engpass zur freiheit

"aufzeichnungen der frau hilde huppert über ihre erlebnisse im nazi-todesland und ihre wundersame errettung aus bergen-belsen"

manuskriptbearbeitung von arnold zweig

 

 

Herausgegeben von Heidrun Loeper
160 Seiten / Format 210 x 150 mm
Broschur mit Abbildungen und Faksimiles
Ê 7,60
ISBN 3-931337-09-X

 

Inhalt

Arnold Zweig Vorwort. Vorrede nach 16 Monaten
Hilde Huppert Wir wurden vernichtet
Arnold Zweig Nachwort
Detlev Claussen Aufklärung in der Wüste

 

 

 

 

 

 

 

Es wird niemanden wundern, daß unser Lebensgefühl verändert worden ist, seitdem wir wissen, was am Ende der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Europäern geschehen konnte. Niemand ist mehr imstande, unbefangen spielenden kleinen Kindern auf der Straße zuzuschauen; mit unwiderstehlicher Kraft stellt sich die Gedankenverbindung ein, daß dergleichen Kinder, dreijährige, fünfjährige, auf grauenvolle Weise zu Tode gebracht worden sind, massenhaft, zehntausendfach. Niemand, der ein solches Schriftstück je gesehen hat, vergißt den Brief eines tschechisch-jüdischen Knaben, in welchem er seinen Vater fragt, ob es wahr sei, daß die Nazis Kinder wie ihn lebendig in den Kamin würfen.

Man wußte wohl, dieser Krieg werde den vollen Einsatz unserer Kulturgüter und kulturbildenden Kräfte in Anspruch nehmen. Auch daß er, wie jeder lange Krieg, unsere Kulturkruste abschleifen werde, sah man kommen. Was aber dann wirklich geschah - die Ermordung von etwa dreißig Millionen nichtkämpfenden Zivilisten, darunter ungefähr der dritte Teil der heute lebenden Juden, unter Umständen, wie sie in diesem Bericht ruhig geschildert werden, ohne Aufregung und Überfärbung, getragen von der Pflicht zur Zeugenschaft und zur Teilnahme an der Wiedergutmachung - das übersteigt alle Erwartungen und Vorstellungen, die man vom Abschleifen der Kulturkruste hegen konnte. Daß man das deutsche Volk, welches wir so gut zu kennen glaubten, dieses geduldige, intelligente und unrevolutionäre Volk, welches nie einen Monarchen gewaltsam ums Leben gebracht hat, zum Massenwerkzeug solcher Massenbestialität hinabwirtschaften konnte, wir nahmen es kopfschüttelnd zur Kenntnis.

Aber wir glaubten an die Belehrbarkeit des Menschen, an den Sinn, den er von geschichtlichen Erlebnissen ablas. Wir glaubten auch, trotz des Unbehagens in der Kultur, über welches uns Sigmund Freud belehrt hatte, sei in unserer ambivalenten Natur auch eine leidenschaftliche Liebe zu ebendieser Kultur vorherrschend; sie werde imstande sein, die Wiederholung, ja die Steigerung des Lehrganges überflüssig zu machen, den unsere Generation durch den ersten Weltkrieg erlebt hatte. Aber wir hatten die Rechnung offenbar ohne den dem Menschen innewohnenden Zerstörungs- und Todestrieb gemacht, ebenfalls von Freud festgestellt, und so beginnen wir unseren Lehrgang von neuem, in den Worten der Menschen, von denen uns der vorliegende Bericht von Hilde Huppert erzählt: "Warum geschieht uns das? Warum gerade uns, und warum läßt Gott das zu?"

Vergegenwärtigen wir uns die Tatsachen, die wir hier lesen oder in den letzten sechs Jahren miterlebt haben und versuchen wir eine Antwort, ohne Haß und Eifer, wie sie die Wirklichkeit uns darbietet und die Kontinuität des Lebens von uns verlangt. Dabei halten wir uns nicht lange bei der abwegigen Form dieser Fragestellung auf, die den Willen und die Zustimmung Gottes zu unseren irdischen Ereignissen ins Spiel bringt. Wir lassen uns genügen mit der Feststellung, wie sehr dieser Gottesglaube, diese Art der Vermenschlichung des Göttlichen noch ins magische und mythische Zeitalter gehört und ganz gebunden ist an die Vorstellung einer Welt, die in sechs Tagen erschaffen werden konnte, und eines Schöpfers, dem die jüdische Zeitrechnung etwa 5700 Jahre für diese Weltschöpfung zubilligt. Wir stimmen voller Freude dem Altmeister Goethe zu, wenn er uns auffordert, das Unerforschliche ruhig zu verehren; aber wir legen Nachdruck auf das Wort ruhig, machen keinen Zwang und kein Gesetz aus dieser Verehrung und halten uns mit Enthusiasmus an den ersten Teil jenes Ausspruchs: das Erforschliche zu erforschen.

Darum fragen wir, ohne auf die menschliche Phantasie zurückzugreifen und der magischen Weltanschauung ein Opfer zu bringen, das ihr nicht mehr gebührt, nach dem Sinn der erlebten Tatsachen, wie sie hier berichtet wird, indem wir versuchen, von der ungenügend erfaßten Realität, die den Religionen zugrundeliegt, zu einer kompletteren Durchdringung der Wirklichkeit mit Sinn und Verstand vorzuschreiten.

Arnold Zweig, 1946

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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