein Naturgeschehen. Indem die Natur als immer neues
Geschenk erfahren wird, ist der Mensch weder ihr Sklave noch
ihr Herr, sondern er geht mit ihr um, wie man eben mit einem
kostbaren Geschenk umgeht.
Von der Bibel her ist also etwa der Versuch, die Natur als "Partner"
des Menschen zu deuten und so zu personifizieren, nicht vertretbar.
Partner des Menschen sind nur in einem analogen Sinne die Lebewesen,
und "die Natur" als ganze begegnet uns gar nicht. Die
Natur aber als immer neues Geschenk zu verstehen, das
bedeutet:
(a) Sie ist "sehr gut", für unsere menschlichen
Bedürfnisse offen, und wir brauchen das Widerständige
und Bedrohliche, das von ihr ausgeht, nicht als "Geschick"
hinzunehmen.
(b) Sie ist keine geschlossene, fertige Sache, sondern offener
Prozeß, überraschende Geschichte.
(c) Wir können sie immer nur ausschnittweise erfahren
und nur besitzen, nie ganz begreifen und zum Eigentum
haben.
In dieser Richtung ist das verheißene ganz andere Leben
zu suchen, in dem Mensch und Natur miteinander vereinbar werden.
Fassen wir es als Postulat unserer praktischen Vernunft auf,
so folgt daraus zumal heute die Forderung einer anderen Weise
des Produzierens. Die Frage nach dem ganz anderen, "ewigen"
Leben ist praktisch-ethisch immer die nach dem wahren, d.h. entsprechenden
Leben in der Zeit gewesen. Und die Frage danach ist theoretisch-dogmatisch
wiederum die nach der realen Voraussetzung dessen.
Unsere Situation scheint mir nun dadurch gekennzeichnet, daß
wir die Produktion als solche vergötzen, ohne ihr
übergeordnete Zwecke. Damit ist sie aber von den anderen
Dimensionen des geschichtlichen Lebens losgelöst und von
Destruktion letztlich gar nicht mehr zu unterscheiden. Der volle
Begriff der Zivilisation ist verloren und eine unheimliche Nähe
zur Barbarei gegeben, am deutlichsten im "Gleichgewicht
des Schreckens", auf dem unsere Welt bis vor kurzem beruhte.
Daraus ergibt sich wie der Kater aus dem Rausch die ständige
Sehnsucht nach einer ursprünglichen, einfachen, "ersten"
Natur. Aber diese erste Natur ist nicht weniger zweideutig und
als solche, losgelöst von der zweiten, ebenfalls
eine Fiktion. Was man von ihr verlangt, kann sie niemals leisten:
Heimat zu sein. Diese Sehnsucht ist daher nur das ohnmächtige
schlechte Gewissen des Produktionsgötzendienstes oder dient
sogar dazu, seine destruktive Kehrseite zu verstärken. Denn
die Vergötzung der Natur ist heute nicht mehr naiv wie in
der Antike, und wenn die Natur für uns nicht mehr in diesem
Sinne Natur sein kann, dann sucht man sie womöglich künstlich
wiederherzustellen, durch Zerstörung der Zivilisation mit
zivilisatorischen Mitteln (vgl. den Nationalsozialismus!).
Offensichtlich zerstörerisch ist also einerseits eine Produktion,
die blind über die Naturbedingungen hinweg ständig
quantitativ erweitert und um ihrer selbst willen betrieben wird.
Abzulehnen ist aber andrerseits auch eine Totalkritik der industriellen
Zivilisation, die an vorindustriellen Zeiten oder der Natur ihr
Leitbild sucht. Denn diese Kritik schüttet das Kind mit
dem Bade aus und ist in der Atomkriegsdrohung längst institutionalisiert.
Es geht nicht einfach um Begrenzung oder Abbau der Produktion,
sondern um die Bestimmung ihrer Ziele, ihre Einbettung in das
Ganze des menschlichen Lebens und ihre entsprechende Umgestaltung.
Lebensfördernd wäre daher ein Produzieren, das den
Naturbedingungen bewußt Rechnung tragen würde, um
der wirklichen Bedürfnisse willen betrieben und ständig
qualitativ verbessert würde. Die biblische Lebenszusage
besagt, daß dies überhaupt möglich ist und macht
uns frei, in dieser Richtung erfinderisch zu werden.
