Arthur Pfeifer
Briefe aus Waldheim 1960–1976


Herausgegeben von Sieglinde und Fritz Mierau

416 Seiten / Format 205 x 125 mm
Französische Broschur
Ê 22
ISBN 3-931337-41-3

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Vor wenigen Jahren entdeckt, erwiesen sich die nahezu 3000 Briefe des sächsischen Kunsterziehers Arthur Pfeifer, die er aus Waldheim an seine Leipziger Freundin, die Lehrerin Gertrud Schade, schrieb, sofort als ein menschliches Zeugnis von einzigartigem Rang. Wie hier ein Siebzig-, Achtzig-, endlich Neunzigjähriger in der liebenden Sorge um die geistige Erweckung und Entfaltung seiner Freundin und ihrer jungen Töchter alle seine Kräfte einsetzte, um die Familie vor der verödenden Bildungspraxis der DDR zu schützen, das blieb über den unmittelbaren Anlaß, über Zeit und Region hinaus bewegend und beherzigenswert.
Mit Humor, Selbstironie und sächsischer Gemütsstärke sehen wir den Waldheimer Briefschreiber gegen Dummheit, Borniertheit und Banausentum zu Felde ziehen. Und so erhebt sich aus den Berichten vom Waldheimer Alltag und den Glossen zur deutschen und internationalen Lage, aus Gedanken zur Lektüre und Ratschlägen für die Erziehung, aus Selbstbesinnung und Rückblick auf ein lebenslanges Lehrerdasein das Bild eines Weisheitsfreundes und Lebenslehrers.
Die Zeit der Briefe sind die dramatischen Jahre der gewaltsamen Stabilisierung der DDR: vom Mauerbau 1961 über die militärische Unterdrückung der Prager Reformversuche 1968, die zeigte, was auf politischen Ungehorsam stand, bis zur offenen Spaltung der Gesellschaft durch die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976.
Wie verhielt man sich in einem Staat, der dem Einzelnen den Zugang zur Welt, zur Welt der Gedanken, zur Welt der Bücher beschränkte, wenn nicht verwehrte? Wohl sehen wir den Schreiber der Briefe darauf bedacht, den Mängeln und Zwängen eines zunehmend reglementierten Alltags wirksam zu begegnen. Worauf es ihm jedoch vor allem ankam, war, sich nicht mit dem Überleben zu begnügen, gar in innerem Aufruhr sich zu verzehren, sondern angesichts aller Nötigung entschlossen und kräftig für die Stärkung der Person zu sorgen. Unter dem 26. August 1960 findet sich seine oberste Maxime: "Wenn die Gemeinschaft gedeihen soll, muß erst der Einzelne für sich allein sich zu einem Wertfaktor entwickeln.“

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Schwer zu sagen, ob der Umstand, dem wir die Fülle und Lebendigkeit der Briefe verdanken, ein glücklicher Zufall genannt werden darf.
Der Sechsundsiebzigjährige sieht sich in einem Moment von der ihm am nächsten stehenden geistigen Partnerin getrennt, als er das Schwinden seiner Kräfte erleben muß. Die Familie Schade zieht 1960 von Waldheim nach Leipzig. Was seit über zehn Jahren im vertrauten Gespräch mit der 33 Jahre Jüngeren bewegt worden war, geriet nun in die Briefe, die in den ersten Jahren täglich, vielfach zweimal am Tage zwischen Waldheim und Leipzig gewechselt wurden. Ohne die Trennung hätte es die Briefe nicht gegeben, die wir nun als Arthur Pfeifers Bekenntnisse und Vermächtnis lesen.
Die Sorge um die junge Lehrerin und ihre beiden Töchter hatte Arthur Pfeifers Leben seit 1947, da er ihr in einem kritischen Augenblick als Leiter der Waldheimer Volksschule geholfen hatte, ihre Gesundheit wiederherzustellen, immer stärker ausgefüllt. Noch sechs Jahre nach dem Umzug nach Leipzig spürt man den Schmerz der Trennung, wenn er am 22. September 1966 nach einer verzweifelten Klage über die geistige Verwüstung Deutschlands bedauernd hinzusetzt: "Entschuldige dieses – ich hab hier niemand, mit dem ich darüber reden kann.“

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Drastisch wie er war, hüllte Arthur Pfeifer den Schmerz der Trennung in das Gewand rücksichtsloser Selbstbezichtigung. Was liege schon an ihm, dem "hinfälligen Greis“, dem "wackligen Gestell“ und "alten Knacker“, dem "leergeräumten Steinbruch“, der "klapprigen Ruine“! Sei er nicht "überständig alt geworden“, eine "unerwünschte Versteinerung aus vergangener Epoche“, von "Altersblödsinn“ heimgesucht, gleichsam der "geborene Nichtsnutz“? Auch an dem Lehrer Pfeifer läßt er kein gutes Haar. Er wird nicht müde, sich einen "verkalkten Kunsterzieher“ und "armen Teufel aus der Provinz“ zu nennen, einen "minderen Magister“ und "pedantischen Schulmeister“, der diese ewigen "Lehrbriefe“ aus Waldheim schreibt.
Bis in das übermütig-wehmütige Spiel mit den Bedeutungen des Wortes "aufgeben“, das zum einen sein tägliches Postgeschäft, zum anderen sein bedrohtes seelisches Gleichgewicht meinte, wurde die Klage darüber laut, von der Freundin getrennt zu sein. Am 18. Oktober 1960 fügt er sich in das Unabänderliche, wenn er zu einer aufzugebenden Sendung nach Leipzig schreibt: "Am liebsten schlüpfte ich selber in den großen Briefumschlag – aber wie soll ich mich dann aufgeben. (Eigentlich hab ich mich schon aufgegeben.)“

