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160 Seiten /
Format 210 x 150 mm
Broschur
Ê 8,60
ISBN 3-931337-04-9
Inhalt
Einleitung
Arbeitshypothese / Methodisches / Engagement statt Trauer
1. Sozialismusdiskussion
vor der Wende
Die Krise wird öffentlich / letzte ideologische Offensive
/ Ersatzbühne Kirche / Dissidenten sind Konvertiten / subventionierter
Sozialismus / Argumente gegen die Produktionshetze / keine Antworten
mehr
2. Organisation
und Ökonomie in der Sackgasse
Abschied von der Gleichheit / Ordnung statt Interessenkonflikt
/ "nehmt den Reinhold" / Nachbesserungen / Entgrenzung
der Ökonomie / späte Einsichten, zu spät / Triebkraft
Mittelschicht / Gleichheit ist Ungleichheit ist Gleichheit
3. Sozialer
Wandel vor der Wende
Identitätsklau / Biographie aus dem Baukasten / individuelle
Havarien / Vermittlungsbedarf / Variante einer Krise
4. Soziales
Medium Religion
ausgerechnet die Protestanten / unter dem Dach der Kirchen
/ totale Ethik / getrübte Freude / Kirchenrecht ist Recht
/ Gesellschaft von unten
5. Befreiung
frei von der Kirche, an Religion gebunden / gewaltfrei, angstfrei,
herrschaftsfrei / die Freiheit, die alle meinen
6. Freiheit
und kapitalistischer Geist
die Freiheit wird konkret / außerökonomische Orientierungen
/ das Feld behalten / Pflichtverteidiger für Menschenrechte
/ arbeiten und akkumulieren / Rationalität gegen Dogmatik
7. Das zweite
Ende des Sozialismus
Umbruch im Aufbruch / "links" contra SED / erster
Irrtum: Angst vor der Macht / zweiter Irrtum: Deutschland verdrängt
/ die Rechte versteht nicht, was die Linke denkt / das Volk der
große Dummel
8. Noch einmal
die Protestanten: Aufklärung des Kapitalismus
die führende Rolle der Parteien / Totem / sittliche
Rekonstruktion der Politik / eine Konfession, zwei Lager / Ahnung
vom Ende des Kapitalismus / anhalten damit es weitergeht
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Am Anfang des
Versuches, die Ereignisse der Umwälzung in der DDR bis zu
deren Aufhebung zu analysieren, um die Vorgänge zu verstehen
und eine Gesamtschau zu ermöglichen, die Bewertungen zuläßt,
wird dem Leser eine Hypothese angeboten. Sie ist ein theoretischer
Brocken, der im Fortgang der Ausführungen zerkleinert und
gewürzt werden soll. Um der Genießbarkeit der Theorie
willen, soll diese mit Fakten unterlegt und in der Nachzeichnung
einzelner Entwicklungsschritte belegt werden. Ob diese Mahlzeit
den Geschmack trifft, hängt teils von der Zubereitung ab
und teils vom Appetit. Auf letzteres wird hier gebaut, weil sich
während und besonders nach den Ereignissen ein kräftiges
Theoriebedürfnis eingestellt hat. Anfang und Fortgang der
Wende haben die Bürger des Landes und Außenstehende
vollkommen überrascht. Monate hindurch hielten Beteiligte
und Unbeteiligte den Atem an. Das ist vorüber. Trotz vieler
Unwägbarkeiten zukünftiger Entwicklungen
besinnen sich die Nachdenklichen im Lande und fragen sich nach
Gründen und Ursachen der erstaunlichen Wendung. Jetzt ist
Zeit für Erklärungen und Deutungen.
Und es ist Zeit, nach dem Erbe der Revolution zu fragen. Das
soll hier versucht werden.