Chancen und
Aufgaben politischer Bildung: Wie können wir die Aufklärung
noch fortsetzen?
I Anknüpfung:
Das Verlangen nach Mündigkeit als Motiv der Herbstrevolution
Es ist ganz
unvermeidlich, beim Thema "Mündigkeit" auf Kants
berühmte Definition der Aufklärung zurückzugreifen:
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist
das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,
wenn die Ursache der selben nicht am Mangel des Verstandes, sondern
der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne
Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, Dich
Deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch
der Aufklärung." ("Beantwortung der Frage: Was
ist Aufklärung?" in: Schriften zur Rechtsphilosophie,
215) In der Tat kann diese Definition uns helfen, die Revolution
in der DDR (und den anderen Ländern Osteuropas) richtig
zu deuten. Denn ein Motiv dieser Revolution war zweifellos das
Bedürfnis der Menschen, sich endlich ihres Verstandes ohne
Leitung eines anderen bedienen zu können, es war keineswegs
bloß das Streben nach westlichem Wohlstand! Schon die,
die ausreisten, taten das ja nicht bloß um des Wohlstands
willen, sondern auch, um endlich ihren eigenen Verstand gebrauchen
und sich als mündige Menschen bewegen zu können. Im
Herbst 89 haben wir es dann wie ein Wunder erlebt, daß
da Leute, die wir nur als "Muffel" kannten, plötzlich
reden konnten, ihre Gedanken und Gefühle ausdrücken
konnten; daß sie eine Phantasie und einen Witz entfalteten,
wie wir es bei DDR-Bürgern nie für möglich gehalten
hätten; daß sie Analysen und Konzepte zu allen möglichen
Problemen des Zusammenlebens ausarbeiteten, für die sich
zwar heute niemand mehr interessiert, aber nicht etwa, weil sie
überholt sind! - Auch die Unmündigkeit zuvor war im
Grunde eine selbstverschuldete, d.h. im Mangel der Entschließung
und des Mutes begründet. Denn einerseits waren die Bürger
bei uns nicht dümmer, auch nicht weniger informiert als
anderswo; andererseits waren die Zwänge des Systems nicht
unausweichlich. Und so war die Umwälzung ein - freilich
etwas später - Akt der Aufklärung, d.h. des Ausgangs
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Sie war politische Bildung im Vollzug, als Ereignis, aber
die reale Geschichte ist, wie's scheint, über sie hinweggegangen.
Am liebsten würde ich die ganze kleine, so wunderbare Schrift
Kants hier vortragen, denn sie enthält noch eine Fülle
von Hinweisen zur Deutung dessen, was wir in den letzten Jahren
erlebt und empfunden haben.
II Erinnerung:
Unmündigkeit und Vormundschaft im politischen System
der DDR
"Satzungen
und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen
Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind
die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit."
(ebnda, 216) Satzungen und Formeln: Wie haben wir uns mit ihnen
plagen müssen, in der Schule, im Studium, bei der Zeitungslektüre!
Ich selber frage mich heute, ob ich nicht Jahre meines Lebens
umsonst damit zugebracht habe, mich mit den Formeln der Leninisten
auseinanderzusetzen, die vielleicht nur noch den Sinn hatten,
vom eigenen Verstandesgebrauch abzuhalten.
"Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich
aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.
Er hat sie sogar lieb gewonnen... Daß aber ein Publikum
sich selbst aufkläre, ist eher möglich: ja, es ist,
wenn man ihm nur die Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich."
(S. 216) Wie haben wir unter der Vereinzelung gelitten und darunter,
daß Öffentlichkeit nicht zustande kam! Nicht von ungefähr
begann die Perestroika in der Sowjetunion mit der Forderung nach
Glasnost.
(Übrigens kommt Kant, indem er den öffentlichen Gebrauch
der Vernunft fordert, erst zum eigentlichen Begriff der Mündigkeit,
und geht er über seine eigenen philosophischen Grundlagen
hinaus: Der Verstandesgebrauch ist an die Sprache gebunden, wie
schon Hamann und Herder gegen Kant eingewandt haben.)
