gertrud kolmar

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Herausgegeben von Marion Brandt
176 Seiten / Format 220 x 145 mm
Französische Broschur, als Einband Holzdruck auf Seidenkokon von Ruth Tesmar
mit farbigen Abbildungen und Faksimiles
Vorzugsausgabe Auflage 50 Exemplare
Ê 66,50
ISBN 3-931337-28-6

 

Inhalt

Gertrud Kolmar
Gedichtzyklus Mein Kind
und eine Auswahl aus den Zyklen Das preußische Wappenbuch,
Weibliches Bildnis, Tierträume,
Das Wort der Stummen und Welten.
Das Bildnis Robespierres.
Möblierte Dame (mit Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe.
Briefe aus den Jahren 1938 und 1939
Silvia Schlenstedt: "Könnt' ich einen Zipfel dieser Welt erst
packen". Weltbeziehung in Gedichten Gertrud Kolmars
Yoko Yamaguchi: Tanz als poetologisches Modell in der Dichtung
Gertrud Kolmars
Monika Shafi: Gertrud Kolmars Stück "Möblierte Dame (mit
Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe"
Marion Brandt: Biographischer Abriß

Gertrud Kolmar gehört zu den herausragenden Dichterinnen dieses Jahrhunderts ­ und noch immer ist der nicht leicht zugängliche Reichtum ihres Werkes zu entdecken. Das zu ihren 100. Geburtstag vorgelegte Buch soll zu dieser Entdeckung beitragen ­ es will aber keinen umfassenden Überblick über das Werk und die Biographie Gertrud Kolmars geben. Vielmehr wird eine Les-Art vorgestellt, in der einige Aspekte des Werkes in den Mittelpunkt rücken und neue Akzente im Bild der Dichterin gesetzt werden. Diese spezifische Lektüre möchte zur Suche nach eigenen Berührungspunkten mit dem Kolmarschen Werk anregen.
Gegenstand dieses Buches sind im weitesten Sinne Orte und Räume, die für die Dichterin von Bedeutung waren. Dies sind Wohn- und Aufenthaltsorte wie Berlin und Finkenkrug, aus denen sie als deutsche Jüdin vertrieben wurde. Und es sind Räume, die sie sich als Zufluchtsorte suchte und schuf; literarische Motive und Bilder (Kind, Osten, Tanz, Tier) sowie Texte (die französische Lyrik der Moderne, hebräische Literatur). Zu diesen Heimatorten gehören auch Palästina und historische Umbruchzeiten wie die Französische Revolution.
Gertrud Kolmars Schaffen wird auf diese Weise vor allem als eine Suche nach Orten gezeigt, an denen die Sehnsucht nach einem anderen Leben Gestalt annimmt, als Einrichten eines "eigenen Zimmers", nach Virginia Woolf unabdingbar für die künstlerische Produktivität von Frauen. Es wird sichtbar, welche Alternativen und welchen Lebens-Mut die Dichterin Zerstörungen und Gewalt, schließlich der tödlichen Bedrohung als Jüdin in Deutschland entgegenstellte.
Das Buch versammelt unveröffentlichte, wenig bekannte und im Vergleich mit den Originaltyposkripten revidierte Texte. So sind die Gedichte des Zyklus "Mein Kind" zwar alle bekannt, doch wurden sie bisher noch nie in der von Gertrud Kolmar festgelegten Reihenfolge veröffentlicht. Um einen Eindruck vom Zusammenklang der Gedichte zu geben, wird der Zyklus hier in seiner Originalfassung wiedergegeben. Es wird dadurch sichtbar, daß Gertrud Kolmar ebenso wie in anderen Zyklen einen Spannungs- und Handlungsbogen aufbaut, die Spannung allmählich bis zu einem Höhepunkt steigert und dann mit Gedichten von Tod und Transzendenz abklingen läßt. Erzählt der Zyklus "Mein Kind" auch die Geschichte von der Beschwörung, Imaginierung und dem Verlust eines Kindes, so erschöpft er sich deshalb doch nicht im Biographischen. Vielmehr überrascht, in welch ungewohnte Zusammenhänge Gertrud Kolmar das Kind-Motiv stellt.
Für die Lektüre von Gertrud Kolmars Gedichten scheint das Verständnis dieser hinter den Bildern und Worten liegenden Struktur und lyrischen Handlung ebenso wichtig zu sein wie das "Aufschlüsseln" einzelner Bilder: Die Gedichte führen Wieder-Geburten, "Verwandlungen" eines Ich in seinem Welt-Erleben zwischen Erinnerung und Entwurf, Verlust und Sehnsucht, zwischen Trauer und Traum vor.
Aus den Zyklen "Das Preußische Wappenbuch", "Weibliches Bildnis", "Tierträume", "Das Wort der Stummen" und "Welten" wurden Gedichte ausgewählt und zusammengestellt, in denen Gertrud Kolmar die Beziehung zwischen Mensch und Tier gestaltet. In manchen Gedichten ist diese Beziehung innig und voll Liebe, in anderen wurde die Natur durch die Menschen rücksichtslos zerstört. Gertrud Kolmar, die nicht nur als deutsche Jüdin, auch als Dichterin und als eine Frau ohne Mann und Kind eine Außenseiterin war, spricht in mehreren Gedichten vom Fremdsein in der Stadt, vom Verlassen der Stadt oder von einem Leben an deren Peripherie. Die Stadt wird dabei zu einem Bild für die Zivilisation und deren "Wahnwerk", der Stadtrand zur Grenze dieser Zivilisation überhöht. Die Natur, "das Immerwiederkehrende, im Werden und Vergehen Beständige", mit "all dem Grünen, Blühenden, Wachsenden, Fruchttragenden" war für Gertrud Kolmar eine Gegenwelt zu dieser Zivilisation.
Zu den Gedichten und Texten wurden Briefe ausgewählt, die Gertrud Kolmar 1938 und 1939 an ihre in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde Wenzel schrieb. Als eines der wenigen autobiographischen Zeugnisse der Dichterin sind sie von unschätzbarem Wert. Sie geben Auskunft über ihr Leben in den Jahren der Entrechtung und über ihre Haltung des aktiven Duldens, mit der sie der Diskriminierung und Todesdrohung in Würde und ohne Selbstzerstörung begegnete. Außerdem geben die Briefe Einblicke in ihre Lektüre und Werkstatt und zeigen Gertrud Kolmar als eine Frau, die Urteilskraft und Mitgefühl in hohem Maße verband.
In seinem Nachwort zur ersten Ausgabe des "Lyrischen Werkes" von 1955 schrieb Jacob Picard zunächst, daß in Gertrud Kolmar "die größte lyrische Dichterin jüdischer Abstammung ermordet worden ist, die je gelebt hat". Auf Wunsch des Herausgebers Hermann Kasack änderte er dann das Wort "ermordet" in "getötet".
Daß Gertrud Kolmars Werk mit einem Mord abbricht, von dem wir uns nicht freisprechen können, hat seine Rezeption in Deutschland bis heute erschwert. Vielleicht gelingt es der vorliegenden Textauswahl, ihm neue Leser zu gewinnen.

Marion Brandt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ruth Tesmar, Ausschnitt aus dem Holzdruck auf Seidenkokon für den Einband


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