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Sicher darf man davon ausgehen, daß das so raffinierte wie riskante Lamento nicht nur Abwehrzauber gegen die wirklichen Beschwerden des Alters war, sondern in gleichem Maße – und aus dem Zauber erwachsend – Redefigur, Stilmittel der Altersepistel, Baustein für einen "spritzigen Brief“, der dem Schreiber bis zuletzt vorschwebte. Das groß entfaltete Bild der Hinfälligkeit machte es ihm möglich, um so eindrucksvoller den Alltag eines Virtuosen zu schildern, der eine beklagenswert seltene Kunst ausübte: die Kunst der Menschenbehandlung. Da war Arthur Pfeifer in seinem Element, da gab er sich die passenderen Namen. Prinzen- oder Prinzessinnenerzieher in der Goethezeit gewesen zu sein, hat er sich gut vorstellen können. Nichts brachte den Lehrer so in Rage wie die Schreckensvision, die Erziehung geriete vollends in die Hände des "Erziehungsingenieurs“, der die Zöglinge mit der "Memorierramme“ traktiert. Am Fehlen des Erlebens scheitere die Schule. "Man sollte immer daran denken“, mahnt er am 4. November 1963, "seelische Glanzlichter in die Gemüter zu setzen.“

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Briefe aus Waldheim. Sie kamen nicht nur aus Waldheim, sie handelten von Waldheim, vom Dasein eines Waldheimers, und Waldheim sorgte für die besondere Leuchtkraft der "Glanzlichter“, die Arthur Pfeifer in die Gemüter zu setzen bestrebt war.
In Dresden geboren und auf das Lehrerseminar gegangen, war Arthur Pfeifer – nach kurzem Studium in Leipzig – 1908 Bürger von Waldheim geworden und hat die alte sächsische Stadt an der Zschopau nur unter Zwang während der national-sozialistischen Herrschaft vorübergehend verlassen. Bis zu seinem Tod 1976 wohnte er unterhalb des Wachbergturms am oberen Ende der Turmstraße.
Waldheim wurde Arthur Pfeifers Schicksal.
Hier hat er seine Familie gegründet, mit seiner Frau zwei Kinder großgezogen, sein Lehramt ausgeübt und 1914 das Buch "Technik der geistigen Arbeit“ verfaßt. Hier hat der erfahrene Erzieher zur Zeit der Weimarer Republik an der sächsischen Schulreform mitgewirkt und zwölf Jahre lang die städtische Volkshochschule geleitet. Von Waldheim aus brach er nach Holland, Frankreich, England, Österreich, in die Schweiz und die Tschechoslowakei auf, um mit der Autorität des streitbaren Pazifisten und der Kompetenz des Sprachkundigen an den Debatten des Internationalen Versöhnungsbundes teilzunehmen. Aus Waldheim wurde er von den Nazis vertrieben und nach Zschopau, später Oederan versetzt. Nach Waldheim kehrte Arthur Pfeifer im Mai 1945 zurück, wo ihm 1946 die Leitung der Volksschule übertragen wurde.
So gab es eigentlich keinen Waldheimer, der Arthur Pfeifer nicht als Schüler, Kollege, Freund oder Gesprächspartner begegnet wäre. Er kannte die Lehrer, Ärzte, Unternehmer und Gewerbetreibenden von Waldheim. Er kannte den Buchhändler, den Pfarrer, den Kantor, den Friedhofsgärtner. Auch kümmerte er sich um das geistige Erbe Waldheims, vor allem um die Waldheimer Arbeiten Georg Kolbes, des großen deutschen Bildhauers, der aus der Stadt stammte und dem man hier neuestens wieder die gebührende Beachtung schenkt.
In einem weiteren Kreise kamen die Freunde aus der Zschopauer Verbannungszeit hinzu, Kurt Schumann und Helmut Seidel, die er regelmäßig besuchte, sowie die Goethe-Freunde, mit denen er über die Weimarer Goethe-Gesellschaft verbunden war. Und in einem weitesten Zirkel verkehrte Arthur Pfeifer mit den dankbar verehrten Lehrern und Anregern, mit dem Ethiker Friedrich Wilhelm Foerster und dessen Bruder, dem Gartenphilosophen Karl Foerster, mit Hermann Hesse und den bewährten Mitstreitern aus dem Internationalen Versöhnungsbund, der Lehrerin Gerda Baumann und dem Pfarrer Alfred Dedo Möller.
Jedem stand es frei, geistige Freude und geistigen Gewinn aus dem Verkehr mit dem Mann von der Turmstraße zu ziehen. Arthur Pfeifer besaß die seltene Gabe, zwischen dem Heimatlich-Regionalen und dem Globalen, zwischen Waldheim und der Welt zu vermitteln. Scherzhaft nimmt er es sogar mit dem Kosmos auf, wenn er im Brief vom 17. September 1976 schreibt: "Im ,All‘ bin ich auch in meiner Stube.“