Weil bei uns die Partei an ihrem Erkenntnismonopol und dem selbstgerechten
Anspruch auf Gestaltung des ganzen sozialen Lebens festhielt,
konnte es zu Dialog und Öffentlichkeit natürlich nicht
kommen.
Der Schein der Wissenschaftlichkeit und des Immer-Rechthabens
mußte vor der Bevölkerung durch Informationsschranken
und eine Aura des Geheimnisses aufrecht erhalten werden.
Obwohl die Sprache bekanntlich dazu dient, etwas auszusagen,
wurde sie nun umgekehrt dazu benutzt, das Wichtige möglichst
nicht auszusagen. Sie mußte wie die Katze ständig
um den heißen Brei herumschleichen. Realität sollte
ja nicht aufgedeckt, sondern gerade zugedeckt werden. Daher die
weitgehende Gehaltlosigkeit der politischen Berichterstattung
und das entsprechende Desinteresse, auf das sie stieß.
Zur Verheimlichung und Verschleierung kam hinzu die peinliche
Tendenz zu beschönigen und zu harmonisieren:
Die Bürger sollten durch die Medien nicht mit Widersprüchen
und Schwierigkeiten konfrontiert werden, offenbar aufgrund der
Befürchtung, daß sie dem nicht gewachsen wären,
daß das ihren Enthusiasmus schwächen und sie entmutigen
könnte! Es ging um die Mobilisierung einer Masse, gar nicht
um die Information mündiger Bürger. Das hing damit
zusammen, daß man von der schwärmerischen Tradition
der direkten Demokratie und des "Absterbens des Staates"
nicht loskam. Das Witzige war, daß die Bürger zwar
zum Mitplanen und Mitregieren ermuntert wurden,
man ihnen jedoch zugleich fortwährend zu verstehen gab,
daß im Grunde ihr Mitplanen und Mitregieren gar nicht nötig
sei, insofern ja alles wunderbar lief. Da die öffentlichen
Verlautbarungen eben nicht Probleme, sondern geplante oder gelungene
Lösungen betrafen, blieb den Bürgern gar nichts weiter
zu tun, als sie hinzunehmen oder (im Stillen) abzulehnen. Die
Bürger wurden also ideologisch überschwenglich ernstgenommen,
real aber als mündige Menschen mißachtet. Das Pauschale
der Hinnahme oder Verweigerung, zu der sie gezwungen waren, bedeutete,
daß sie vor eine konkrete politische Sachfrage niemals
gestellt waren.
Indem die Partei ständig nur Vorträge hielt, so tat,
als gäbe es außer ihr im Grunde niemanden, der ihr
etwas Entscheidendes sagen könnte, rief sie ein großes
demonstratives Schweigen in Lande hervor und auf die Dauer
einen Verfall der Sprache. Die DDR-Gesellschaft war bis
auf ihre Schriftsteller eine recht stumme, sprachlose Gesellschaft.
Jeder, der im westlichen Ausland aufmerksam beobachtete, konnte
den höheren Grad an Wachheit, Reflektiertheit des Lebens
dort feststellen und mußte nach der Rückkehr den Eindruck
des Dumpfen und Stumpfen haben.
Da die Partei im Grunde immer schon Bescheid wußte, konnte
sie auch selber nichts mehr entdecken, brauchte sie nur noch
zu zitieren, die bekannten Formeln zu beschwören.
Reden, Verlautbarungen, selbst persönliche Gespräche
wurden so zum Ritual. Man fragte sich vergeblich, ob die
Redner denn selber glaubten, was sie verkündeten, geschweige
denn die Zuhörer, was sie hörten; vergeblich deshalb,
weil es auf persönliche Wahrhaftigkeit ja überhaupt
nicht mehr ankam, nur noch aufs äußerliche Mitmachen.