Arbeitshypothese
Die DDR-Revolution
war eine Revolution neuen Typus. Die Revolutionäre waren
die handelnden Subjekte eines anstehenden globalen, politischen
Paradigmenwechsels, der weltweit die Menschen inden nächsten
Jahrzehnten beschäftigen wird. So erhielt die "DDR"
in ihrem letzten Jahr die Bedeutung, die sie als miserabler kleiner
Staat trotz exponierter Stellung an den Blockgrenzen nie erlangen
konnte. Diese Bedeutung haben ausgerechnet jene der DDR verschafft,
die dieses Staatsgebilde ungewollt abgeschafft haben. Für
die Mehrheit der Revolutionäre, vorwiegend Protestanten,
sollte die DDR das Experimentierfeld des Neuen sein. Dies erwies
sich als Täuschung. Diese Täuschung war zwingend, weil
sich die globale Dimension der Probleme nicht in die provinzielle
Enge des Mauerstaates pressen ließ. So er scheint es fast
logisch, daß die DDR-Revolution zum großen Wahlkampfcoup
der westdeutschen CDU degeneriert ist. Das heißt aber nicht,
daß die Inhalte und Formen der Geschehnisse damit zu Rudimenten
gestriger Tagespolitik verkümmert sind. Die Inhalte, die
konkrete und spezifische Fassung der globalen Überlebensfrage,
und die Formen, die mit Sinn und Religion gestützten Veränderungsimpulse,
haben gerade erst zu wirken begonnen. Sie werden in Gestalt einer
neuen, radikalen politischen Vernunft die sich gegenwärtig
etablierenden Verhältnisse aufklären und Instrumente
ihrer Revolutionierung sein. Die DDR-Revolution war insofern
nur ein Auftakt anstehender politisch-sozialer und ökonomisch-ökologischer
Veränderungen. Sie beendete das System des real-existierenden
Sozialismus und wies zugleich über das real-existierende
gesellschaftliche und politische System des Westens hinaus. Sie
kündigte die notwendige Umwälzung der industriegesellschaftlichen
Lebensweisen und Organisationsformen an. Damit war sie nicht
das Ende irgendeiner Entwicklung, sondern eine "vorletzte"
Revolution.
Methodisches
Mit diesen Thesen
ist ein weiter Bogen gespannt, der in der Analyse und in der
Bewertung der Vorgänge auch einen methodischen Rahmen bietet.
Dieser bewährt sich, wenn er zweierlei leistet:
1. Der Umbruch in der DDR muß im Kontext weltpolitischer
Prozesse erklärbar sein. Dazu gehören die Entwicklungstendenzen
der Weltwirtschaft und der Umbau der übrigen osteuropäischen,
ehemalig sozialistischen Länder.
2. Die historischen Einzelereignisse, das Handeln von Personen
und Gruppen, und die regionalen Phänomene, die inneren Faktoren
und Vektoren der Entwicklung der DDR, müssen sich in ein
Verhältnis bringen und in die Gesamtbewegung einordnen lassen.
Es soll vermieden werden, die Veränderungen in der DDR lediglich
historisch aufzulisten, wie das in jüngster Zeit in zahlreichen
Veröffentlichungen zum Thema geschieht. Dies mag bisweilen
effektvoll und spannungsreich sein, erliegt aber meist der kurzschlüssigen
Theorie nach der der Umbruch als Triumph des westlichen, politischen
und ökonomischen Liberalismus über den totalitären
Sozialismus begriffen wird. Danach hat die DDR-Gesellschaft nun
Anschluß an eine angenommene Höchstentwicklung demokratischer
Gesellschaftsverfassung gefunden. Abgesehen von der Unerträglichkeit
solcher moraliner Schwarz-Weiß-Malerei stimmt das nur in
der Perspektive reduktionistischer Betrachtung. Ihr liegt ein
Gesellschaftsbegriff zu Grunde, der Veränderung als Kampf,
Niederlage oder Sieg, konkurrierender Systeme, Institutionen
oder politisch-ökonomischer Konzepte bewertet. In Veränderungsprozessen
bleibt auch ein überlegenes oder "siegreiches"
System nicht das, was es war. Den Ereignissen ist auch nicht
beizukommen, wenn nur wenige oder gar ein Aspekt hervorgehoben
werden. So darf die DDR-Geschichte nicht mit der Geschichte der
SED, mit dem Aufstieg und Fall dieser ehemals staatstragenden
Institution, identifiziert werden. Die Vorgänge würden
ebenfalls verzeichnet, überdehnte man einzelne Widersprüche,
wie den von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit
in der DDR.
Nur Politiker haben leider das Privileg, zum Zwecke des Popularitätsgewinns
zu vereinfachen. Einer der berühmtesten und berüchtigtsten
Politikersprüche zur Aufhebung des Sozialismus war: "Marx
ist tot und Jesus lebt." In der Politik hat sich wohl oft
die Abrechnung mit dem Gegner auf eine falsche Verrechnung gestützt.