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Charme und lebendige Dauer verdanken Arthur Pfeifers Briefe dieser Kunst, zwischen Waldheim und der Welt zu vermitteln. Kein Ereignis war zu gering, als daß es nicht in seinen weitreichenden Folgen beobachtet werden konnte und es war gerade das Hauswirtschaftlich-Praktische, was den Philosophen herausforderte.
Viele Male entwarf er in Gedanken Bücher, meist Bilderbücher, die im Waldheimer Alltag die Welt aufscheinen lassen würden. "Weltgarten am Fenster“ könnte der Bericht von einer botanischen Weltreise heißen, in dem alle als Zimmerpflanzen gepflegten Gewächse in ihrer heutigen Gärtnerzüchtung und an ihrem Heimatort abgebildet würden, etwa die Usambaraveilchen, die in Ostafrika so üppig wachsen wie in Deutschland die Buschwindröschen. Denkbar wäre auch, in dieser Art die "Entwicklung einer Krokuspflanze“, das Phänomen der optischen Täuschungen, das Sonnenlicht oder den verborgenen Zusammenhang von Kristallbildung und Komposition von Musik zu behandeln. Einmal fotografierte Arthur Pfeifer die Aufzucht junger Amseln, deren Eltern sich an seinem Fenster eingenistet hatten, und daraus entstand tatsächlich ein Büchlein für seine Enkel in Nürnberg.
Ging es hier vom Kleinen ins Große, so galt umgekehrt dasselbe. Noch das Entfernteste sah er in die Nähe dringen und die alltäglichen Entschlüsse und Geschäfte prägen. "Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?“, pflegte Arthur Pfeifer mit Faust zu fragen. Er spürte diesen Druck im Seelischen, Wirtschaftlichen und Politischen ebenso wie im Atmosphärischen.
Wer sich an Arthur Pfeifer um Auskunft wandte, mußte gewärtigen, die zur Rede stehende Sache gleich viel grundsätzlicher angepackt zu finden, als er selber das vielleicht gewollt hatte. Atombombenversuche, "Prager Frühling“, Mondlandung, Computertechnik, Europaunion oder Vietnamkrieg – immer sah Arthur Pfeifer Aspekte, die zu seiner Zeit kaum ins Bewußtsein drangen. Wenn er seine Ansichten gern als die Privatmeinungen eines kleinen Mannes aus der sächsischen Provinz bezeichnete, dann zeigt sich heute, wie genau der empfindsame Mann auf die leisesten Schwankungen im Gleichgewicht der Welt reagierte.

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Als Photograph, Buchbinder, Blumenmaler, Mikroskopierer, Kristallograph und Kalligraph in vielerlei Handwerk gut bewandert, schätzte Arthur Pfeifer die Segnungen der Technik viel zu sehr, als daß er etwa einer Technikfeindlichkeit das Wort hätte reden können. Was ihn beunruhigte und quälte, war der gefährliche Irrglaube, technische Überlegenheit führe mit der Zeit auch zu größerer Freiheit der Person. Das Gegenteil sei der Fall.
Geblendet vom Glanz der Erfindungen, verfalle der Mensch leicht einem versklavenden Neuerungswahn, der sich am verhängnisvollsten im Temporausch äußere.
Wie ein roter Faden zieht sich die Mahnung durch diese Briefe: Haltet inne! Gemach! Besinnt euch! Seid unzeitgemäß! Gönnt euch Muße! Spielt Haydn und lest Stifter! Haltet euch an das Schöne! Bildet euch in der Stille!
Diese Botschaft zu bekräftigen ist auch der tiefste Sinn der erlesenen Zitate, mit denen der Schreiber seine Briefe in so reichem Maße versieht. In Zeiten, da der Einzelne sich über Gebühr bedrängt und eingezwängt findet, geben sie den Blick frei auf die unerschöpflichen Möglichkeiten persönlicher Entfaltung in Stille und Verborgenheit.
",Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst‘, sagt Goethe, der davon etwas verstand“, schreibt der Siebenundsiebzigjährige seiner Freundin am 19. Juni 1961. "Das bedeutet also, daß zuviel Sturm das Leben selber bedroht und seinem eigentlichen Zwecke entfremdet, es soll genossen werden! Dir wird man da noch einige Lektionen erteilen müssen.“

Für die Lektüre der Briefe möge nun gelten, was Arthur Pfeifer in einer freilich heiklen Lage am 12. Dezember 1968 schrieb: "Ob einer, falls er meine Briefe durchleuchtet, erleuchtet ist, wird von ihm selber abhängen.“

Fritz Mierau


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