III Aufarbeitung
der Vergangenheit: Die Paradoxie der Unmündigkeit unter
der Losung von der Mündigkeit aller
"Faulheit
und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil
der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung
freigesprochen (naturaliter mariorennes), dennoch gerne zeitlebens
unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich
zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig
zu sein..." (S. 215) Wie oft haben wir uns über diese
Faulheit und Feigheit geärgert, allerdings in dem Wissen,
daß sie in Deutschland eine große Tradition hat;
und andererseits in dem Wissen, daß uns nicht so sehr die
Natur als vielmehr die Geschichte freigesprochen hat, vor etwa
200 Jahren, oder noch genauer: die neutestamentliche Botschaft,
als sie vor über 450 Jahren wiederentdeckt wurde!
Liegt hier auch der Grund, weshalb die ideelle Vorbereitung unserer
Revolution so dürftig ausfiel? Weil ihre geistigen Grundlagen
so lange schon bekannt waren und andererseits die Hohlheit der
herrschenden Ideologie allzu offensichtlich war?
Aber das Problem ist komplizierter: Der Marxismus wollte ja ursprünglich
ein Mehr an Mündigkeit gegenüber dem Liberalismus erreichen!
Das Paradoxe ist ja, daß diese Theorie, die über die
Aufklärung doch hinausführen wollte, gerade
hinter sie zurückgeführt hat. Es ist klar, daß
das, was bei uns real existierte, ganz im Gegensatz zur Marxschen
Theorie stand. Marx hatte unter der "Diktatur des Proletariats"
den Beginn radikaler Demokratisierung (des "Absterbens"
des "Schmarotzerauswuchses" Staat) verstanden. Wir
haben die Diktatur einer Partei und eine ungeheure Entfaltung
der Staatsmacht erlebt. Marx hatte die Pariser Kommune gelobt,
weil sie mit dem Prinzip der Öffentlichkeit ernstgemacht
hatte: "Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen,
sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten."
(MEAS I, 500) Wir haben eine Regierung erlebt, die sich ständig
vergeblich bemühte, das Publikum in ihre Vollkommenheiten
einzuweihen! Wie ist diese Verkehrung zu erklären?
Sie ist zunächst auf Lenin zurückzuführen. Er
hat einerseits an den direkt-demokratischen Vorstellungen von
Marx festgehalten, andererseits aber der Partei eine Bedeutung
beigemessen, die Marx völlig fremd gewesen wäre. Sie
war auf die Bedingungen der russischen Despotie zugeschnitten
und enthielt schon den Keim zu neuer Despotie. Rosa Luxemburg
hat das sehr früh (1904) bemerkt und sich gegen den "rücksichtslosen
Zentralismus" Lenins gewandt (vgl. "Organisationsfragen
der russischen Sozialdemokratie", GW I/2, 424 ff.). Aber
obwohl es auch vielen anderen lange schon klar war, wohin Lenins
Weg führen würde, wurde er doch bis zum bitteren Ende
beschritten. Kann man daran nicht sehen, wie wenig politische
Aufklärung im realen geschichtlichen Handgemenge auszurichten
vermag? Die Verkehrung ist sodann auf die Ausgangsbedingungen
der Oktoberrevolution zurückzuführen: Da war ja kaum
eine bürgerliche Ökonomie und Politik, vielmehr hauptsächlich
eine halbasiatische Produktionsweise und Despoie! Was aber gar
nicht vorhanden war, das konnte auch nicht in Richtung Sozialismus
überwunden werden. Wer ein bißchen die russische Geschichte
studiert hatte, konnte das wissen. Auch die anderen Länder
des sogenannten sozialistischen Systems waren fast durchweg solche
mit sehr schwacher demokratischer und marktwirtschaftlicher Tradition,
und was man "sozialistisch" nannte, war meist nichts
weiter als die Fortsetzung und Steigerung dieser traditionellen
Schwäche. Aber das wurde und wird nur von wenigen durchschaut,
vielmehr sprach und spricht alle Welt vom "realen Sozialismus"!
Wenn das politische Bildung auch heute noch tut, dann verbreitet
sie nicht nur historisch Unrichtiges, sondern sie folgt weiter
der Ideologie, die sie doch kritisieren müßte! Und
sie täuscht sich zugleich über die Schwere der Aufgabe,
vor der sie steht! Der sogenannte reale Sozialismus war auch
insofern eine der großen Niederlagen der Aufklärung,
als er einen Sieg des ideologischen Scheins, der unklaren Worte
darstellte!