Bedauerlicherweise hat diese Art der Verrechnung auch in vielen
wissenschaftlichen Arbeiten, selbst auf hohem Niveau, um sich
gegriffen. Gegen eine solche Verrechnung will die Behauptung
einer vorletzten Revolution, die in der DDR stattgefunden hat,
provozieren und den Prozeßcharakter betonen. Das schließt
die Veränderungspotentiale mit ein, die auf westliche Gesellschaften,
insbesondere das vereinigte Deutschland, wirken.
Eine weitere methodische Voraussetzung der Analyse erstreckt
sich auf die Entmythisierung aller verwendeten Begriffe. Mit
dem Sozialismus sind auch dessen Formationslehren und Revolutionstheorien
gescheitert. Nun hat die Geschichte zwar nicht alle kritischen
und analytischen Erkenntnisse von Marx widerlegt. Aber in ihrer
Gleichgültigkeit hat sie die Metaphysik der Marxisten hinter
sich gelassen. Das "letzte Gefecht" der Kommunisten
fällt aus. Die Kommunisten hatten versäumt, es rechtzeitig
in den Himmel zu verlegen. Dieser Platz war besetzt. Doch war
der Umsturz auch nicht das letzte Gefecht des westlichen Liberalismus.
So wird die marxistische Geschichtsmetaphysik kurzerhand um 360
Grad gewendet, wenn der heutige Übergang zu einer modernen
bürgerlichen Gesellschaft ("civil society") als
ein wahrhafter historischer Fortschritt interpretiert" wird.
Die Geschichte ist sich selbst, der Wahrheit und dem Fortschritt
gegenüber gleichgültig. Sie hat nur diese Freiheit.
Sie trägt in sich keine Legitimation, die aus der Natur,
aus irgendwelchen Gesetzen oder sonst irgendwie abgeleitet werden
können. Kapitalismus oder Sozialismus sind keine Wesenheiten.
Sie werden deswegen lediglich als Organisations- und Bewegungsformen
von Gesellschaften und der in ihr agierenden Interessen behandelt.
Ehrlicherweise muß eingeräumt werden, daß auch
die sauberste Methodik nicht ohne Urteile auskommt. Diese Urteile
wachsen aber aus Traditionen und fordern immer neue Entscheidungen
heraus. Wer in diesen Texten nach Urteilen sucht, hat es leicht.
Hier gibt es kein Engagement für das, was Sozialismus war
und Kapitalismus ist.
Engagement
statt Trauer
Wenn auch gebrochen,
spiegelt sich die soziologische Analyse auf der Ebene der subjektiven
Erfahrungen. Auch hier wird gerechnet. Der Gewinn scheint für
viele DDR-Bürger auf der Hand zu liegen: Freiheit und DM
als deren ökonomischer Materialisation. Was in und mit der
DDR verloren wird, läßt sich immer nur schwer rationalisieren.
Noch stehen viele Menschen unter dem Eindruck ihrer Befreiung.
Das macht sie teilweise immun gegen überzogene Ausverkaufideologien.
Die mehr oder weniger berechtigten sozialen Ängste werden
vorläufig durch die Neugier auf ein Leben mit relativ sicheren
individuellen Menschenrechten und der bloßen Aussicht auf
Verbesserungen zu nachrangigen Problemen. So schmerzt die Mehrheit
kaum der Verlust einer nur mühsam zu definierenden DDR-Identität.
Vielmehr fühlen sich die Individuen durch eine mögliche
Entwertung von Erfahrungen, die sich um vier Jahrzehnte Lebensspanne
drehen, bedroht. Diese sind gewiß flüchtig, wie die
Erinnerung an die erste Liebe oder an den ersten Ehekrach. Aber
ihre Spuren zeichnen Geist und Seele, prägen Verhalten und
Lernfähigkeit. Davon läuft in den veränderten
Verhältnissen jetzt vieles ins Leere. Potenzen und Kompetenzen
der Individuen werden nicht mehr gebraucht. In der alten DDR-Gesellschaft
gab es unter den Bürgern eine kaum reflektierte Solidarität,
die angesichts übermächtiger Machtstrukturen und ökonomischer
Engpässe zur Selbstbehauptung beitrug. Sie war Teil der
geheimen Privatisierung. Damit ist es jetzt vorbei. Unter dem
Einfluß der westlichen Lebenswelt entsolidarisierte sich
die DDR-Gesellschaft rasch. So mischt sich in das Hochgefühl
der Befreiung Trauer.