Umso drängender stellt sich allerdings die Frage, wie gerade
der Aufklärer und Ideologiekritiker Marx vor den
Wagen des Leninismus gespannt werden konnte! Das ist wieder lehrreich
für politische Bildung überhaupt, denn auch ihr kann
es ja passieren, daß sie bei bestem aufklärerischen
Willen vor den Wagen ganz anderer Zwecke gespannt wird! Darüber
hinaus muß sie bei uns davon ausgehen, daß aufgrund
der Erfahrung mit dem Marxismus-Leninismus aufklärerische
Gehalte von vornherein schwer diskreditiert sind. Ist durch diesen
Mißbrauch der Aufklärung nicht die Aufklärung
selbst widerlegt? Jedenfalls darf sie nicht mehr doktrinär
auftreten.
Daß die Verwirklichung der Marxschen Idee zu ihrer Verkehrung
führte, kann nicht nur an der Verdrehung durch den Leninismus
und letztlich an der bösen Wirklichkeit gelegen haben; es
muß auch an der Idee selber etwas nicht stimmen. Daß
die Idee derart zur Ideologie werden konnte, lag auch daran,
daß sie selber blind Utopisches enthielt. Insofern hat
sich der Leninismus mit einem gewissen Recht auf Marx berufen
können. Die Idee der Mündigkeit aller, wie sie Marx
vertreten hat, eignet sich gerade deshalb, weil sie die Sehnsucht
nach Demokratie radikal zum Ausdruck bringt, zur Legitimierung
von Despotie. Sie kam der Sehnsucht der Völker also
entgegen, nicht aber ihren realen Möglichkeiten. Verlangen
nach Mündigkeit und reale Despotie vertragen sich aber durchaus,
zumal wenn letztere beständig beteuert, ja selber der Anwalt
jenes Verlangens zu sein.
In der Weise, wie es Marx im Anschluß an die Pariser Kommune
vorschwebte, läßt sich die liberale Demokratie nicht
durch direkte Demokratie überbieten. In seiner Schrift über
den Bürgerkrieg in Frankreich stellt Marx z.B. mit Recht
fest, daß im Frankreich Napoleons III. die Exekutive sich
völlig verselbständigt hatte und die Legislative zur
"Gewalt der Phrase" verkommen war. Daraus leitet
er jedoch zu Unrecht ab, die Prinzipien der Repräsentation
und der Gewaltenteilung hätten sich überlebt, es dürfe
nur noch ein imperatives Mandat geben und die gesetzgebende müsse
eine zugleich ausführende Gewalt sein. Denn erstens kann
man die Legislative doch nur in dieser Weise kritisieren, wenn
man sie an ihrem Wesen mißt, also anerkennt, daß
sie ihrem Wesen nach die Gewalt des Wortes ist. Zweitens
hat das Parlament als solche Gewalt gegenüber der
Routine und Willkür der Exekutive die Selbstbesinnung und
kommunikative Vernunft des Gemeinwesens zu verkörpern, darf
also gerade nicht mit exekutiven Funktionen belastet werden.
Drittens wird ein imperatives Mandat die Verantwortung der Mandatsträger
in einer komplexen Gesellschaft keineswegs erhöhen - es
wird sie gar nicht wirklich zustandekommen lassen.
IV Vergewisserung
in bezug auf die Gegenwart: Verlangen nach Mündigkeit
als Streben nach indirekter Demokratie
Kants Unterscheidung
von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft oder
von Geistesfreiheit und bürgerlicher Freiheit ist freilich
seltsam und charakteristisch deutsch: "Ich verstehe aber
unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft
denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum
der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen,
den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten
oder Amte von seiner Vernunft machen darf." (S. 217)
Kann man auf die bürgerliche Freiheit tatsächlich bis
zu einem gewissen Grade verzichten bzw. die Vernunft in einen
Amtsmechanismus einspannen lassen? Nach dem Motto: "Räsoniert,
so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!"
Sicher würden wir das heute nicht mehr sagen. Und doch müssen
wir, wenn wir nicht realitätsblind sind, eine ähnliche
Unterscheidung auch heute noch treffen - sie liegt nur an einer
anderen Stelle. Auch wir müssen in vielen (hauptsächlich
in ökonomischen) Dingen einfach gehorchen, sind von anderen
abhängig und können nicht alle jederzeit und
in allen Dingen mitreden, d.h. mündige Menschen sein.
Dies zu fordern, wäre nicht nur eine Überforderung,
sondern bloße Ideologie, wie wir sie hinreichend kennengelernt
haben. Auch aus dem zuletzt über die Ursachen der neuen
Unmündigkeit Gesagten geht schon hervor, daß unser
Verlangen nach Mündigkeit sich konsequenterweise als Streben
nach repräsentativer Demokratie artikulieren mußte,
also an die liberale Tradition anknüpfen mußte. Denn
das Pferd der direkten Demokratie war ja eben von den Leninisten
zu Tode geritten worden, die Mündigkeit aller war ja zum
ideologischen Schleier der Despotie geworden! Die Gefahren der
direkten Demokratie lagen offen zutage: die Überforderung
der Bürger, ihre künstliche und womöglich gewaltsame
Mobilisierung, das Umschlagen in Apathie, die Tendenz zur Nivellierung
und zur Ausgrenzung von Minderheiten bzw. Andersdenkenden.
Faktisch war diese Weichenstellung aber keineswegs von vornherein
klar. Ich selber habe z.B. lange Zeit gerade umgekehrt gedacht,
nämlich das, was zur bloßen Ideologie geworden war,
ernstgenommen und angemahnt. Ich wollte die Marxisten/Leninisten
immer an ihre ursprüngliche Intention erinnern, habe sie
damit aber ernster genommen als sie sich selber überhaupt
nehmen konnten, habe etwas eingefordert, was beim besten Willen
nicht verwirklicht werden konnte: eine Gesellschaft auf der Grundlage
herrschaftsfreier Diskussion.
Zum anderen entstanden Ende der siebziger Jahre ja die Friedens-
und Ökologie-Gruppen, die die Gesellschaft gern nach ihrem
Bilde geformt hätten, also ebenfalls basis-demokratisch
dachten. Dabei merkten sie nicht, daß sie in ihrem Gegensatz
zum despotischen Staat ihn zugleich ausgezeichnet ergänzten,
ihn gar nicht ernstlich infrage stellten und daher auch als Spielwiese
toleriert werden konnten!
Die systematische Schwierigkeit der Orientierung auf repräsentative
Demokratie bestand wohl darin zu begreifen, daß Mündigkeit
und Vertretenwerden sich nicht ausschließen bzw. Vormundschaft
etwas anderes ist als Stellvertretung. Dorothee Sölle
hat das ja sehr schön deutlich gemacht: Daß ich in
vielerlei Hinsicht angewiesen bin auf Vertretung durch andere,
ist sozusagen normal, hebt mein Personsein, meine Mündigkeit
noch nicht auf. Erst wenn die Angewiesenheit zu einer absoluten
wird, wenn ich nicht mehr nur vertreten, sondern ersetzt
werden soll, kommt es zur Entmündigung der Person. Entsprechend
verwandelt sich Stellvertretung, Verantwortung für andere
erst dann in Vormundschaft und Herrschaft, wenn sie ausschließlich
und ewig sein will.
Die Weichenstellung ist auch heute noch vielen nicht klar, was
sich an der fortwährenden Klage über den Parteienstreit
zeigt, oder an der Neigung, angesichts der Schwächen der
repräsentativen Demokratie sie mit Despotie in einen Topf
zu werfen. Politische Bildung wird daher bei uns noch lange Einübung
in die Regeln indirekter Demokratie sein müssen. Das darf
jedoch andererseits nicht heißen, daß sie zur technisch-verwaltungsmäßigen
Ausbildung verkommt - eine Gefahr, die sich im "Beitrittsgebiet"
sehr deutlich abzeichnet! Politische Bildung hat demgegenüber
sehr viel mehr mit humaner Allgemeinbildung im Sinne Humboldts
zu tun!