Eine der authentischsten und auch sprachlich schönsten Textdokumente
zu diesem Phänomen ist ein Essay von Konrad Weiß,
der selbst in der Revolution engagiert war. Darin heißt
es: "Ich habe meine Heimat verloren: dieses graue, enge,
häßliche Land. Dieses schöne Land... In diesem
Land bin ich aufgewachsen, es war das Land meiner ersten Liebe,
das Land meiner Träume, das Land meines Zorns. Es war das
Land meiner Kinder, und es sollte das Land meiner ungeborenen
Enkel sein. Nun wird es mir unter den Füßen weggezogen.
Meine Hoffnung verdorrt, und meine Träume sterben. Ich werde
zum Emigranten gemacht im eigenen Land.
Ich wollte ein Mutterland machen aus meinem Land: In einem Mutterland
braucht niemand Waffen. In einem Mutterland ist Raum für
Tapferkeit und Freundlichkeit und Wärme. In einem Mutterland
ist Platz für die Schwachen und Kleinen. Ein Mutterland
steht allen offen, auch den fernen Menschenkindern. Doch nun
stürmt ein rauhes, grelles, hemdsärmliges Vaterland
auf uns ein. Es läßt uns keinen Ausweg, wir können
uns seiner nicht erwehren."
Außenstehende denunzieren diese Trauer von DDR-Bürgern,
besonders von Intellektuellen und Künstlern, als den Jammer
um den Verlust an Privilegien oder auch nur an Bedeutung. Vollkommen
abwegig ist es, wenn dann auch noch die Revolutionäre, unter
ihnen unzählige Intellektuelle, mit der von ihnen gerade
erst beseitigten SED-Herrschaft in einen Topf geworfen werden.
So kann es heißen: "Hier (in der DDR - d. Verf.) vollzog
sich ein Aufstand von unten ohne die Intellektuellen, ja geradezu
gegen die Intellektuellen"... die "die Unterdrückung
des Volkes noch über den Umbruch hinaus ermöglicht
haben." Solche Unterstellungen sind falsch und verfehlen
die Situation, die gewiß paradox ist. Es wird um eine Vergangenheit
getrauert die sich die DDR-Bürger nicht aussuchen konnten
und die stets mehr erlitten als genossen wurde. Hier markiert
sich ein Stück der Tragik, die menschlicher Geschichte innewohnt:
Der real-existierende Unsinn produzierte oft genug die falschen
Alternativen. Erträglich wird die Last der sich irrenden
Geschichte durch den Ausblick auf Visionen, auf die Hoffnung
von der Veränderung aller Zustände. Das kann zu einer
Flucht in eine Revolutionsromantik führen, die von der politisierten
Illusion lebt. Es kann aber dem Veränderungswillen eine
Orientierung vermitteln, die Trauer als Selbstmitleid nicht kennt,
sondern die Aufgaben sieht, die die Zeit stellt. Die Akteure
der ersten Stunde in der DDR-Umwälzung brachten eine solche
Orientierung mit. Sie können ihr auch jetzt treu bleiben.
Sie sind wohl die einzigen, die sich nicht wenden mußten.
Sie haben sich nicht aufgemacht, um mit und für den Westen
gegen den Osten zu marschieren. Ihnen ging es nicht um die Systemauseinandersetzung.
Ihr Paradigma politischen Handelns war die Überlebensfrage
der Menschheit. Diejenigen, die das Wesen der DDR-Revolution
lediglich in der Anpassung des Ostens an den Westen sehen, hätten
sich selbst dem realexistierenden Sozialismus noch beliebige
Zeit weiter angepaßt. Die Kraft und die Intention der DDR-Revolution
rührt aus dem Verlassen der alten Konfrontationslogik. Der
Sauerteig der Veränderung ist mit der Angleichung der beiden
deutschen Staaten nicht taub geworden. Er hat nun einen neuen
Nährboden gefunden.
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