V Zukunftsorientierung:
Fortsetzung der Aufklärung
Folgender Satz
Kants kann unsere Enttäuschung über den Abbruch der
Umwälzung und die überstürzte Vereinigung verständlich
machen und läßt sie zugleich als eigentlich unbegründet
erscheinen: "Durch eine Revolution wird vielleicht wohl
ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger
oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre
Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile
werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen
großen Haufens dienen." (S. 216 f.) Wir wollten die
notwendig langsamere Aufklärung schnell, daher waren wir
enttäuscht. Wir hätten jedoch wissen können, daß
eine Revolution diese "Reform der Denkungsart" gar
nicht wirklich zustandebringen kann, darum hätten wir nicht
enttäuscht zu sein brauchen! Die Revolution konnte nur die
äußeren Fesseln von vierzig Jahren abschütteln,
die inneren aber werden wir noch lange mit uns herumtragen, selbst
wenn wir wirtschaftlich auf die Beine gekommen sind. Ich teile
sogar die Befürchtung mancher Autoren, daß die politische
Kultur der Bundesrepublik durch uns nicht aufgefrischt wird,
sondern eher traditionell deutsche Züge annehmen wird.
Zweitens bleibt Mündigkeit uns wie Euch aufgegeben, weil
die repräsentative Demokratie, die wir nun gemeinsam praktizieren,
ja keineswegs der politischen Weisheit letzter Schluß ist,
obwohl sie von den Konservativen als solcher angesehen wird.
Meine Option für die indirekte Demokratie sollte nicht mißverstanden
werden, ihre Gefahren sind mir sehr wohl bewußt: Die Entfernung
der Volksvertreter vom Volk, der Umschlag von Freiheit in Willkür,
von indirekter Herrschaft des Volkes in indirekte, raffinierte
Herrschaft über das Volk, der Bedeutungsschwund der
Legislative gegenüber der Exekutive mit ihrer Bürokratie
usw. Demgegenüber hat politische Bildung natürlich
Gruppenarbeit bzw. neue soziale Bewegungen zu fördern, womöglich
sogar anzustiften.
Drittens hat Mündigkeit weltweit in der Informationsgesellschaft
zwar ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten erhalten, zugleich
ist sie aber in ganz neuer Weise gefährdet. Daß die
Bilderkonsumtion des Fernsehens nicht gerade die Mündigkeit
fördert, ist bekannt. In gewisser Hinsicht bestand die Umwälzung,
die wir erlebt haben, auch darin, daß die bunte Welt des
Fernsehens eine graue Theorie verdrängt hat; daß sie
aber nicht zugleich das lebendige Denken verdrängt, dafür
hat politische Bildung zu sorgen! Gewiß ist das Fernsehen
nicht so langweilig wie die alte Ideologie, aber informiert es
uns besser? Beschönigt es nicht in anderer Weise auch die
harten Tatsachen? Führt es nicht auch zu einer nunmehr modisch-formelhaften
Kommunikation und einer nur scheinbaren, weil passiven Partizipation?
Demgegenüber ist politische Bildung ein unerläßliches
Korrektiv (ich folge hier Ulrich Sarcinelli):
Gegenüber der Gegenwartsfixierung, ja Aktualitätsversessenheit
des Fernsehens muß sie Erinnerung und Weitblick
lehren, geschichtliche Zusammenhänge deutlich machen,
ja geradezu kontemplativ sein.
Mit dem Aktualismus des Fernsehens hängt es zusammen, daß
es uns mit immer neuen Informationen konfrontiert, die immer
neu unverarbeitet bleiben, und so eine Informationsschwemme erzeugt,
die uns gänzlich die Orientierung raubt. Dem hätte
politische Bildung eine bewußte Sparsamkeit in der Information
entgegenzusetzen (so furchtbar neu ist das jeweils Neueste ja
meistens gar nicht) und so die Erarbeitung von Maßstäben,
Kategorien, Urteilsfähigkeit zu ermöglichen.
Angesichts einer immer komplexer werdenden Realität bleibt
dem Fernsehen wohl meist nichts anderes übrig, als sie in
einfache Bilder zu fassen und spannende Schauspiele zu inszenieren,
die dann für die Wirklichkeit genommen werden. Politische
Aufklärung muß diese Fernsehwelt natürlich entzaubern,
diese Mythen - theologisch gesagt - entmythologisieren,
wenn wir uns nicht zu Tode amüsieren wollen. Und sie kann
das, weil ihr Medium seit alters her das deutliche Wort,
die klare Sprache ist, nicht das bunte Bild und die vieldeutige
Geschichte.
Politische Bildung sollte statt der scheinbaren, weil einseitigen
"Kommunikation", die das Fernsehen stiftet, zu echter,
weil wechselseitiger Kommunikation anregen. Sie könnte
so von der scheinbaren, bloß symbolischen Partizipation
der Bürger an den politischen Prozessen zu wirklicher Partizipation
hinführen.
Viertens sollten wir nicht vergessen, was wir von Marx nun immerhin
gelernt haben: Die Masse der Menschheit lebt in einem Grad von
sozialem Elend oder Abstumpfung durch Arbeit, der es dem einzelnen
unmöglich macht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.
Mündiges Handeln besteht daher für uns hauptsächlich
in der Verbesserung der Bedingungen von Mündigkeit
für alle. Das Hauptproblem ist in dieser Hinsicht bei uns
die Arbeitslosigkeit, zumal die der Jugend. Entgegen einer
verbreiteten Meinung spielen Arbeit und Beruf bei der Identitätsfindung
Jugendlicher nach wie vor eine ausschlaggebende Rolle. (Nach
einer Studie von Göttinger Soziologen sind nur 16% der Jugendlichen
primär freizeitorientiert und stehen der Arbeit distanziert
gegenüber.)
Man kann daran ermessen, was es bedeutet, keinen Ausbildungsplatz
zu bekommen. Ist man aber ausgebildet und bekommt nun keinen
Arbeitsplatz, so führt das je länger desto mehr zu
Dequalifikation. Es ist erwiesen, daß bei der Wiedereingliederung
in den Arbeitsprozeß der Abstieg bei weitem häufiger
ist als ein Aufstieg. Und es ist ebenfalls erwiesen, daß
eine schlechte Ausgangsposition beim Eintritt in den Arbeitsprozeß
meist im ganzen Berufsleben nicht wieder wettgemacht werden kann!
(Hermanns, 23 f.)
Längere Arbeitslosigkeit führt außerdem zum Schwinden
des Selbstwertgefühls, zur Identitätskrise einerseits
und dem Verlust sozialer Kontakte, ja zu sozialer Isolierung
andererseits.
Nimmt man das alles zusammen, so wird klar, daß die Bedingungen
von Mündigkeit und damit die Chancen politischer Bildung
durch die Arbeitslosigkeit geradezu untergraben werden.
Man weiß, wozu das Anfang der dreißiger Jahre dieses
Jahrhunderts geführt hat!
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Der Autor
Dr. Edelbert
Richter, geb. 1943 in Chemnitz, verheiratet, zwei Töchter,
wohnt in Weimar.
1961 "wegen ungenügender politischer Reife" vom
Philosophiestudium zur Bewährung in die Produktion geschickt,
zwei Jahre Kranführer im VEB Papiermaschinenwerke Freiberg,
1963 bis 68 Theologiestudium in Halle, anschließend Assistent
am Katechetischen Oberseminar in Naumburg und Vikar in der Sächsischen
Landeskirche, 1974 bis 79 Pfarrer in Naumburg und Stößen,
1976 Abschluß einer Dissertation über den Zusammenhang
von Religions-, Philosophie- und Ökonomiekritik bei Marx
(innerkirchlich, da an staatlicher Universität nicht möglich),
1977 bis 87 Studentenpfarrer in Naumburg, 1987 bis 90 Dozent
für systematische Theologie und Philosophie an der Predigerschule
Erfurt und Pfarrer in Erfurt, Mitbegründer des "Demokratischen
Aufbruch", im Januar 1990 Eintritt in die SPD, Mitglied
der letzten Volkskammer der DDR, jetzt Abgeordneter im Europäischen
Parlament
Veröffentlichungen:
- bis 1989 in Zeitschriften der Bundesrepublik und in Untergrundpublikationen
der DDR.
- Zweierlei Land - Eine Lektion. Konsequenzen aus der deutschen
Misere, Berlin 1989.
- Christentum und Demokratie in Deutschland. Beiträge zur
geistigen Vorbereitung der Wende in der DDR, Leipzig und Weimar
1991.
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